Anouk und Zoé Vergé-Dépré spielen künftig zusammen – und lernen sich auf eine andere Art kennen. Sie fragen sich, was das mit ihrer Beziehung macht.
Irgendwann nach der vergangenen Beachvolleyball-Saison steckte Zoé Vergé-Dépré ihrer Schwester Anouk ein Zettelchen zu, auf dem stand: «Willst du meine Beachpartnerin sein?» Dazu drei Kästchen zum Ankreuzen: Ja, Nein, Vielleicht. Anouk füllte den Zettel aus, schoss mit einer Polaroidkamera ein Foto von sich mit einem Blatt, auf dem «Yes» stand, und legte es Zoé mit ein bisschen Schokolade in den Briefkasten.
So begann ein neuer Lebensabschnitt für die Vergé-Déprés: Die Bernerinnen sind nicht mehr nur als Schwestern unterwegs, sondern auch als Beachvolleyball-Duo.
Der Prozess zur Entscheidung, gemeinsam zu spielen, dauerte freilich länger als ein Zettelchen-Austausch. Doch der Zeitpunkt für das Abenteuer ist optimal: Die 32-jährige Anouk und die 26-jährige Zoé spielten in den vergangenen acht Jahren mit festen Partnerinnen, beide Teams lösten sich nach der letzten Saison auf, und beide Schwestern wollen bis zu den Olympischen Spielen 2028 in Los Angeles weitermachen.
Obwohl sie einander so gut kennen, ist nun alles frisch: das Umfeld, der Umgang, das Volleyballspiel. Sie wollen in allen Bereichen neu beginnen. Abgesehen vom Krafttraining arbeiten sie mit neuen Trainern. Betreuer wie Spielerinnen sprechen von einer «Flitterwochen-Phase», in der alles aufregend sei. Mitte November begann das gemeinsame Training im Beachcenter Bern, also dort, wo Anouk und Zoé Vergé-Dépré schon viele Stunden gemeinsam im Sand verbrachten – bloss nie auf derselben Seite des Netzes.
Eine Ausnahme gab es: An den EM 2018 spielten sie zusammen, weil Anouks Partnerin Joana Mäder verletzt war. Zuvor hatte der Altersunterschied von sechs Jahren verhindert, dass sich ihre sportlichen Wege kreuzten.
Im neuen Team gibt es zumindest auf persönlicher Ebene keine Angewöhnungszeit. «Man kann von Anfang an sich selbst sein», sagt die um sechs Jahre jüngere Zoé Vergé-Dépré (rechts).
Einzelzimmer und getrennte Chats sollen helfen
Der grosse Vorteil gegenüber einem anderen neuen Team ist die sofortige Vertrautheit. «Man kann von Anfang an sich selbst sein», sagt Zoé Vergé-Dépré. Doch genau diese Nähe beschäftigte die beiden, als sie überlegten, ob sie zusammen spielen wollten. Es besteht das Risiko, die gute Beziehung zu gefährden; ein eindringliches Beispiel aus dem Beachvolleyball waren die Brüder Laciga, bei denen neben dem Feld jeder seinen eigenen Weg ging. Anouk sagt: «Es kann eine Belastung sein, wenn man ein solches berufliches Projekt angeht, täglich zusammen ist und am Limit arbeitet.»
Dabei denken sie nicht zuerst an Konflikte – beide sind direkt und sprechen an, was sie beschäftigt. Doch sie sind füreinander enge Bezugspersonen. Und fragen sich deshalb, ob sie sich noch so oft sehen wollen, wenn sie den ganzen Berufsalltag, die Reisen, die Trainings, die Medien- und Sponsorenarbeit teilen. Wird die Nähe irgendwann zu viel, und fehlt dann ein wichtiger Teil im Privatleben?
Um dem vorzubeugen, versuchen sie einerseits, sich Raum zu lassen, auf der Tour gelegentlich ein Einzelzimmer zu nehmen. Und anderseits, ihre Rollen zu trennen. Sie haben zwei Schwestern-Chats eingerichtet: einen für Berufliches, den anderen für Privates. So erkennen sie leichter: «Will ich etwas von dir als Schwester oder als Sportpartnerin?»
Zuversichtlich stimmt die Vergé-Déprés, dass sie das Jahr 2024 mit einer intakten, wenn nicht sogar gestärkten Beziehung hinter sich gebracht haben. Denn dieses stellte eine Belastungsprobe dar: Bis zum letzten Qualifikationsturnier für die Olympischen Spiele hatten ihre Teams um den letzten Schweizer Startplatz für Paris gekämpft. Eine schwierige Situation für die Schwestern, die sich stets über die Erfolge der anderen freuten. Plötzlich stand eine dem Traum der anderen im Weg.
Das Rennen machte die Jüngere, Zoé. Mit ihrer Partnerin Esmée Böbner war sie erst im Jahr vor den Olympischen Spielen in die erweiterte Weltelite vorgestossen. Anouk Vergé-Dépré und Joana Mäder hingegen wollten ihre Medaille von Tokio bestätigen, rangen aber nach Mäders schwerer Schulterverletzung um den Anschluss. Anouk Vergé-Dépré sagt: «Das Jahr war hart. Aber die Pause im Sommer gab mir Luft zum Atmen. Und Zeit, um zu überlegen: Will ich nochmals voll auf Beachvolleyball setzen?»
Sie wollte. Und reiste schliesslich doch nach Paris, um in der stimmungsvollen Beach-Arena vor dem Eiffelturm ihre Schwester zu unterstützen. Anouk Vergé-Dépré sagt: «Dort habe ich mit der Situation Frieden geschlossen.»
Mit 33 nochmals neue Techniken lernen
Das Training im neuen Team ist in den ersten zwei Monaten monoton, besteht aus vielen Wiederholungen. Unter den neuen Coaches, Damian Wojtasik und Denis Milanez, sollen die zwei Weltklassespielerinnen etwa den Überkopf-Pass in ihr Spiel einbauen. Beide setzen seit Jahren auf das untere Zuspiel, fühlen sich damit wohl, spielen präzise.
Doch das Beachvolleyball entwickelt sich, es wird schneller, variabler. Viele Gegnerinnen haben Blockerinnen, die über 1 Meter 90 gross sind. «Dieses Zuspiel ist eine zusätzliche Waffe», sagt Wojtasik. Er will das Spiel des Teams unberechenbarer machen und schätzt den Eifer der Schwestern, sich auf Neues einzulassen. «Wir entwickeln für beide individuelle Spielstile und versuchen herauszufinden, welche Spielweise am besten zu ihnen passt.»
Anouk Vergé-Dépré muss zudem eine andere Position spielen als zuletzt. Früher war sie Blockerin, ehe sie für die Zusammenarbeit mit Mäder in die Defense wechselte. Nach Mäders Schulterverletzung blockte Vergé-Dépré wieder ab und zu. Nun ist sie durchgehend am Block und spielt beim Angriff aus der Abnahme auf der rechten statt der linken Seite. «Für mich bedeutet das, dass ich einen anderen Blick auf das Feld habe, einen anderen Anlauf, das Zuspiel kommt von der anderen Seite», sagt Anouk Vergé-Dépré.
Auch neu sind die Calls, also die Geheimsprache, mit der sich jedes Beachvolleyball-Duo während des Spiels verständigt. Einige benutzen Nummern, andere Farben, um die nächste Aktion anzusagen – bei Vergé-Déprés werden es wohl Früchte.
Bis all das automatisiert ist, sind Hunderte, Tausende Wiederholungen notwendig. Anouk Vergé-Dépré sagt: «Auf dem Feld hast du kaum Zeit, über die Details einer Bewegung nachzudenken. Du musst Raum haben, um zu entscheiden, wohin du spielen willst.» Manchmal fühlen sich die beiden wie Juniorinnen, dann wieder schöpfen sie aus der Erfahrung ihrer erfolgreichen Karrieren. Anouk gewann 2021 Olympia-Bronze, Zoé erreichte im vergangenen Sommer den Olympia-Viertelfinal, beide standen an Europameisterschaften auf dem Podest.
Im März will das neue Duo in die Saison starten. Kumuliert man die Punkte der Einzelspielerinnen, kommt das Team auf einen Weltranglistenplatz um die 12 herum. So müsste es an den Elite-16-Turnieren nicht in die Qualifikation, ein Vorteil, weil die Schwestern so nicht in jedem Spiel unter Druck stünden. Das erste Ziel sind die WM im November in Australien. Vor allem aber wollen sie sich so gut wie möglich finden – ganz neu, im Sand, nach 26 gemeinsamen Jahren.