Vom Überflieger zum Mauerblümchen: Die Aktien des Schweizer Industriezulieferers Dätwyler werden momentan verschmäht. Aber gerade in solchen Zeiten lohnt es sich, einen genaueren Blick auf sie zu werfen. Denn die Qualität stimmt.
Die Märkte neigen zu Übertreibungen, und Dätwyler gibt ein musterhaftes Beispiel dafür ab: Der Aktienkurs des Industrieunternehmens hat sich nach dem Covid-Crash im März 2020 in weniger als zwei Jahren mehr als verdreifacht. Das Höchst von 410 Fr. erreichte er am ersten Handelstag 2022. Danach folgte der Abstieg.
Heute notieren die Dätwyler-Titel wieder in etwa auf dem Niveau vom Covid-Crash. Allein in diesem Jahr haben sie rund 30% verloren.
Der Covid-Kater
Die für Dichtungslösungen bekannte Dätwyler war ein Nutzniesser der Pandemie. Das galt voran für ihren Geschäftsbereich Healthcare Solutions, der systemkritische Komponenten für Arzneimittelverpackungen liefert: Er profitierte von der Nachfrage nach Covid-19-Impfstoffen. Zusätzlich bauten Kunden von Dätwyler aus diversen Branchen grosse Sicherheitslager auf.
Die Erwartungen an Dätwyler überschossen. Aber nach dem Ende der Pandemie kam der Kater. Kunden begannen, ihre Lager abzubauen. Bei Healthcare Solutions fiel der margenstarke Covid-Umsatz weg, was zu einer Unterauslastung der zuvor noch erweiterten Werke führte: 2023 sank der Umsatz im Geschäftsbereich fast 10%, während die Betriebsgewinnmarge unter das Vorpandemieniveau fiel.
Fokussiert auf Elastomerkomponenten
Während der Pandemiezeit hat sich auch das Profil von Dätwyler verändert. Die Innerschweizer stiessen ihr Handelsgeschäft komplett ab, teilweise mit hohem Buchverlust. Mit dem Verkauf des Onlinedistributors Reichelt im September 2021 hat das Unternehmen die Transformation abgeschlossen und fokussierte sich auf systemkritische Elastomerkomponenten. Seine Lösungen finden Anwendung in verschiedenen Absatzmärkten.
Ein prestigeträchtiges und rentables Geschäft ist die Partnerschaft mit Nespresso, für die Dätwyler die Kaffeekapseln mit den entsprechenden Dichtungen produziert. Der Vertrag dazu läuft bis 2030. Dätwyler hat dafür das Werk in Schattdorf in Uri ausgebaut. 80 Mrd. Kapseln werden dort pro Jahr produziert.
Die Geschäftseinheit Food & Beverage macht den Umsatz grossmehrheitlich mit Nespresso, ein kleiner Teil entfällt auf Capsul’in, einen innovativen Kapselanbieter. Für Unruhe sorgte 2023 die EU mit einem Entwurf für ein Gesetz, das Kaffeekapseln aus Aluminium verboten hätte. Das Thema habe sich inzwischen erledigt, sagt Philipp Murer, Portfoliomanager der Privatbank Reichmuth & Co. «Aluminium dürfte als Verpackungsmaterial für die kommenden Jahre gesetzt sein.»
Das Investitionsjahr 2022
Ausgebaut hat Dätwyler insbesondere auch den Geschäftsbereich Healthcare Solutions. So nahm der Standort in Indien 2022 ein zweites Werk in Betrieb. Im selben Jahr kauften die Innerschweizer die chinesische Yantai Xinhui Packing mit über 15 Mio. Fr. Umsatz. Damit haben sie sich einen direkten Zugang zum Healthcare-Markt in China erschlossen und können an seinem auf mehr als 10% geschätzten jährlichen Wachstum stärker als zuvor partizipieren.
Ebenfalls 2022 übernahm Dätwyler das US-Unternehmen QSR und rückte damit zu einem führenden Anbieter von hochwertigen Dichtungen und Komponenten für elektrische Steckverbindungen auf. Es gibt allerdings Marktteilnehmer, die in diesem Zukauf, der auch in technologischer Hinsicht eine Erweiterung bedeutet, wieder eine Verzettelung von Dätwyler sehen.
Ein teurer Zukauf
Unglücklich war, dass zu Beginn der Integration in einem Werk von QSR in Mexiko Probleme in der Fertigung auftraten. Im Urteil von Adrian Lechthaler, Portfoliomanager bei Peter J. Lehner & Partner, war die Übernahme zudem «sehr teuer»: Der Preis dafür entsprach etwa dem Vierzehnfachen des Betriebsergebnisses auf Stufe Ebitda.
Dätwyler sei schon lange an QSR interessiert gewesen, merkt Lechthaler dazu an. Aus seiner Sicht passt das US-Unternehmen auch gut zum Portfolio der Innerschweizer Gruppe, in der es neu die Geschäftseinheit Connectors bildet. Dätwyler bedient damit nun fünf Märkte: Mobility (das Automobilgeschäft), Connectors, General Industry (u.a. mit dem Öl- und Gasgeschäft) und Food & Beverage, das das Tätigkeitsfeld des Geschäftsbereichs Industrial Solutions umfasst. Dazu kommt der Healthcare-Markt.
Zyklischer Gegenwind
In den Jahren vor 2023 hat Dätwyler viel investiert – und Investitionen vorgezogen. Ausgerechnet jetzt erfährt die Gruppe aber zyklischen Gegenwind. Er zeigt sich zum einen im anhaltenden Lagerabbau bei den Healthcare-Kunden.
Zum anderen ist die Nachfrage in diversen Märkten schwach. Das gilt voran für den Automobilmarkt: Voll davon betroffen ist die Geschäftseinheit Mobility, die zuletzt über 22% oder 257 Mio. Fr. zum Gruppenumsatz beitrug. Aber auch die neue Einheit Connectors (Umsatzanteil von über 13% oder 154 Mio. Fr.) ist stark vom Automobilmarkt abhängig.
Vor diesem Hintergrund findet sich eine Erklärung für die auffallende Kursschwäche der Dätwyler-Titel in den Herbstwochen. Portfoliomanager Murer sagt: «Die Investoren meiden zurzeit Aktien von Unternehmen, die im Autozulieferergeschäft tätig sind.»
Schuldenabbau hat Priorität
In der derzeitigen Stimmungslage sind die Marktteilnehmer risikobewusster und richten ihren Blick auf Aspekte, denen sie in besseren Zeiten weniger Beachtung schenken. So haben Analysten bei Dätwyler das Bilanzthema auf den Tisch gebracht: Vor allem der teure Zukauf von QSR hat Spuren hinterlassen.
Die Eigenkapitalquote ist von Ende 2021 bis Mitte dieses Jahres von 75 auf 32% gefallen, auch weil der für Übernahmen bezahlte Goodwill mit dem Eigenkapital verrechnet wird. Und während Dätwyler vor drei Jahren noch eine Nettoliquidität von 129 Mio. Fr. aufwies, haben Mitte dieses Jahres die Nettofinanzschulden das 2,4-Fache des Betriebsergebnisses Ebitda betragen.
Die Bilanzlage ist nicht alarmierend, aber angespannt. Gerade für Unternehmen, deren Geschäfte zu einem beträchtlichen Teil zyklischen Schwankungen unterliegen, wäre es wünschenswert, etwas Nettoliquidität vorzuhalten.
Dätwylers Führung hat den Investoren zugesichert, dass der Schuldenabbau nun «erste Priorität» habe, bestätigen die befragten Vermögensverwalter. So soll die Eigenkapitalquote wieder auf mehr als 40% steigen, und bis Ende 2026 sollen die Nettofinanzschulden unter das 1,5-Fache des Ebitda sinken.
Ein heikles Thema
Verknüpft mit der Schuldenfrage ist das Thema Pema Holding: In diese Gesellschaft brachten die verstorbenen Brüder Peter und Max Dätwyler ihre Anteile am Familienunternehmen ein, sie hält 78% der Stimmrechte und 56% des Kapitals von Dätwyler. Über eine weitere Gesellschaft kontrolliert Dätwylers Verwaltungsrat treuhänderisch Pema Holding und die damit verbundenen Stimmrechte. Der einzige Zweck dieser verschachtelten Lösung ist es, den selbständigen Fortbestand von Dätwyler zu sichern.
Stefan Gächter, Managing Director Equity Sales bei Stifel Schweiz, stösst sich an diesem Konstrukt und meint, es könne doch nicht sein, dass sich ein Verwaltungsrat im Jahr 2024 selbst kontrolliere. Druck von kritischen Aktionären werde so nicht aufkommen.
Struktur mit Nach- und Vorteilen
Portfoliomanager Lechthaler stimmt zu, dass die Struktur mit Pema Holding mit Blick auf die Regeln guter Unternehmensführung, die Corporate Governance, für grössere institutionelle Investoren problematisch sei und ein Anlagehindernis darstelle.
Ein familiärer Vermögensverwalter wie Peter J. Lehner & Partner könne mit diesem Thema besser umgehen, meint Lechthaler. Er verweist auch auf die Vorteile, die sich dadurch ergeben: Pema Holding sorge als langfristiger Aktionär für Stabilität und könne bei Bedarf als Darlehensgeber einspringen.
Denn die von Dätwyler erhaltenen Dividenden bleiben in der Holding und können reinvestiert werden: Pema hat als Kernaktionär dem Unternehmen zuletzt langfristige Darlehen von 225 Mio. Fr. gewährt und sorgt so für finanzielle Sicherheit. Dadurch relativiert sich die Schuldenthematik.
Gut aufgestellt
Generell ist das Unternehmen gut positioniert in Märkten mit langfristigen Wachstumstreibern. Das trifft voran auf das sehr profitable Healthcare-Geschäft zu: Dätwyler beziffert den Markt für systemkritische Komponenten für injizierbare Medikamente auf 2 bis 2,5 Mrd. Fr. und schätzt sein Wachstum auf jährlich 5 bis 6%.
Führend ist hier die amerikanische West Pharmaceutical Services mit einem geschätzten Marktanteil um 70%. Dahinter folgt als Nummer zwei Dätwyler mit einem Anteil von knapp einem Viertel, so Lechthaler. Man habe es in diesem Markt mit einem Duopol zu tun.
Murer von Reichmuth & Co weist darauf hin, dass West mit über 5% p.a. wachse. Dätwylers Bereich Healthcare Solutions müsste ebenso stark zulegen, zumal er vom Trend zur dualen Beschaffung profitiert. Kunden nehmen West als zu dominanten Zulieferer wahr und suchen eine Alternative.
Trends nützen Healthcare Solutions
Entgegen kommt den Duopolisten, dass die Zahl von injizierbaren Medikamenten stark wächst und damit die Nachfrage nach ihren Verpackungslösungen etwa für vorgefüllte Spritzen oder Kartuschen. Eine prominente Rolle spielen dabei die boomenden Abnehmspritzen: Für die erste Generation dieser GLP-1-Medikamente musste Dätwyler dem US-Konkurrenten den Vortritt lassen, aber für die GLP-1-Medikamente der zweiten Generation ist sie bereit.
Gemäss Murer hat Dätwyler bei Healthcare Solutions rund 150 Projekte in der Pipeline. Sieben davon sind als High Value klassifiziert und versprechen besonders hohe Margen. Sie laufen über die FirstLine-Werke in Belgien, Indien und den USA, die den höchsten Fertigungsstandard bieten. Der Spitzenumsatz für die High-Value-Projekte, unter denen sich auch solche für GLP-1-Medikamente finden dürften, wird für die Jahre 2029 bis 2033 erwartet.
Hohe Eintrittsbarrieren
Im Automobilgeschäft bewirke die Übernahme von QSR, dass Dätwyler vermehrt Zugang zu Projekten für Elektroautos finde, sagt Lechthaler. Darauf stütze sich die Prognose des Unternehmens, mit seinen Produkten den Wertanteil pro Auto von heute 15 auf 25 bis 40 Fr. steigern zu können.
Dätwyler reklamiert für sich, in Märkten mit sehr hohen Eintrittsbarrieren tätig zu sein. Das gilt gerade auch für das stabile Kaffeekapselgeschäft mit Nespresso, das die befragten Vermögensverwalter als Perle und Cash Cow bezeichnen. Lechthaler meint, das gesamte Geschäft von Dätwyler gebe einen jährlichen freien Cashflow von durchschnittlich mehr als 100 Mio. Fr. her.
Dank dieser starken Generierung von frei verfügbaren Mitteln sollte die rasche Rückführung der Schulden keine Probleme bereiten, zumal die Führung gegenüber Investoren beteuert hat, dass jetzt organisches Wachstum im Vordergrund stehe und Übernahmen nun kein Thema seien.
Neues Management braucht Rückenwind
Für einige Fragen haben die jüngsten, kurz nacheinander vollzogenen Wechsel im Management gesorgt. Der Deutsche Volker Cwielong, der Erfahrung im Autozuliefergeschäft mitbringt, hat als CEO per Anfang April Dirk Lambrecht ersetzt, der in den Verwaltungsrat gewechselt ist. Nachfolgerin von Finanzchef Walter Scherz ist per Anfang Juni Judith van Walsum geworden: Sie bringt Know-how aus dem Healthcare-Bereich mit und war bis zu diesem Jahr schon als Verwaltungsrätin für Dätwyler aktiv.
Murer hat Cwielong getroffen und einen «guten Eindruck» von ihm erhalten. Der Portfoliomanager traut es dem neuen Management zu, die Wende voranzutreiben. Natürlich sei es einfacher, sie zu schaffen, «wenn der Wind an den Märkten dreht». In Bezug auf den Lagerabbau im Bereich Healthcare Solutions vertraut er auf die Aussagen des Managements, gemäss denen ein Boden abzusehen sei und sich die Lage im ersten Halbjahr 2025 normalisieren sollte.
Der Markt ist skeptisch
Die Frage lautet, ob bereits jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, in Dätwyler-Aktien zu investieren. Zu ihrer Beantwortung ist erstens ein Blick auf die Markterwartungen zu werfen: Dätwyler selbst prognostiziert, den Umsatz mittelfristig um 6 bis 10% p.a. und die Ebit-Marge auf 18 bis 21% zu steigern. Dafür sollte sich die Marge bei Healthcare Solutions von zuletzt 15,9 auf 22 bis 25% und bei Industrial Solutions von zuletzt 6,7% auf zweistellige Werte verbessern.
Wie Lechthaler anmerkt, glaube der Markt aber nicht, dass Dätwyler die Mittelfristziele gänzlich erreichen werde: «Das langfristige Potenzial des Unternehmens wird unterschätzt.» Das Fundament für künftiges Wachstum sei gelegt. Das bedeutet, die Erwartungen sind anders als zur Pandemiezeit eher tief gesteckt.
Ein zweiter Aspekt ist die Bewertung der Dätwyler-Aktien. In Hochzeiten wiesen sie ein Kurs-Gewinn-Verhältnis um 40 auf, inzwischen beträgt es 21 auf Basis des geschätzten Gewinns für 2025. Das ist immer noch anspruchsvoll – aber darin spiegelt sich das gedrückte Margenniveau. Wie Murer von Reichmuth & Co meint, müsse man zyklische und qualitativ gute Valoren wie Dätwyler dann kaufen, wenn die Margen aufgrund eines Zyklustiefs niedrig seien.
The Market schliesst sich diesem antizyklischen Gedanken an: In Titel wie Dätwyler sollte man investieren, wenn der Markt skeptisch ist. Anleger, die hinsichtlich der Wirtschaft nicht schwarzmalen wollen, erwägen jetzt den Aufbau einer Aktienposition.