Chiara Leone geht gerne unkonventionelle Wege. Sie betreibt das Schiessen als Beruf und brach dafür ihr Studium ab. Aber sie mag es auch locker – und erklärt, wie ihr eigenartige Rituale wie das Anhören von Witzen und kaltes Duschen Erfolg brachten.
Chiara Leone, Ihre Vorgängerin als Schweizer Olympiasiegerin im Schiessen, Nina Christen, fiel 2021 nach ihrem grossen Triumph in eine postolympische Depression. Wie erging es Ihnen in den letzten Wochen nach der Goldmedaille von Paris?
Aus 2021 wurden Lehren gezogen. Die Trainer rieten uns vor den Olympischen Spielen, dass wir für die Zeit danach etwas planen sollten, bei dem wir nicht in ein Loch fallen und Abstand vom grossen Druck gewinnen können. Und da ich gerne reise, habe ich mich für rund sechs Wochen nach Südamerika verabschiedet.
Wo waren Sie genau?
Zuerst in einem ehemaligen Fischerdorf in Ecuador, das recht abgelegen war und in dem kein touristischer Betrieb herrschte, es war wie ausgestorben. Ich wohnte bei einer Gastfamilie, lernte in einer Sprachschule Spanisch und nahm Surf-Lektionen.
Wussten die Leute dort, dass Sie eine Olympiasiegerin zu Gast hatten?
Ich stand nicht zuerst hin und sagte allen: «Hey, hier kommt eine Olympiasiegerin.» Aber dann wurden wir in der Schule aufgefordert, uns vorzustellen, was wir beruflich machen. Und da kam der Moment, in dem ich mich outen musste. Das sprach sich im Dörfchen herum und war eine Weile das Highlight.
Wo haben Sie mehr Fortschritte gemacht, in der Schule oder beim Surfen?
Schon mit meinem Spanisch. Ich war ambitioniert und wollte in kurzer Zeit viel lernen, zunächst hatte ich sogar Einzelunterricht. Aber mit der Surf-Lehrerin war es auch interessant. Sie träumt davon, ihren Sport als Profi auszuüben, wie ich. Obwohl sie auf viel weniger staatliche Sportförderung zählen kann. Wir sind auseinandergegangen mit den Worten: «Vielleicht sehen wir uns wieder an den Olympischen Spielen 2028 in Los Angeles.»
Danach tourten Sie mit dem Rucksack durch Kolumbien, teilweise ohne Handyempfang in der Wildnis. Was haben Sie da erlebt?
Die Ruhe genossen, viel geschlafen, Vögel und Sonnenuntergänge beobachtet, mit Ureinwohnern Kontakt gehabt, ich bin zu einer verlorenen Stadt gewandert. Es war ja Regenzeit, und mindestens einmal am Tag wurde ich nass. Aber es störte mich nicht. Denn ich fühlte mich an die Zeltlager erinnert, die ich als Kind so toll fand.
Manchmal waren Sie allein unterwegs. Sind Sie jemand, der im Leben eher die Chancen als die Risiken sieht?
Ja. Gerade bei uns im Schiessen ist es so, dass du während eines Wettkampfs über lange Zeiträume auf extreme Weise den Fokus behalten musst und alles rundherum ausblendest. Da hilft es, wenn du dafür im Alltag nicht alles allzu ernst siehst. Aber klar: Ich ging nicht unvorbereitet nach Südamerika. Weil wir da schon oft Wettkämpfe hatten, wusste ich einigermassen, worauf ich mich einlasse und wo Gefahren lauern könnten.
Macht Sie eine gewisse Lockerheit zu einer besseren Athletin?
Davon bin ich überzeugt. Unser Nationaltrainer Enrico Friedemann hat in dieser Hinsicht viel bewegt. Als Deutscher hatte er sich darüber gewundert, wie oft die Schweizer stur nach althergebrachtem Muster ihr Ding durchziehen. Er ermunterte uns, mutiger zu sein, die Komfortzone zu verlassen, Neues auszuprobieren. Sein Motto lautete: Lieber selbstbewusst sein und vielleicht mal den Kopf anschlagen, als sich verstecken. Das war Gold wert.
Inwiefern?
Vor meinem Olympiasieg konnten sich die acht Finalistinnen in einem Raum auf den Showdown vorbereiten. Ich kam als Letzte und staunte, wie alle anderen schon voll im Wettkampfmodus waren. Es hätte mich nervös machen können. Ich war jedoch überzeugt, dass ich es gelassen nehmen darf. Und vertraute auf das Ritual, das wir im Nationalkader haben.
Und das wäre?
Dass jene, die im Final ist, von einer Teamkollegin einen Witz aufs Handy zugeschickt bekommt. Ich hörte mir den Witz an, er war zwar etwas banal, aber allein die Art, wie er erzählt wurde, brachte mich zum Lachen. Die anderen Finalistinnen zuckten zusammen und schauten mich an, als käme ich von einem anderen Stern. Für mich war es die perfekte Ablenkung – und ich fand den Fokus im richtigen Moment.
Wie bringt Ihr Trainer Sie dazu, die Komfortzone zu verlassen?
Um dies anzuregen, hat er uns im Nationalkader ein Spiel praktizieren lassen. Wir mussten uns für andere Teammitglieder Aufgaben überlegen, und dieser Challenge hatte sich diejenige Kollegin in den darauffolgenden Tagen zu stellen. Ich bin ein Mensch, der es am Morgen gerne gemütlich nimmt. Und so trug mir jemand auf, dass ich eine Woche lang nach dem Aufstehen jedes Mal eine kalte Dusche nehmen muss.
Hat diese Gruppendynamik auch davor geschützt, dass Ihr Team auseinanderfiel? Schliesslich hatte es vor Paris im Gewehr-Kader der Frauen einen harten Kampf um die Olympiastartplätze gegeben.
Durchaus. Ich finde, wir hatten immer Respekt voreinander, auch an den Olympischen Spielen. Unser Team wohnte ja in einem Schloss, und am Abend vor meinem Final war der 1. August, unser Nationalfeiertag. Alle anderen hatten ihren Einsatz schon hinter sich. Ich ging um 21 Uhr ins Bett und merkte, dass es die anderen aus Rücksicht auf mich mit der Party nicht übertrieben.
Dass Sie sich in einem Schloss abgeschottet hatten, wo ein französischer Sternekoch für Ihr leibliches Wohl zuständig war, sorgte für Gesprächsstoff. Wie wichtig war diese Art von Camp?
Sehr. Ich bin Vegetarierin und hatte am Abend vor dem Final das Bedürfnis nach einer Portion Pasta mit Tomatensauce. Für den Koch eine etwas gar simple Aufgabe, aber er erfüllte mir den Wunsch umgehend. Im Olympiadorf oder in einem Hotel hätte ich dieses Verlangen vielleicht nicht stillen können. Das können so kleine, wichtige Puzzleteile sein.
Das Essen scheint in Ihrem Leben eine bedeutende Rolle einzunehmen. Auf Ihrer Website schwärmen Sie von den selbstgemachten Gnocchi Ihrer italienischen Nonna.
Ich bin damit aufgewachsen, dass bei meinen Grosseltern, die in der Nähe von Neapel leben, das Essen als Teil der italienischen Kultur zelebriert wird. Am Sonntag wird mittags gekocht, es kommen alle zu Tisch, und dann gibt es einen Gang nach dem anderen – bis Abend ist. Das prägt.
Da lag es nahe, dass Sie nach der Matura ein Studium in Lebensmittelwissenschaften begonnen hatten.
Stimmt. Naturwissenschaftliche Fächer hatte ich in der Schule gerne. Und es interessierte mich, was in Lebensmitteln drin ist, wie man ihre Haltbarkeit auf weniger künstliche Weise verlängern könnte oder wie man Fleischersatzprodukte herstellt. Aber ehrlich gesagt ging es mir auch darum, ein Studium zu finden, das vom Zeitaufwand her mit meinen hohen Ambitionen im Sport vereinbar war. Und das war an dieser Fachhochschule in Bern am Anfang der Fall.
Worauf geht es zurück, dass Sie sich vegetarisch ernähren?
Für mich war es kein grosser Schritt. Ich war nie die grosse Fleischliebhaberin. Zudem gab es ja im Sport schon so manche Doping-Geschichte, die in Verbindung stand mit Fleisch, dessen Herkunft nicht sauber deklariert war. Es hat bei mir auch mit dem Umweltgedanken zu tun. Wir reisen viel in unserem Sport, und ich will meinen ökologischen Fussabdruck durch Fleischkonsum nicht noch grösser werden lassen, als er ohnehin schon ist.
Ihr Studium brachen Sie nach einem Jahr ab, Ihre Credit-Points liessen Sie verfallen. Wieso?
Ich spürte, dass ich zu einhundert Prozent auf den Sport setzen muss, wenn ich an die Weltspitze will. Ich musste früher zu viele Kompromisse eingehen. Ich hatte zu wenig Schlaf, was sich negativ auf meine Regeneration auswirkte. Oder ich hatte nur halbbatzig Zeit, um meine Munition auszuwählen. Heute fahre ich zu meinem Gewehrhersteller ins Ausland und tüftle am Material, bis ich zufrieden bin – und wenn das mehrere Tage dauert. Natürlich half es, dass mich der Schiesssportverband unterdessen als Profischützin anstellen konnte.
Ihre Teamkollegin Audrey Gogniat, Bronzegewinnerin in Paris, ist in die USA gezogen, um dort mit einem Stipendium an einer Universität ein Sportstudium zu absolvieren. Kam für Sie so etwas auch infrage?
Nein, für ein solches Stipendium bin ich mit 26 wohl zu alt. Und als ich 22 war, wie Audrey heute, war ich noch zu wenig gut. Aber ich darf ja mit meinem Weg auch zufrieden sein. Gerade, weil mich viele nicht verstanden hatten, als ich das Studium abbrach. Es hiess da und dort: Wie könne ich dieses aufgeben für einen Sport, durch den man finanziell nie ausgesorgt haben wird?
Mit Olympiagold haben Sie nun ein gewichtiges Argument. Die Nonna dürfte stolz gewesen sein?
Oh ja. Wenn Sie einkaufen ging, hat sie offenbar in jedem Laden von mir erzählt, sie ist sehr kommunikativ. Und weil sie elf Geschwister hat, die über Italien verstreut sind, sprach sich mein Erfolg schon ein bisschen herum.
Sie besitzen auch den italienischen Pass. War ein Nationenwechsel einmal ein Thema?
Nein. Ich bin in der Schweiz verwurzelt und habe meine gesamte Ausbildung hier absolviert. Ich hätte bei einem solchen Wechsel drei Jahre lang warten müssen, bis ich für Italien startberechtigt gewesen wäre. Das lag in jungem Alter sowieso nicht drin.
Ihre Laufbahn erinnert ein wenig an jene der Skirennfahrerin Lara Gut-Behrami, Ihr Jugendidol.
Mir imponierte, wie sie zeigte, dass man auch auf unkonventionellem Weg erfolgreich sein kann. Und dass sie den Mut hatte, gegen Widerstände für ihre Philosophie einzustehen. Ich schaute früher jedes Skirennen im Fernsehen und war selbst gern auf der Piste. Leider hatte ich dazu als Aargauerin aus dem Fricktal nicht allzu viel Gelegenheit. Ich tröstete mich damit, eines der grössten Ski-Talente unter den Flachländerinnen gewesen zu sein. Aber gegen die Berglerinnen hätte ich keine Chance gehabt.
Nun sind Sie ein Idol für andere. Gab es eine berührende Begegnung?
Ja, unsere Olympiawettkämpfe fanden zwar weit von Paris entfernt statt, wir durften aber auf die Schlussfeier hin auch in die Hauptstadt. Und da gab es bei einem Abendessen dieses sechsjährige Mädchen, das mich umarmen und gar nicht mehr loslassen wollte, als sie hörte, dass ich Olympiasiegerin sei. Sie sagte, dieses Ziel habe sie im Turnen auch. Ich schenkte ihr einen Pin.
Können Sie sich in der Schweiz frei bewegen, ohne dass gleich ein Rummel um Ihre Person entsteht?
Es ist zu einem grossen Teil das gleiche Leben wie vor dem Olympiasieg, darüber bin ich froh. Es gibt schöne Begegnungen, aber es hält sich im Rahmen. Ich habe einfach immer Autogrammkarten dabei, für den Fall, dass ich Fans antreffe, was gerade am Flughafen Zürich vorkommt. Und ich habe daheim einen Sack für die Goldmedaille, weil ich sie immer wieder an einen öffentlichen Anlass mitbringen darf. Aber nach Südamerika nahm ich sie nicht mit. Das wäre mir dann doch zu gefährlich gewesen.