Der wirtschaftliche Druck und die Globalisierung haben das Schulsystem verändert. Gerade für den Fortschritt wäre es wichtig, dass Bildung die Politik und die Demokratie vor der Logik des Marktes hochhält.
Die kürzlich laut gewordene Klage von Schweizer Unternehmen und Lehrbetrieben ist symptomatisch für den Zustand heutiger Bildungspolitik: Schulnoten seien nicht dazu geeignet, passendes Personal zu finden, hiess es da. Wirtschaftsverbände hatten eine qualitative Befragung durchgeführt und ein neues Notensystem mit einheitlichen Standards gefordert, um potenzielle Arbeitnehmer effizienter selektionieren zu können.
Hinter dieser Forderung steht die Vorstellung, Bildung und Schule müssten ein Art Vorzimmer der Personalabteilung von Unternehmen bilden. Doch warum sollten sich Pädagogen, Schüler, Bildungspolitiker und Integrationsbeauftragte in Zukunft in den Dienst der wirtschaftlichen Verwertung stellen?
Diese Frage erhält in Bildungsdebatten wenig Raum. Eher dominieren nachgelagerte Fragen um den richtigen oder falschen Weg zu einem Reformprozess. Etwa wenn es um die technisch-administrative oder politische Umsetzbarkeit gewisser Vorgaben geht. Der tiefere Sinn oder zivilisatorische Wert einer Reform, ihre menschlich-kulturellen Konsequenzen bleiben unreflektiert. Generell werden Fragen gemieden, die Distanz schaffen, Fragen, die es ermöglichen würden, den Korridor des Optimierungs- und Verwertungsdenkens zu verlassen, das heute so viele Lebensbereiche prägt.
Internationales Diktat verdrängt die föderale Politik
Wirtschaftsethiker wie Peter Ulrich von der Universität St. Gallen hatten schon vor Jahren angemahnt, man müsse den «Primat demokratischer Politik und der humanen Würde» vor jeder Ökonomisierung durchsetzen. Kritische Wirtschaftsethiker gibt es auch in den USA, doch sie scheinen keinen Einfluss auf den allgemeinen Trend zu haben. Internationale Organisationen wie die OECD oder der europaweite Bologna-Prozess haben eine nationale und föderale, demokratisch legitimierte Bildungspolitik verdrängt. Aktuelle Reformen und Bildungsprogramme folgen in der Regel internationalen Diktaten.
Der Einfluss der Ökonomisierung zeigt sich auch am sogenannten New Public Management (NPM), mit dem heute Verwaltungen geführt werden. Früher gab es in der Grundschule keine Schulleiter. In den Gymnasien fungierte der Konvent (Gesamtheit der Lehrer) als Parlament, das Beschlüsse fassen konnte, während das Rektorat als ausführendes Organ fungierte. Mit dem NPM wurden Schulen zu Betriebseinheiten.
Nun bilden Schulleitungen die entscheidungsbefugte Management-Ebene, und die Lehrerschaft ist ein ausführendes Organ. Lehrer haben dabei ein Anhörungsrecht, mehr aber nicht. Dies bedeutet eine Entdemokratisierung der Schulstrukturen, entgegen der Rede von flachen Hierarchien. Weitere Hinweise auf die Ökonomisierung ergeben sich aus Gesundheitsbefragungen und Berichten von Schulpsychologischen Beratungsstellen. Sie dokumentieren eine massive Zunahme der Zahl der Kinder, die von Schulangst betroffen sind.
Entgegen dem Humanismus und der Aufklärung
Gemäss dem Zürcher Erziehungswissenschafter Beat Kissling gibt es keine «Input-basierte» interpersonale Gestaltung von Schule und Unterricht mehr. Die Lernenden werden nicht, im Sinn von Humanismus und Aufklärung, zu selbständigem Denken in die Mündigkeit geführt. Vielmehr erleben wir eine «Output-basierte» Gestaltung, die weniger danach fragt, wie sich der Mensch geistig-seelisch entwickelt, als vielmehr danach, welchen Output er liefert. Ein solches Denken, orientiert am Ergebnis und an einer messbaren Leistung, verlangt natürlich nach einheitlichen Standards, nach permanentem Vermessen und Vergleichen mit einem entsprechenden Controlling.
Nun ist es kein Problem, wenn Akademien, Schulen oder Bildungspolitiker messbare Resultate anstreben, oder wenn die Gesellschaft von der Schule einen Output erwartet. Schliesslich ist die Schule auch dafür da, Mädchen und Jungen auf das Arbeitsleben vorzubereiten. Die Schweizer Tradition einer starken Volksschule entstammt dem Ideal der Chancengleichheit für Lernende aus allen Schichten der Gesellschaft. Anders als in Ländern mit vielen Privatschulen, wo Lernende mit finanzstarken Eltern bedeutend mehr Chancen haben als jene aus bescheidenen Verhältnissen. Bildungspolitik ist immer auch Sozial- und Wirtschaftspolitik.
Bildungseinrichtungen können allerdings nur dann auf Chancengleichheit hinwirken, wenn sie das richtige Rüstzeug für den passenden Berufsweg anbieten können. Es braucht versierte Pädagoginnen und Pädagogen, nicht abstinente Lernbegleiter oder Coachs.
Freiheit durch Freiheit
Ein vernachlässigtes Paradox freiheitlicher Gesellschaften ist, dass sie nur dann wirklich frei, kreativ und fortschrittlich bleiben, wenn sie gerade darauf verzichten, dies strukturell zu erzwingen. Geistige Leistungen gedeihen nur dort, wo ein freies Spiel mit Lust am Denken möglich ist, ein zwangloses Ausprobieren, Herausfordern und Schöpfen. Das ist Grundlage der Innovation, und Innovation führt zu Wettbewerbsvorteilen aller Art, sei es wirtschaftlich, sei es gesellschaftlich. Das kann nicht durch Vermessung, Controlling und Output-Management initiiert werden. Es braucht zuerst einmal Vertrauen in die Kraft des Individuums. Und die Erkenntnis, dass Vermessung und Controlling nicht Fortschritt bedeuten, sondern Misstrauen in die Freiheit.
In ihrer Forschungsarbeit weisen die englischen Erziehungswissenschafter Susan L. Robertson und Tore Sorensen darauf hin, dass Reformprogramme wie jene der OECD darauf abzielen, Schule und Bildung als strategisches Tool der Marktgesellschaft einzusetzen. Schüler und Lehrer werden Teil einer «wettbewerbsfähigen Wissensökonomie».
Das Bildungssystem wird zu einem Ort der Domestizierung. Es geht so nicht mehr darum, junge Menschen freiheits- und verantwortungsfähig zu machen, etwa durch intellektuellen Pluralismus, durch das Aushalten abweichender Sichtweisen, durch das Aufbrechen von Denkgewohnheiten, um am Widerspruch zu wachsen.
Menschen können nur in der Spannung zur Welt als Originale reifen, doch eine Vermessung führt zu Druck und Angst – letztlich zu Konformität. Die überragende Gestaltungskraft individueller Freiheit geht verloren. Die vollständige Humankapitalisierung des Menschen vermag bestenfalls ein System aus emsigen, digital gerüsteten Ameisen hervorzubringen. Doch der Preis ist die schleichende Entmündigung und Entfremdung des Menschen.
Umso wichtiger wäre eine Rückbesinnung auf die humanistischen Werte und auf ein Bildungssystem, das den Primat von Politik und Demokratie vor der Logik des Marktes hochhält. Dazu gehört das Verständnis von Unterricht als interpersonales Geschehen, das Lernende geistig und sozial reifen lässt. Dazu gehört auch die persönliche Verantwortung der Lehrperson. Diese muss beim System Bildung wieder mitsprechen können und dazu befähigt werden, Klassen im gemeinschaftlichen Streben zu führen. Das ist, jenseits von abstrakten Vorgaben des Outputs und Controllings, ausschlaggebend.
Die Globalisierung konfrontiert den Westen mit einer Konkurrenz antifreiheitlicher Systeme und Weltanschauungen, etwa aus dem chinesischen oder arabischen Raum. Diesem Druck kann nur ein fester Glaube an die Freiheit standhalten, an die unübertroffenen Vorteile eines Liberalismus, der das Individuum und seine Entwicklung ins Zentrum stellt. Ein solcher Freiheitsglaube ist am Ende nichts anderes als der Glaube an den Menschen selbst. An den Menschen als unersetzbare, einmalige Person mit einem unersetzbaren, einmaligen Potenzial.
Giuseppe Gracia ist Schriftsteller und Kommunikationsberater.