Seit seiner Jugend engagierte sich Ismail Haniya bei der Hamas. Wer war der Politbüro-Chef der palästinensischen Terrororganisation – und was bedeutet sein Tod für den Gaza-Krieg?
Ismail Haniya fühlte sich sicher. Immer wieder reiste der Politbüro-Chef der Hamas nach Iran, in die Türkei oder empfing Besucher in seiner Wahlheimat Katar. Offenbar glaubte Haniya, dass der israelische Geheimdienst ihn nicht erwischen könnte – oder dass die Israeli es nicht wagen würden, ihn zu töten, bevor ein Geiselabkommen verhandelt ist. Das war eine Fehlkalkulation.
In der Nacht auf Mittwoch wurde Haniya im Norden Teherans getötet. Haniya hatte in der iranischen Hauptstadt der Amtseinführung des neugewählten iranischen Präsidenten Masud Pezeshkian beigewohnt. Obwohl Israel sich zu der Tötung nicht bekannte, ist nahezu sicher, dass die Regierung in Jerusalem hinter dem Attentat steckt. Israelische Minister implizierten dies bereits in den sozialen Netzwerken.
Mit diesem gezielten Schlag endet ein Leben, das Haniya ganz dem Kampf gegen Israel gewidmet hat. Selbst persönliche Tragödien liessen den Islamisten-Anführer aus Gaza dieses Ziel nicht aus den Augen verlieren. Als Haniya im April über den Tod von dreien seiner Söhne im Gazastreifen unterrichtet wurde, sprach er ein kurzes Gebet und sagte dann: «Lasst uns weiterarbeiten.»
Schon früh verschrieb sich der Mann aus dem Shati-Flüchtlingslager in der Nähe von Gaza ganz der Sache der Hamas – und schaffte es schnell nach oben. Obwohl Haniya stetig Militanz predigte und Terrorangriffe befürwortete, galt er innerhalb der Hamas als verhältnismässig pragmatisch. Sein Tod wird ein Geiselabkommen mit Israel aller Wahrscheinlichkeit nach weiter verzögern.
Der islamistische Studentenführer
Ismail Haniyas Eltern waren in der Folge des israelischen Unabhängigkeitskriegs 1948 aus dem heutigen Südisrael in das Shati-Flüchtlingslager im Gazastreifen geflohen, wo Haniya 1962 zur Welt kam. Nach dem Schulabschluss studierte Haniya arabische Literatur an der Islamischen Universität in Gaza und engagierte sich früh bei der Muslimbruderschaft, der Mutterorganisation der Hamas.
Schon als junger Mann gehörte der Student dem engen Kreis um den späteren Hamas-Gründer Scheich Ahmad Yassin an. Dabei kamen ihm persönliche Verbindungen zugute: Der Scheich stammte aus dem gleichen Dorf wie Haniyas Eltern.
Als der 24-jährige Haniya 1987 seinen Abschluss machte, begann kurz darauf die erste Intifada. Der gewaltsame Palästinenseraufstand gegen die israelische Besetzung markiert auch das Gründungsjahr der Hamas. Haniya wurde mehrmals von den israelischen Behörden festgenommen, die ihn schliesslich im Jahr 1992 mit anderen hochrangigen Hamas-Mitgliedern nach Südlibanon verbannten.
Der Vertraute des Hamas-Gründers
Im Jahr darauf kehrte Haniya allerdings in den Gazastreifen zurück und widmete sich zunächst der Wissenschaft. 1993 wurde er mit 30 Jahren Dekan seiner Alma Mater, der Islamischen Universität in Gaza. Schon bald fokussierte sich Haniya allerdings nicht auf seine akademische Karriere, sondern auf seinen Aufstieg in der Hamas.
Haniya war es, der früh die Gründung einer politischen Partei propagierte. Als Scheich Yassin 1997 aus der israelischen Haft entlassen wurde, konnte Haniya an das frühere Vertrauensverhältnis anknüpfen. Zunächst wurde er der Sekretär des Scheichs, 2003 avancierte er zum Sprecher der Hamas.
Haniya blieb ein enger Vertrauter von Scheich Yassin bis zu dessen Tod. Ein Foto zeigt Haniya, wie er dem nahezu komplett gelähmten Scheich in seiner Wohnung in Gaza einen Telefonhörer reicht, damit er an einer Konversation teilnehmen kann. Schon damals wäre Haniya um ein Haar von Israel erwischt worden. Haniya und Scheich Yassin wurden 2003 leicht verletzt, als die israelische Luftwaffe ein Wohnhaus in Gaza angriff, in dem sich beide Männer nur Sekunden zuvor noch befunden hatten.
Für Yassin bedeutete der fehlgeschlagene Tötungsversuch nur einen Aufschub: Sechs Monate später tötete Israel den Hamas-Gründer, als er nach dem Morgengebet eine Moschee in Gaza verliess. Nach seinem Tod war der Weg frei für Haniyas Aufstieg an die Spitze der Islamisten.
Der Aufstieg an die Spitze
Haniya galt schon früh innerhalb der radikal-islamistischen Palästinenserorganisation als vergleichsweise pragmatisch. Er suchte immer wieder den Dialog mit der säkularen Fatah und anderen Palästinenserorganisationen. Die Hamas, die um ein moderates Image bemüht war, stellte Haniya daher 2005 als Spitzenkandidaten für die palästinensischen Parlamentswahlen auf.
Der Mann aus Gaza wurde sogar palästinensischer Ministerpräsident, als die Hamas 2006 die meisten Stimmen gewann. Offenbar vom eigenen Erfolg überrascht, strebte Haniya zunächst eine Einheitsregierung mit der Fatah an. Die von Mahmud Abbas geführten säkularen Palästinenser lehnten das jedoch ab. Kurz darauf kam es zum Bruch, der 2007 zum Bürgerkrieg in Gaza führte, an dessen Ende die Hamas die alleinige Kontrolle über den Küstenstreifen übernahm.
Haniya regierte den Gazastreifen daraufhin für die nächsten zehn Jahre. Im Inneren setzte der fundamentalistische Muslim die zunehmende Islamisierung des öffentlichen Lebens durch. Nach aussen setzte Haniya auf Gewalt gegen Israel. Unter seiner Führung verübte die Hamas immer wieder Terroranschläge in und Raketenangriffe auf Israel.
Im Gazakrieg 2014 zeigte die Hamas, wie weit sie ihr Raketenarsenal ausgebaut hatte. In den 51 Tagen, die der Waffengang andauerte, schoss die Hamas rund 4500 Raketen in Salven ab, um den israelischen Iron Dome zu überfordern. Erstmals griff die Hamas auch durch Tunnel auf israelischem Territorium an. Das Ziel war offenbar, Israeli zu entführen. Die Direktive dafür muss von Haniya ausgegangen sein.
Politischer Führer im Exil
Nach zehn Jahren an der Macht gab Haniya die politische Führung in Gaza an Yahya Sinwar ab. Anders als Haniya gilt Sinwar, der aus dem militärischen Flügel der Hamas stammt, als Hardliner. Er ist es, der seitdem die wichtigen Entscheidungen trifft, während Haniya als Chef des Politbüros ausserhalb von Gaza in Katar residierte. Ihm kam in den vergangenen Jahren eine vorwiegend repräsentative Rolle zu.
Spätestens seit dem 7. Oktober war klar, dass die wahre Macht bei Sinwar und nicht bei Haniya liegt. Es gilt als wahrscheinlich, dass Haniya nicht im Vorfeld über die Pläne zum Angriff auf Israel informiert war. Auch bei den Verhandlungen um einen Waffenstillstand und die Freilassung der verbleibenden Geiseln ist es Sinwar, der die letzte Entscheidung fällt.
Obwohl sein Einfluss in letzter Zeit begrenzt war, könnte der Tod von Ismail Haniya ein Geiselabkommen und damit einen Waffenstillstand im Gazastreifen verzögern. Er galt als Bindeglied zwischen der Führung im Gazastreifen und den Unterhändlern. Es ist davon auszugehen, dass sich Sinwar in den Tunneln unter Gaza noch weiter einmauert – und eine Übereinkunft hinauszögert.