Spitäler begründen die Schliessung von Gebärsälen mit der sinkenden Geburtenrate. Doch das ist bei weitem nicht der einzige Grund.
Weisse Wände, kaltes Neonlicht und fader Kartoffelstock mit brauner Sauce auf dem Teller – diese Bilder gehen vielen Menschen durch den Kopf, wenn sie an ein Krankenhaus denken. Ein Ort, den man lieber meidet. Hier gehören Schmerzen und Tod zum Alltag.
Das Spital steht aber auch für den Beginn des Lebens. Die Geburt eines Kindes macht es zu einem Ort der Freude. Es ist wohl der einzige Grund, weshalb man ein Spital freiwillig und gerne betritt.
Doch ausgerechnet die Geburtsabteilungen stehen derzeit unter grossem Druck. Eine Schliessungswelle rollt durch die Schweiz. Nach der Schliessung der Gebärsäle im Spital Thusis (GR) im März 2025 und im Spital Frutigen (BE) im April 2025 wird im Juni auch die Geburtshilfe der Andreas-Klinik Cham (ZG) eingestellt. Die Geburtsabteilung im Spital Muri (AG) steht ebenfalls vor dem Aus.
Damit setzt sich eine Entwicklung fort, die sich schon seit längerem abzeichnet. Gab es im Jahr 2010 noch 117 Geburtsabteilungen in der Schweiz, sind es heute nur noch 89. Die Spitäler begründen die Schliessungen mit der gesunkenen Geburtenrate. Damit beschleunigt sich allerdings nur ein Prozess, der überfällig ist.
«Jederzeit bereit» ist teuer
Anhand des Spitals Muri (AG) lässt sich veranschaulichen, weshalb sich Geburten für kleinere Spitäler bereits seit längerem kaum mehr lohnen. Im Februar dieses Jahres gab der Stiftungsrat des Spitals die Schliessung der Geburtenabteilung per Ende 2025 bekannt. Rund 500 Kinder kommen hier pro Jahr zur Welt.
Ausser der sinkenden Geburtenrate nannte das Spital vor allem auch die hohen Vorhalteleistungen als Grund für die Schliessung. Eine Geburtsabteilung muss jederzeit einsatzfähig und für alle Fälle gewappnet sein – auch für solche mit Komplikationen. Das heisst: Es braucht rund um die Uhr Hebammen, Pflegepersonal, Ärzte und Anästhesisten. Das ist teuer.
Je weniger Geburten stattfinden, desto höher sind die Kosten pro Geburt. Denn die Tarife pro Geburt sind fixiert und im Vergleich mit anderen Eingriffen eher niedrig. Es braucht also eine gewisse Anzahl Geburten pro Jahr, um rentabel wirtschaften zu können. Und rentabel heisst nicht eine schwarze Null, sondern 10 Prozent mehr, damit das Spital auch Investitionen finanzieren kann.
Geburten sind also ein Massengeschäft. Das ist nicht nur wirtschaftlich sinnvoll, sondern muss auch so sein, um die Qualität zu gewährleisten. Tilman Slembeck ist Wirtschaftsprofessor an der Zürcher Fachhochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) und Dozent an der Hochschule St. Gallen (HSG). Er sagt: «Kommt es bei einer Geburt zu Komplikationen, müssen die Teams schnell handlungsfähig sein. Dazu braucht es eine gewisse Routine.»
Laut einer Studie aus dem Jahr 2020 können die Teams in Geburtsabteilungen diese Routine nur entwickeln und beibehalten, wenn sie mindestens 1500 Geburten pro Jahr betreuen. Weniger als die Hälfte der Geburtsabteilungen in der Schweiz erreichen diesen Richtwert. Kommt hinzu: Je niedriger die Fallzahlen in einem Spital sind, desto schwieriger ist es, überhaupt noch Mitarbeiter zu finden.
Muri würde also mehrere hundert Geburten mehr pro Jahr brauchen – oder mehr Kaiserschnitte.
«Finanzielle Probleme in den Geburtsabteilungen könnten Spitäler auf den Plan rufen, mehr Kaiserschnitte als nötig durchzuführen», sagt Slembeck. Ein Kaiserschnitt werde zum einen besser vergütet als eine natürliche Geburt, zum anderen sei er planbarer. Das ist aber kein erstrebenswertes Szenario. Auch heute noch entscheiden sich die meisten Frauen in der Schweiz für eine natürliche Geburt, weil die Komplikationsrate deutlich niedriger ist als bei einem Kaiserschnitt.
Es sei wichtig und richtig, dass sich das Spital Muri für die Schliessung der Geburtenabteilung entschieden habe, sagt Slembeck.
Der Volkszorn kocht
Die Einwohner von Muri sehen das anders. Die Schliessung einer Geburtsabteilung ist eine emotionale Angelegenheit. Reaktionen aus Bevölkerung und Politik liessen nicht lange auf sich warten. Es wurden zwei Petitionen gestartet. Eine unter dem Titel «Herz und Seele bewahren – Nein zur Schliessung der Geburtenabteilung in Muri!», die andere forderte «Frauen brauchen Hebammen in Muri».
Auch die Grossrätin Franziska Stenico-Goldschmid sowie Lokalpolitiker aus der SP, der Mitte und der FDP schrieben einen offenen Brief an den Stiftungsrat des Spitals Muri. Darin heisst es: «Eine Geburt darf nicht zur Hochrisiko-Angelegenheit werden, nur weil Spitäler sparen müssen!»
Tatsächlich haben Schwangere aus dem Aargauer Freiamt künftig längere Anfahrtswege. Doch die nächstgelegenen Geburtsabteilungen in den Spitälern Aarau, Baden, Zürich, Baar, Luzern und Sursee sind mit dem Auto innert 30 Minuten erreichbar. In medizinischen Fachkreisen gilt dies als zumutbarer Weg.
«Die Leute liegen falsch, wenn sie sich in Sicherheit wiegen, nur weil sie vor der Haustüre ein Spital mit einer Geburtsabteilung sehen», sagt der Wirtschaftsprofessor Tilman Slembeck. Bei Notfällen sei eine schnelle Rettung und Notfallversorgung mit modernen Fahrzeugen und ausgebildeten Ärzten entscheidend für die Bevölkerung. Ein kleines Spital, das wegen ungenügender Fallzahlen die Qualität nicht mehr aufrechterhalten könne, sei wenig hilfreich.
Wie widersprüchlich die öffentliche Empörung ist, zeigt auch ein Blick auf die Zahlen: Nur knapp 40 Prozent der Neugeborenen aus den Bezirken Muri und Bremgarten kommen im Spital Muri zur Welt. Und das, obwohl die anderen Spitäler in der Region ihre Geburtsabteilungen bereits vor Jahren geschlossen haben. Bereits heute entscheiden sich die Frauen also immer häufiger für ein Zentrumsspital mit einer Abteilung für Frühgeborene (Neonatologie), ein Geburtshaus oder für eine Hausgeburt.
Geburten im Geburtshaus sind günstiger
Seit ein paar Jahren liegen vor allem in den Städten Geburtshäuser im Trend. Die Geburtshäuser sind entweder eigenständig oder werden durch Spitäler betrieben. Dort führen Hebammen natürliche Geburten durch, ohne dass diese von Ärzten überwacht werden. Das Angebot richtet sich daher nur an Frauen mit problemloser Schwangerschaft. Kommt es trotzdem zu Komplikationen, wird die Frau ins eigene oder nächstgelegene Spital verlegt.
Geburtshäuser sind ein gutes Beispiel dafür, dass sich hohe medizinische Qualität und wirtschaftliches Arbeiten vereinbaren lassen.
So betreut eine Hebamme eine Frau häufig über die ganze Schwangerschaft hinweg, bei der Geburt und auch danach im Wochenbett. Sie kennt die Wünsche und Ängste der Frau also bereits vor der Geburt. Erfolgt die Betreuung der Schwangerschaft ausschliesslich über einen Gynäkologen, führt er zwar alle Vorsorgeuntersuchungen durch, schickt die Frau aber zur Geburt ins Spital, wo sie dann von Ärzten und Hebammen betreut wird, die die Frau erst unter der Geburt kennenlernen.
Anne Steiner leitet das Geburtshaus Nordstern am Kantonsspital Aarau. Sie sagt: «Das ist nicht nur ein grösserer Stress für alle Beteiligten, sondern auch teurer.» Denn die Hebammen tragen mit einer intensiven Geburtsvorbereitung dazu bei, dass die Geburt problemloser und somit günstiger verläuft. So haben zum Beispiel viele Erstgebärende bereits in der Latenzphase das Gefühl, dass das Kind jeden Moment kommen könnte. Geht die Frau ins Spital, wird sie von Hebammen und Ärzten untersucht und oft wieder nach Hause geschickt. Eine persönliche Hebamme gibt hingegen bereits zu Hause Entwarnung, so dass sich die Frau gar nicht erst auf den Weg ins Spital macht.
Zudem sind die Löhne der Hebammen tiefer als die der Ärzte. Auch wenn bei einer Begleitung durch eine Hebamme mehr Konsultationen anfallen, ist diese Form der Betreuung günstiger.
Ein Gebärsaal ist zudem mit teurer Medizintechnik für alle Fälle ausgestattet, die aber bei vielen Geburten gar nicht zum Einsatz kommt. Der gesamte Aufenthalt der Frau im Gebärsaal ist also viel teurer als in einem Geburtshaus. Das kann im Spital manchmal zu Zeitdruck führen. Hinzu kommt, dass sich viele Frauen bei einer Geburt sowieso eher eine Wohlfühlatmosphäre wünschen und kein klinisches Ambiente.
Steiner sagt: «Auf den Notfallstationen hat es sich längst etabliert, dass die schwierigen Fälle in den Schockraum kommen und die einfacheren in eine Art vorgelagerte Hausarztpraxis – so sollten auch komplizierte und natürliche Geburten nach Spital und Geburtshaus triagiert werden.»
Mehr Verlegungen nötig als gedacht
Der Kanton Zürich fördert die hebammengeleitete Geburt in Geburtshäusern, indem er seit dem Jahr 2023 öffentliche Leistungsaufträge vergibt. Einen solchen hat das Spital Zollikerberg bekommen.
2200 Babys haben im Jahr 2024 im Spital Zollikerberg das Licht der Welt erblickt, 93 davon im Geburtshaus, das sich auf dem Gelände befindet. Ganz ausgelastet sei man noch nicht, sagt der Spitaldirektor Christian Etter, aber die Nachfrage steige.
Ein Geburtshaus auf dem Gelände eines Spitals hat den Vorteil, dass die Frauen bei Komplikationen oder zu starken Schmerzen sofort verlegt werden können. Kommt es zu starken Blutungen, Wehenschwäche oder einem frühzeitigen Blasensprung, wird die Frau nebenan im Spital sofort ärztlich versorgt. Sind die Schmerzen zu stark, kann sie eine PDA bekommen.
Etter sagt: «Wir müssen mehr Frauen vom Geburtshaus ins Spital verlegen, als wir ursprünglich angenommen haben – hauptsächlich, weil die Schmerzen dann doch zu stark sind.» Von 130 Frauen, die im Jahr 2024 für eine Geburt im Geburtshaus angemeldet waren, mussten 37 ins Spital verlegt werden.
Trotzdem würden die Kosten pro Geburt dank den hebammengeleiteten Geburten mittel- bis langfristig sinken. Reduzieren sich die Kosten einer Behandlung bei einem Spital, bekommt es weniger Geld vergütet. Das widerspricht den Interessen eines Unternehmens, das Gewinn erzielen möchte. Etter sagt: «Das ist das Deprimierende: Arbeiten wir gut, bekommen wir am Schluss weniger Geld. Aber für die Prämienzahler ist es natürlich gut.»
Das Kostenwachstum im Gesundheitswesen wird durch Initiativen wie die Geburtshäuser gebremst. Das Gleiche gilt, wenn Spitäler ihre zu teuer gewordenen Geburtsabteilungen schliessen.