Gut waren in der Ukraine die Zeiten, da man noch über «das moderne Leben der Tiere» schreiben konnte. Yevgenia Belorusets widmet sich dem Thema vielschichtig in Erzählungen und Dialogen, Reflexionen und Märchen, Vorträgen sowie Inseraten von Tierheimen.
Romane sind von der aus Kiew stammenden Prosaautorin und Fotografin Yevgenia Belorusets nicht zu erwarten. Ihr Erzählungsband «Glückliche Fälle» (2019) handelte von Frauen, aus deren Einzelschicksalen sich facettenhaft das Bild einer traumatisierten Gesellschaft ergab; «Anfang des Krieges» (2022) war ein (von Fotos begleitetes) Tagebuch, das den Schrecken des russischen Angriffskrieges im Alltag nachging.
In ihrem neuen Band, «Über das moderne Leben der Tiere», lenkt Belorusets den Blick auf die Beziehung zwischen Mensch und Tier, wobei gelegentlich aus der Perspektive von Tieren berichtet wird. Im Original heisst der zwischen 2014 und Anfang 2022 entstandene Band «Vorlesungszyklus über das moderne Leben der Tiere»; freilich sind es fiktive Vorlesungen, gehalten von verschiedenen Rednern und Ich-Erzählerinnen über das «Nilpferd-Nashorn», über Tauben und Spatzen, über «das Tier in der Ehe» oder die These «Ein Tier hat kein Schicksal».
Empathie und absurder Humor
Auch «Aus dem Nest werfen: Wie sich der Mensch Praktiken von Vögeln aneignet» oder die «Geschichte des Froschkusses» werden erörtert, und es fehlt nicht an der «Predigt eines Priesters an die Fische», genauer an der Antwort der Fische aus dem Gewässer des Kiewer Stausees. Ohne in falschen Anthropomorphismus zu verfallen, aber mit Empathie und absurdem Humor schildert Belorusets das komplexe Verhältnis von Tier und Mensch, meist vor dem Hintergrund des Krieges im Donbass, der auch Tieren arg zugesetzt hat.
Erzählungen und Dialoge, Reflexionen und Märchen, Vorträge sowie Inserate von Tierheimen und Tierrettungsteams bilden dieses ungewöhnliche «Handbuch», das nicht nur die Grenze zwischen Mensch und Tier, sondern auch die zwischen Realität und Erfindung verschwimmen lässt und ein übers andere Mal in Erstaunen versetzt. Etwa wenn die Seele einer Frau in ein Huhn übersiedelt, wenn ein im Ausweiden von Tieren geübter Jäger plötzlich in die Lage versetzt wird, einem kriegsverwundeten Soldaten die Gallenblase zu entfernen (und ihn dadurch rettet).
Oder wenn ein Chamäleon, das im Terrarium einer interaktiven Wanderausstellung mit den Händen der Besucher spielt, durch ein Zuviel an Berührungen stirbt. «Das Urteil des renommierten Experten klang ungefähr so: Die ungeschickten Berührungen der Kinder haben ihr [dem Chamäleon Anastasija] die Luft abgeschnitten und sie im Gefängnis ihrer eigenen glänzenden Haut ersticken lassen.» Schicksal oder nicht? «Tiere haben kein Schicksal», beteuert eine Ich-Erzählerin. «Das Tier ist ein Schritt aus dem Sichtbaren und Verständlichen ins Verborgene und Unergründliche. Manche Tiere bringen mich dazu, vor ihnen zu beichten.»
Es gibt Figuren, die mit Krähen spazieren gehen, und solche, die herrenlose Hunde und verletzte Füchse bei sich aufnehmen, weil Tiere nichts im Schilde führen; es gibt aber auch Bösewichte, die Vögel vergiften, und Kinder, die Katzen in Drei-Liter-Gläser stecken. Wieder andere erklären stolz: «Mensch möchte ich jedoch nur sein, um eine Katze zu betrachten»: «Ach, diese kleine und flinke rosa Zunge und das fein konturierte kleine Maul. Dieser buschige Schwanz oder Schwungschwanz oder Wippschwanz. Die Strümpfe, die zarten Ballen, die runden Pfötchen. Miezekatze, schnurr-schnurr . . .»
Doch auf die Emphase folgt, wie so oft bei Belorusets, nüchterne Reflexion, und das Ich, das sich aufs Betrachten festgelegt hat, entwirft für sein Leben «Einjahres-, Sechsjahres- und Zwölfjahrespläne».
Die Sorge, die alles tötet
Solch ironische Referenz auf Sowjetzeiten kontrastiert mit Stellen, wo der Donbass-Krieg ins Visier gerät: «Ich schrie, ich bat, ich flehte: Nachbarn, kommt zur Besinnung, seht doch ein, dass wir einen riesigen Fehler gemacht, dass wir den Krieg zu uns eingeladen haben, wir selbst sind es gewesen! Kommt zur Besinnung!» Aber die Nachbarn stellen sich taub. Gehen unter dem Lärm der Artillerie frühmorgens Fische betäuben, werfen Dynamit, bis keine Fische mehr übrig sind. Dann werden Strom und Wasser abgeschaltet. Und in der Schweinemastanlage fehlt das Futter.
Die Schweine laufen in die Stadt, in die Parks, bald schon wird Jagd auf sie gemacht. Während die Ich-Erzählerin heulend protestiert, brät man Schaschlik, keult die Tiere. «Quieken ohne Pause, als würden Dutzende Menschen umgebracht, überall Rufe, Schreie, Streit, Zank, Wut, Schweiss (. . .). So ist unsere Stadt erobert worden.» Selten wurde eine Kriegseroberung auf diese Weise in Worte gefasst.
Kurzum: Belorusets’ «Modernes Leben der Tiere» hat es in sich. Bis zu den allerletzten Seiten. Hier sind es die sprichwörtlich stummen Fische, die auf die Predigt eines Priesters antworten: Auch sie hofften auf Gnade und die Unsterblichkeit der Seele, obwohl sie Seine Existenz leugneten. Darauf folgt als PS die Antwort des Priestergehilfen, in einer Lautsprache aus Gesang, Brüllen und Jaulen. Doch ein Dialog kommt nicht zustande. Zu lastend die Sorge, die alles Lebendige abtötet, sogar die Liebe. Sie sei jetzt nichts wert, räsoniert der Mann. «So oft haben wir schon versucht, uns gegenseitig zu töten, dass (. . .)»
Den Rest muss sich der Leser selber denken. Die Vorlesungen jedenfalls enden, ohne dass der Satz, der Mensch sei dem Menschen ein Wolf, ein einziges Mal gefallen wäre. Denn an Grausamkeit ist der Mensch, stolze Krone der Schöpfung, nicht zu überbieten.
Yevgenia Belorusets: Über das moderne Leben der Tiere. Vorlesungen. Aus dem Russischen und Ukrainischen von Claudia Dathe. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2024. 209 S., Fr. 33.90.