Die Schokoladenschau zieht mehr Menschen an als das Kunsthaus und das Landesmuseum zusammen. Zu Recht? Eine Tour in Kilchberg gibt Antworten.
Das «Home of Chocolate» von Lindt & Sprüngli überstrahlt alles. Der Schriftzug über dem geschwungenen Prachtbau in Kilchberg leuchtet golden, selbst an diesem trüben Donnerstagmorgen. In der Lobby des imposanten Gebäudes steht ein neun Meter hoher Brunnen, und auf diesem thront ein riesiger Schwingbesen, ebenfalls in goldener Farbe. Hinunter rinnt – tatsächlich – echte Schokolade. In länglichen, dicken Tropfen, in einem süssen Kreislauf, den ganzen Tag. Man kann sie riechen.
Es ist die perfekte Inszenierung. Als ob Schokolade in der benachbarten Fabrik des Milliardenkonzerns an der Seestrasse immer noch von Hand angerührt würde. Als ob jede Lindor-Kugel eine Einzelanfertigung wäre, womöglich noch von «Maîtres Chocolatiers» in schneeweissen Kostümen und üppigen Kochmützen, die man aus der Werbung kennt. Und als ob die Tropfen unter dem Schwingbesen ganz von allein so herunterkullern würden.
Die Macher von Lindt haben nachgeholfen, und zwar mit Kakaobutter: Deswegen ist die Brunnenschokolade derart dickflüssig, deswegen fliessen die Tropfen gut sichtbar hinunter. Einer nach dem anderen, verführerisch langsam, den ganzen Tag. Eine schöne Illusion.
«Say cheese!»
Die Schokoladen-Romantik ist derart dick aufgetragen, dass sich die Migros vor kurzem darüber lustig machte. Der Lindt-Konkurrent lancierte einen Werbespot mit Rowan Atkinson alias Mister Bean, der einen «Chocolatier» parodierte und sich nach mehreren gescheiterten Versuchen, eine fancy neue Schoggi zu kreieren, aufs Einpacken einer simplen Tafel Milchschokolade besann («Chocolat ohne Trallala»).
Aber egal, die Leute lieben Klimbim. «Say cheese!»: Frauen, Männer, Kinder posieren zu Hunderttausenden vor dem Schokoladenbrunnen des Lindt-Tempels.
Jawohl, zu Hunderttausenden.
Das «Home of Chocolate» hat sich aus dem Stand zu einem der beliebtesten Museen der Schweiz entwickelt. Im vergangenen Jahr pilgerten deswegen 817 000 Menschen nach Kilchberg, mehr als doppelt so viele wie bei der Eröffnung 2020 vorgesehen. Nur das Verkehrshaus in Luzern zieht mehr Menschen an. Im Kanton Zürich ist das Schokoladenmuseum die klare Nummer eins. Das Kunsthaus (504 000 Eintritte 2023) und das Landesmuseum (312 000) liegen weit abgeschlagen zurück.
Der Andrang ist so gross, dass man Tickets vorab zu genauen Tageszeiten reservieren muss. Die Festtage waren komplett ausgebucht. Zwei Drittel der Besucher reisen aus dem Ausland an. Audio-Führungen werden auch auf Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch, Portugiesisch, Arabisch, Mandarin, Japanisch und Koreanisch angeboten. Das passt zur Entwicklung des Lindt-Konzerns der vergangenen Jahrzehnte. Der Schokoladenhersteller hat sich längst als Premium-Marke auf der ganzen Welt etabliert.
Die starke Nachfrage in Kilchberg hatte Konsequenzen. Die VBZ schufen zusätzliche Busverbindungen zwischen dem Bürkliplatz und der Haltestelle Lindt & Sprüngli in Kilchberg. Dieses Angebot wurde vor kurzem noch ausgebaut. Seit Mitte Dezember fährt der 165er nicht nur am Wochenende, sondern nachmittags auch unter der Woche im Viertelstundentakt.
Doch das reicht offenbar immer noch nicht: Politiker vom linken Zürichseeufer würden am liebsten ein Schoggi-Schiff lancieren, um das Museum auch auf dem Wasserweg zu erschliessen. Die Idee taucht immer wieder auf und wieder ab. Das «Home of Chocolate» wurde sogar bereits angefragt, ob es vielleicht ein eigenes Kursschiff bauen lassen und in Betrieb nehmen wolle. Kai Spehr, der Geschäftsführer der Stiftung, die das Museum betreibt, sagt: «Wir haben dankend abgelehnt. Der Zweck unserer Stiftung ist es, ein Museum zu betreiben – keine Schiffsverbindung.»
Man kann den Hype um den «Schokoladenhimmel» (Lindt) verstehen: Die Schau in Kilchberg ist gut gemacht. Und sie thematisiert ein Kulturgut von nationaler Bedeutung: Schweizerinnen und Schweizer lieben Schokolade. Sie essen jedes Jahr 11 Kilogramm davon. Kein anderes Land schafft mehr pro Kopf.
Woher diese innige Beziehung? Wie machten und konsumierten die Menschen Schokolade früher? Wie macht man sie heute? Diese Fragen will das Museum beantworten – auf einer Raum-Zeit-Reise.
Unter Kakaobäumen
Und so landet man zu Beginn der Ausstellung auf einer Art Plantage, wo immergrüne Mango-, Bananen- und Kakaobaum-Attrappen stehen. Bildschirme und riesige Aufnahmen echter Kakaofarmen an den Wänden führen in eine andere Welt. Ein bisschen wähnt man sich in Westafrika, in Ghana beispielsweise, einem der wichtigsten Exportländer der Welt, wo Kakaobauern in tropischer Hitze schuften.
Wir haben eine Tour auf Englisch gebucht. Eine fünfköpfige Familie aus Saudiarabien ist auch dabei. Ebenso eine Engländerin und drei Besucher aus Deutschland, die offenbar keinen Platz mehr bekommen haben in einer Führung in ihrer Sprache. «Cocoa trees need a lot of rain, a lot of humidity and a lot of shadow», erläutert unsere Führerin. Kakaobäume brauchen Regen, Feuchtigkeit und Schatten. Die länglichen, gefurchten Früchte wachsen direkt am Stamm und an dickeren Ästen der niederen Bäume. Mango- und Bananenbäume spenden den notwendigen Schatten. «Most people», sagt unsere Führerin, «have never seen or touched a cocoa fruit.»
Das stimmt wahrscheinlich. Denkt man an (Schweizer) Schokolade, kommen einem Alpen und glückliche Milchkühe in den Sinn. Aber über die wichtigste Zutat wissen wir kaum etwas.
Eine Kakaofrucht, nur wenige Bohnen: Die Ausstellung zeigt, woher die wichtigste Zutat von Schokolade wirklich kommt.
Die Schau in Kilchberg indes vermittelt zumindest einen Eindruck, wie Kakao geerntet, gespalten (mit der Machete) und entkernt wird (von Hand). Dann werden die Samen oder Bohnen getrocknet. Die Tropensonne setzt einen chemischen Prozess in Gang, damit die Kakaobohnen ihr typisches Aroma entwickeln können. Danach sind sie transportfertig und werden nach Europa und Nordamerika verschifft.
Ein Erbe der Mayas
Das «Home of Chocolate» will ein Schokoladenmuseum sein, kein Firmenmuseum. Und so kommen die Urgeschichte von Kakao ebenso zur Sprache wie allzu menschliche Themen. Ob wir Schokolade immer noch als Medizin verwendeten, wie die Mayas damals, die ab 1500 vor Christus im Süden des heutigen Mexiko gelebt und «Xocolatl» getrunken hätten, möchte die Museumsführerin von ihrer Gruppe wissen.
Die Antworten sind eindeutig: «Yes.» – «Sure.» – «Of course, every day!» Jeden Tag, gerade in der grauen Jahreszeit!
Die Ausstellung bietet viele Informationen über Geschichte und Zukunft der (Schweizer) Schokolade. Zum Glück darf man immer wieder probieren, auch in flüssiger Form (Bild oben).
Insofern scheint klar: Schokolade macht glücklich. Oder sie hilft zumindest ein bisschen, wenn wir unglücklich sind. Kakao enthält Koffein und weitere pflanzliche «Aufputschmittel». Spuren des Glückshormons Serotonin können in den braunen Bohnen ebenfalls nachgewiesen werden. Vor allem aber steckt in einer hellen Tafel Schokolade sehr viel Zucker, viel Fett und Eiweiss. Die geballte Ladung Energie aktiviert das Belohnungssystem im Gehirn. Wir fühlen uns gut – erst recht, wenn wir die Nascherei mit schönen Kindheitserinnerungen verbinden.
Anne d’Autriche, Influencerin
So kam die Schokolade nach Europa: als animierendes Heissgetränk, das zunächst vor allem am spanischen Hof zelebriert wurde. Anne d’Autriche, die spanische Gemahlin des französischen Königs Louis XIII, brachte den Muntermacher im 17. Jahrhundert nach Paris und machte ihn unter weiteren Aristokraten populär. «She was an influencer in her time», sagt die Führerin. Anne d’Autriche war eine Influencerin avant la lettre.
Später wurde die Kolonialware in Apotheken verkauft, lange bevor essbare Tafeln in Lebensmittelgeschäften zu haben waren. Eine Zeichentrickdarstellung im nächsten Raum zeigt, wie man sich das zur Zeit der industriellen Revolution ungefähr vorstellen kann, auf einer kreisrunden Leinwand: Man trank Schokolade im Bett, vor dem Schlafengehen.
Einer der Wegbereiter der industriellen Fertigung war – ein Niederländer: Casparus van Houten senior (1770–1858). Auch er kommt im Museum in Kilchberg zu Ehren. Van Houten gilt als Erfinder der Kakaopresse, mit der sich die fette Masse zu trockenem Pulver verarbeiten liess. Das war effizient, besser für den Transport und vor allem viel günstiger als vorher. Schokoladenfabriken wurden gebaut, verkauft wurde das neue Lebensmittel auch in Automaten. Aus einem Luxusgut wurde ein Produkt für die Massen.
Schokolade wie anno 1850 probieren
So eine Tafel schmeckte: bitter, trocken, sandig. Beim Abbeissen zerbrach sie in tausend Stücke. Das Gegenteil von zartschmelzend auf der Zunge, das wir heute gewohnt sind. Ein seltsames Erlebnis – und das Highlight geführter Touren im «Home of Chocolate»: Wir dürfen Schokolade von damals probieren, hergestellt nach einer Rezeptur aus der Zeit um 1850.
Schokolade von heute schmeckt und fühlt sich ganz anders an. Auch dank diesen beiden Herren: Henri Nestlé experimentierte mit Kondensmilch, seinem Nachbarn Daniel Peter gelang es in den 1880er Jahren, kondensierte Milch mit Schokolade zu verbinden.
Der Berner Schokoladenfabrikant Rodolphe Lindt erfand schliesslich eine Maschine und ein Verfahren, die der werdenden Schokolade ihren vollen Geschmack und ihre typische Konsistenz verliehen. Das Geheimnis: conchieren, conchieren, conchieren (rühren und gleichzeitig erwärmen), 72 Stunden lang. Der Legende nach war diese Entdeckung Zufall: An einem Freitagabend soll Lindt vergessen haben, seine Maschine auszuschalten. Am folgenden Montagmorgen erlebte er eine zarte Überraschung.
1899 verkaufte Lindt sein Unternehmen samt Patent an den Zürcher Chocolatier Rudolf Sprüngli. Im gleichen Jahr wurde die Fabrik in Kilchberg gebaut.
Die Erfindung von Rodolphe Lindt (mit Schnauz im Bild rechts) prägt die Industrie bis heute: Seine Conchiermaschine verlieh der braunen Masse ihre zartschmelzende Konsistenz.
Das «Home of Chocolate» ist tatsächlich ein Schokoladenmuseum, kein Lindt-Museum. Auch wenn im Herzstück der Ausstellung ein goldenes Modell einer Conchiermaschine die Taten der anderen Schweizer Schoggi-Pioniere in den Schatten stellt. Aber vielleicht tut sie das zu Recht. Lindts Erfindung prägt die Industrie bis heute. Moderne Schokolade werde immer conchiert, sagt die Museumsführerin.
Zurück im Klimbim
Das sind viele Informationen, und die Ausstellung hat noch viel mehr zu erzählen. Aber das würde hier zu weit führen.
Nach einer knappen Stunde wird die Gruppe belohnt. Endlich dürfen die Besucher weitere Schoggi kosten: in flüssiger Form, in Täfelchen, in Kugelform, überreicht von Mitarbeitern in schneeweissen Kostümen und mit übergrossen Kochmützen. Der Lindt-Klimbim hat uns wieder. Wer noch nicht genug hat, darf unten beim Ausgang richtig zugreifen. Dort steht der grösste Lindt-Shop der Welt.
Vielleicht ist das der entscheidende Grund für den Riesenerfolg des Museums: Das Thema spricht alle an – im Gegensatz zu Marina Abramović und Vincent van Gogh (derzeit im Kunsthaus zu sehen) oder den kolonialen Verflechtungen der Schweiz (im Landesmuseum).
Warum sie hier seien, wird ein malaysisches Ehepaar vor dem Schokoladenbrunnen in der Lobby gefragt. Die Antwort ist einfach:
«Because we love chocolate!»