Die Kosten für die Gesundheit steigen, umso dringender wird die Frage nach der Verteilung der Ressourcen. Doch wie sieht ein gerechtes Gesundheitssystem aus? Die Medizinethikerin Tanja Krones skizziert Ideen.
Frau Krones, ist das Gesundheitssystem der Schweiz krank?
Wenn man Krankheit als Störung grundlegender Funktionen eines Organismus versteht, dann ja. Unser Gesundheitssystem zeigt deutliche Symptome.
Woran krankt das Gesundheitswesen aus ethischer Sicht?
Ein gesundes System sollte alle gerecht, zweckmässig und nachhaltig versorgen, doch genau da hapert es. Die steigenden Krankenkassenprämien treffen vor allem Menschen mit niedrigem Einkommen. Also jene, die aufgrund ihrer sozialen Lage ohnehin auf eine bessere Versorgung angewiesen sind. Sie wohnen häufiger als andere in Gebieten mit höherer Lärmbelastung und mehr Feinstaub. Das steigert ihr Risiko für Herzkrankheiten, Demenz und chronische Lungenerkrankungen.
In den letzten zwanzig Jahren verdoppelten sich die Krankenkassenprämien im Durchschnitt. Was sind die Folgen?
Bis vor wenigen Jahren bereitete dies vor allem Menschen mit tieferen Einkommen Sorgen. Heute belasten die steigenden Prämien zunehmend auch die Mittelschicht. Wenn Prämien schneller steigen als Löhne, fragen sich selbst Gutverdienende, wie lange sie noch mithalten können. Viele fürchten, bald nicht mehr alle medizinischen Leistungen bezahlen zu können und auf grundlegende Versorgungsleistungen verzichten zu müssen.
Ab wann ist die Situation als kritisch einzustufen?
Prekär wird es, wenn selbst die Mittelschicht am Küchentisch überlegen muss, ob sie noch den Maximalbetrag in die dritte Säule einzahlen kann. Die steigenden Krankenkassenprämien zwingen viele, auf die freiwillige, aber mittlerweile für die meisten notwendige Ergänzung der Altersvorsorge ganz oder teilweise zu verzichten.
Wo stehen wir in dieser Entwicklung?
Ich betrachte es als Warnsignal, dass immer mehr Haushalte der Mittelschicht in den Bereich rutschen, der sie für Prämienverbilligungen berechtigt.
Warum verzichtet die Mittelschicht trotzdem darauf, Prämienverbilligungen zu beantragen?
Ihr Selbstverständnis spielt eine grosse Rolle. Sie ist es gewohnt, ihr Leben selbst zu meistern und ihr Glück in die eigenen Hände zu nehmen. Hilfe anzunehmen, empfindet sie als unangenehm oder beschämend. Zudem fürchtet sie um ihren sozialen Status und verzichtet deshalb auf Unterstützung, selbst wenn sie diese brauchen würde.
Was tut sie stattdessen?
Menschen der Mittelschicht übernehmen zunehmend die Muster von Menschen mit sehr niedrigem Einkommen: Sie wechseln häufiger zu günstigeren Krankenkassen und wählen eine niedrige monatliche Prämie bei hoher Franchise. Sie setzen darauf, gesund zu bleiben und nicht zum Arzt zu gehen, um höhere monatliche Kosten zu vermeiden. Eine Medizinethik-Kollegin aus Genf, Samia Hurst, erhebt dieses Verhalten jährlich bei Medizinstudentinnen und -studenten, die traditionellerweise eher aus wohlhabenden Familien stammen. Ein Fünftel von ihnen zögert den Arztbesuch hinaus oder kauft keine Medikamente. Sie priorisieren ihre finanziellen Mittel und geben ihr Geld für Bücher und Studiengebühren statt für die Gesundheit aus.
Wohin führt diese Entwicklung gesellschaftlich?
Zu grossen sozialen Unterschieden in der Lebenserwartung. Dies haben Forschende bereits in den 1980er Jahren in Grossbritannien nachgewiesen, das zeigt sich aber auch in der Schweiz. Menschen mit niedrigem Einkommen sind nicht nur häufiger krank, sondern sterben auch früher als Wohlhabende, im Schnitt fünf bis zehn Jahre. Diese Ungleichheit untergräbt die Chancengleichheit und schwächt den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Ist das Gesundheitssystem der Schweiz aus ethischer Sicht gerecht?
Auf der einen Seite gibt es in der Schweiz eine hochwertige medizinische Versorgung mit weiterhin recht kurzen Wartezeiten. Auf der anderen Seite müssen Patienten im internationalen Vergleich tief in die eigene Tasche greifen. Für Wohlhabende ist das kein Problem, andere sehen sich gezwungen zu pokern. Sie folgen dabei der Logik der Ökonomie.
Was bedeutet das konkret?
Sie wetten darauf, dass sie gesund bleiben und durch die weniger einbezahlten Prämien etwas mehr Geld für anderes zur Verfügung haben. Aber wehe, es passiert etwas Unvorhergesehenes. Der britische Hausarzt Julian Tudor-Hart hat dieses Phänomen als «inverse care law» beschrieben. Das bedeutet, dass in einem profitorientierten Gesundheitssystem genau die Menschen am wenigsten bekommen, die eigentlich am meisten brauchen. Die an sich schöne Idee einer liberalen Gesellschaft, in der jede und jeder sein Geld nach eigenem Gutdünken für Prämien und Franchisen einsetzen kann, führt hier bei Menschen mit knappem Einkommen zu gesundheitlicher Ungerechtigkeit.
Besonders hart trifft es Menschen, die ihre Krankenkassenprämie nicht mehr zahlen können und in den Kantonen Thurgau, Aargau, Tessin und Zug auf einer schwarzen Liste landen. Dies bedeutet, dass sie nur noch Anspruch auf Notversorgung haben – ist das ethisch vertretbar?
Im ersten Moment scheint es vielleicht moralisch gerecht, jemanden zu bestrafen, der seine Krankenkassenprämien nicht zahlt. Das erinnert an eine Strafe für einen Unfall wegen Trunkenheit am Steuer, bei dem man für den Schaden büssen muss. Aber ethisch ist das problematisch. Gesundheit ist ein Grundrecht und keine Belohnung für ein korrektes Verhalten. Wer in einem solchen Fall mit Haftpflicht oder Schuld argumentiert, übersieht das Wesentliche: Es geht um Menschen in Not, denen eine Grundversorgung vorenthalten wird. Statt zu bestrafen, sollte man versuchen, die Situation der säumigen Versicherten individuell zu verstehen und sie zu unterstützen, den Zugang zur Gesundheitsversorgung zu sichern.
Wie sollten wir mit Versicherten umgehen, die in Zahlungsverzug geraten?
Viele Leute, die ihre Prämien nicht bezahlen, kämpfen mit psychischen und sozialen Problemen. Sie sind nicht imstande, ihre Finanzen zu regeln. Es ist unethisch, diesen Menschen den Zugang zur Gesundheitsversorgung zu verwehren. Besonders tragisch wird es, wenn Chronischkranke, wie Menschen mit HIV, ihre Medikamente nicht erhalten. Das gefährdet nicht nur ihre Gesundheit, sondern auch die Gesellschaft.
Sind die Säumer «Sozialschmarotzer»?
Nicht zwingend. Selbstverständlich gibt es Menschen, die das System ausnutzen, sowohl im wohlhabenden wie im armen Spektrum der Bevölkerung. Die Nationale Ethikkommission weist darauf hin, dass man unterscheiden muss zwischen Zahlungsunfähigkeit und Zahlungsunwilligkeit. Da es jedoch zum grossen Teil Menschen mit sehr wenig Geld trifft, ist diese Unterscheidung nicht leicht vorzunehmen. Die medizinischen Fachgesellschaften und Ethiker in der Schweiz sind sich einig, dass schwarze Listen nicht tragbar sind.
Warum führt ausgerechnet der reiche Kanton Zug diese Listen weiter?
Das scheint mir politisch motiviert: Die Verwaltung und die politischen Entscheidungsträger glauben wahrscheinlich, dadurch die Krankenkassen zu entlasten. In Wirklichkeit führen die Listen zu mehr Ungerechtigkeit und letztlich auch zu höheren Kosten, da die Menschen dann in einem fortgeschritteneren Stadium der Erkrankung versorgt werden müssen, wo eine Behandlungspflicht besteht.
Wie lassen sich die jährlich steigenden Gesundheitskosten bändigen? Sollten Menschen, die aufgrund ihres Verhaltens mehr Kosten verursachen, höhere Prämien zahlen? Etwa Raucher oder Menschen mit starkem Übergewicht?
Ob Rauchen oder Adipositas: Das Schuldprinzip greift zu kurz. Adipositas ist eine komplexe Krankheit, die nicht nur auf individuelles Verhalten zurückgeht. Genetische, soziale und Umweltfaktoren spielen mit. Menschen aus ärmeren Schichten sind häufiger betroffen. Es wäre falsch, von Selbstverschulden zu sprechen. Wenden wir das Schuldprinzip in der Gesundheitsversorgung an, gefährden wir die Solidarität des Systems. Das hiesse konsequenterweise auch, dass Menschen, die Risikosportarten betreiben oder in Berufen mit Gesundheitsrisiken arbeiten, zur Verantwortung gezogen werden müssten. Etwa ein Manager mit 60-Stunden-Wochen, der einen Herzinfarkt riskiert, ohne dass das als Selbstverschulden gilt. Überlegungen zu einem Malussystem könnten unsere ethischen Werte gefährlich verschieben und die Idee der Solidarität untergraben. Es ist wichtig, Schuldzuweisungen und Stigmatisierungen zu vermeiden. Das Schuldprinzip gehört nicht in eine solidarische Gesundheitsversorgung.
Sie plädieren dadurch wie der Systemtheoretiker Paul Watzlawick auf ein Recht auf Unglücklichsein – auch wenn dies selbstzerstörerisch wirkt?
Man kann das Leben nicht nur nach rationalem Kalkül führen, wie Watzlawick in seiner «Anleitung zum Unglücklichsein» beschreibt. Wer ständig Risiken meidet und nur auf Sicherheit setzt, landet in einer überbehüteten Welt. Eine solche hindert den Einzelnen daran, zu wachsen und sich zu entwickeln. Jeder Mensch ist dazu verpflichtet, Entscheidungen zu treffen, die auch Risiken bergen. Manchmal führt das zu gebrochenen Beinen, gebrochenen Herzen oder anderen Malheurs – sei es, weil man in Gedanken versunken eine Treppenstufe übersah oder weil man mutwillig auf den Ski eine schwarze Piste hinuntersauste. Es ist wichtig, dass uns das Gesundheitssystem unterstützt, wenn wir Hilfe brauchen – selbst bei selbst verursachten Fehlern. Denn jede und jeder kann bei der Verrichtung einer ganz normalen Tätigkeit im Alltag einfach Pech haben. Und ohne eine Versicherung könnten die Kosten für eine Behandlung schnell untragbar werden. Eine Operation im Spital kann leicht mehrere hunderttausend Franken kosten. Ohne Versicherung müssten selbst Wohlhabende im schlimmsten Fall ihr Haus verkaufen, um die Behandlungskosten zu decken. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) spricht man von «catastrophic health expenditures», wenn Menschen gezwungen sind, ihr Hab und Gut zu verkaufen oder sich zu verschulden, um eine medizinische Behandlung zu bezahlen. Das gilt es zu vermeiden. Und es zeigt, wie wichtig eine solidarische Gesundheitsversorgung ist, die für alle zugänglich bleibt – unabhängig davon, wie risikoreich wir leben oder was der Zufall an uns heranträgt.
Wäre ein Bonusmodell gerechter? So wie es gewisse Krankenkassen machen, die 10 000 Schritte pro Tag belohnen?
Pädagogisch ist es sinnvoll, positives Verhalten zu fördern und zu übersteuern, anstatt zu bestrafen. Ethisch gesehen ist das Konzept nicht ohne Tücken. So sind die 10 000 Schritte pro Tag eine symbolische Zahl, die von einer japanischen Firma nach der Olympiade in Tokio 1964 für den Verkauf von Schrittmessern erfunden wurde und wissenschaftlich nicht die beste Messgrösse für präventives Gesundheitsverhalten ist. Und was ist mit denjenigen, die es am meisten brauchen, aber aus sozialen oder ökonomischen Gründen nicht in der Lage sind, den vorgegebenen Zielen zu folgen? Wer sich einen Tag lang in einem Callcenter abmüht, hat vielleicht nicht die Energie fürs Fitnesscenter, sondern zieht sich eher als Belohnung eine Zigarette und einen Döner rein. Und wer formuliert und kontrolliert in einem liberalen Staat die Erfolge? Ein Bonussystem kann gut gemeint sein, es kann aber gerade auch die Menschen benachteiligen, die bereits benachteiligt sind.
Ist eine Beeinflussung durch ein Bonussystem mit der Freiheit einer liberalen Gesellschaft zu vereinbaren?
«Nudging» – also das sanfte Lenken von Entscheidungen – kann ethisch vertretbar sein, wenn es dem Gemeinwohl dient. Beispiele sind die Fluoridierung von Trinkwasser oder die Verteilung von Jodtabletten bei einem atomaren Unfall. Am meisten Menschenleben in den reicheren Ländern gerettet hat womöglich die Gurtpflicht. Wichtig dabei ist: Solche Massnahmen stützen sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse, die das Wohl der Bevölkerung im Durchschnitt verbessern. Doch wie die Pandemie zeigte, stellt sich schnell die berechtigte Frage: Wer darf wie weit in die persönliche Freiheit eingreifen? Wenn Beeinflussungen oder Gesetze die Entscheidungsfreiheit zu stark beschneiden, wird es problematisch.
Die Gesundheitskosten steigen. Doch seit zwanzig Jahren wurden die Franchisen nicht angehoben. Ist die minimale Franchise von 300 Franken zu niedrig?
Die Frage, ob man die Franchisen anheben sollte, ist aus einer ethischen Sicht nicht einfach zu beantworten. Die Antwort hängt stark davon ab, wie das System insgesamt funktioniert. Die Frage ist, ob das Modell, bei dem die Menschen unabhängig von ihrem Einkommen gleich hohe Prämien zahlen, fair ist. Denn derzeit zahlen alle Versicherten theoretisch gleich viel für die Grundversicherung, was bedeutet, dass Menschen mit niedrigerem Einkommen im Verhältnis mehr von ihrem Geld für die Krankenversicherung aufbringen müssen. Das führt zu einer ungerechten Belastung, besonders bei Personen mit geringen Einkünften und für Familien, weil wir in der Schweiz keine Familienversicherung kennen.
Was wäre denn aus ethischer Sicht gerechter?
Ein faireres System würde berücksichtigen, dass die Zahlungsfähigkeit der Menschen unterschiedlich ist. In anderen Ländern gibt es Modelle, bei denen die Krankenversicherung prozentual nach Einkommen bemessen wird oder bei denen die Kosten über Steuern solidarischer verteilt werden. Solche Modelle könnten in der Schweiz helfen, die soziale Ungerechtigkeit zu verringern, die durch das bestehende System entsteht. Wenn immer mehr Versicherte, wie jetzt bei uns, von Prämienverbilligungen profitieren, trägt die Allgemeinheit die Kosten.
Warum betrachten Sie es als ethisch fairer, die Reichen für die Mehrheit zahlen zu lassen?
Wenn wenige für viele aufkommen, entsteht natürlich auch eine Form von Ungleichgewicht. Betrachten Sie deshalb das Gesamtbild und bedenken Sie, dass eine gesellschaftliche Ausgewogenheit und der Reichtum einer Gesellschaft gerade auch in ihrem Frieden liegen. Reiche leben nicht isoliert. Sie gehören zu einer Gemeinschaft, in der sich auch weniger Bemittelte fair behandelt fühlen möchten. Wächst die soziale Ungleichheit zu stark, entstehen Misstrauen und Unruhe. In Südafrika etwa hat die extreme Ungleichheit die Begüterten gezwungen, sich mit Bodyguards und Zäunen abzuschotten. Das widerspricht unserem Freiheits- und Gleichheitsgedanken in der Schweiz, in der alle, auch Wohlhabende, in einer offenen, stabilen Gesellschaft leben wollen.
Zukünftig müssen immer weniger junge Leute für immer mehr alte aufkommen. Braucht es eine Seniorenprämie?
Nein, das wäre ethisch gesehen eine Altersdiskriminierung. Nicht jeder ältere Mensch beansprucht Leistungen des Gesundheitswesens. Sie alle aber haben während ihres Lebens Prämien eingezahlt und profitieren nun von der Solidarität, die im System steckt.
Wie müsste ein gerechtes Gesundheitssystem aus ethischer Sicht aussehen?
Meiner Ansicht nach basiert es auf der Idee, dass eine gerechte Gesellschaft entsteht, wenn soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten so gestaltet sind, dass sie den am wenigsten begünstigten Mitgliedern zugutekommen. Das ist nicht Kommunismus, sondern ein zentraler Bestandteil von John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit. In seinem Gedankenexperiment forderte der liberale Philosoph dazu auf, sich vorzustellen, man müsse die Grundsätze der Gerechtigkeit für eine Gesellschaft festlegen, ohne zu wissen, welche Position man in dieser Gesellschaft einnehme. Man weiss nicht, ob man reich oder arm, gesund oder krank, ein Mann oder eine Frau ist. Mit dieser Unwissenheit soll eine objektive und faire Entscheidung getroffen werden, da niemand weiss, wo er in der Gesellschaft steht. Rawls argumentiert, dass Menschen unter dem «Schleier des Nichtwissens» Prinzipien wählten, die sicherstellten, dass die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft gut behandelt würden. Weil niemand weiss, ob er selbst zu diesen benachteiligten Gruppen gehören wird. Daher würden Grundsätze gewählt, die die Ungleichheit minimierten und soziale Gerechtigkeit förderten.
Was schulden wir uns gesellschaftlich?
Wir haben uns als Gesellschaft auf bestimmte Werte und Rechte geeinigt, die sich über die Jahrhunderte bewährt haben und uns als Kollektiv stark gemacht haben. Besonders nach den konfessionellen Bürgerkriegen oder den beiden Weltkriegen haben wir gemerkt, dass es notwendig ist, Rechte der Menschen zu verbriefen, um eine friedliche und gerechte Gesellschaft zu schaffen. Die formulierten Menschenrechte garantieren seitdem ein Mindestmass an Sicherheit und Wohlstand für alle. Das Recht auf Gesundheit ist dabei ein zentrales Menschenrecht, das die Voraussetzung für das Ausüben aller anderen Rechte schafft. Wenn jemand krank ist, kann er nicht arbeiten und keine anderen Rechte wahrnehmen. Das bedeutet, dass die Möglichkeit, Zugang zu medizinischer Versorgung zu haben, grundlegend ist, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Ohne diese Grundlage fallen auch alle anderen Rechte, wie das Recht auf Bildung oder Freiheit, ins Leere.
Trotz dem Recht auf Gesundheit: Sind unsere Ansprüche an das Gesundheitswesen in der Schweiz mittlerweile zu hoch?
Ja, in gewisser Weise schon. Viele Menschen erwarten wegen der hohen Krankenkassenprämien, dass die Medizin jedes Problem lösen kann, insbesondere die existenziellen. Diese Hoffnung wird durch die gefeierten Durchbrüche in der Forschung, etwa in der Krebsmedizin, weiter genährt. Wir erhoffen uns von «Wundermitteln» eine nahezu unendlich lange Lebensspanne, wenn wir nur genug Geld dafür einsetzen.
Was ist der Ausweg?
Damit Patientinnen und Patienten eine fundierte Entscheidung treffen können, müssen wir sie im Sinne von «health literacy» besser über die realen Effekte möglicher Behandlungen informieren. Insbesondere am Lebensende, um ein würdiges Sterben zu ermöglichen. Und weil die letzten Wochen vor dem Tod gesundheitsökonomisch die teuersten sind.
Was bedeutet das konkret?
Schwerkranken Menschen muss man erklären, dass neue medikamentöse Behandlungen ihr Leben verlängern, ihre Lebensqualität aber senken können. Oder dass der Versuch, jemanden bei einem plötzlichen Herz-Kreislauf-Stillstand wiederzubeleben, in den allermeisten Fällen nicht erfolgreich ist. Lebensverlängernde Massnahmen führen oft dazu, dass man nicht zu Hause bei seinen Liebsten sterben kann, sondern auf einer Intensivstation. Was die wenigsten wollen.
Sie fordern, in Palliative Care zu investieren anstatt in teure Lebensverlängerungen. Belastet dies das Gesundheitswesen nicht noch stärker?
Nicht zwingend. Die Australier haben ein vorbildliches Modell für die Versorgung von schwerkranken Menschen zu Hause entwickelt. Mit der Philosophie «Palliative care follows the patient» vermeiden sie unnötige Krankenhausaufenthalte, was die Lebensqualität steigert und die Kosten am Lebensende senkt.
Welche Vorteile bringt die palliative häusliche Versorgung im Vergleich zur Intensivbehandlung im Krankenhaus?
Sie hat zahlreiche Vorteile: Sie ermöglicht den Patientinnen und Patienten, in ihrer gewohnten Umgebung zu bleiben, was bei vielen zu einem grösseren Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit führt. Patienten erhalten die notwendige medizinische Unterstützung, wie Infusionen oder Schmerztherapie, kostengünstiger zu Hause. Die neusten Medikamente und neue operative Verfahren sind nicht immer die besten, aber meistens die kostspieligsten.
Weshalb werden Menschen am Lebensende nicht besser über ihre Möglichkeiten informiert?
Die qualifizierten Gespräche werden nicht ausreichend refinanziert. Ich sage es offen: Unser Gesundheitswesen leidet darunter, dass exzellente «sprechende Medizin» – also die individuelle und tiefgehende Kommunikation zwischen Ärztin und Patient – oft nicht die Anerkennung und die finanzielle Unterstützung bekommt, die sie verdient. In einer patientenzentrierten Medizin sollten Ärzte nicht ständig daran denken müssen, dass sie die Gesprächszeit nicht abrechnen können. Gerade gut informierte Patienten entscheiden sich oft für weniger teure Behandlungen, was eine Win-win-Situation schafft: Es kommt den Patienten zugute und senkt die Behandlungskosten.
Wieso wird die «sprechende Medizin» nicht ausreichend finanziert?
Es gibt mehrere Gründe. Erstens wird Kommunikation unterschätzt und oft als etwas betrachtet, was man einfach kann, wie etwa Sex, ohne es speziell lernen zu müssen. Früher wurde im Medizinstudium kaum Wert auf Gesprächsführung gelegt, und auch heute ist es schwierig, den Wert solcher Gespräche zu quantifizieren und zu bezahlen. Die Vorstellung, dass ein Gespräch weniger wert ist als ein medizinischer Eingriff, hält sich hartnäckig. Zweitens fehlen klare Qualitätsstandards. Kein Arzt kann heute in der Schweiz ein Zertifikat für seine erlernte Kommunikationsfähigkeit an die Praxiswand hängen, wohl aber: «Ich kann Ultraschall.»
Gibt es Länder, von denen wir bezüglich gesprochener Medizin etwas lernen können?
Ja, in Kanada oder Norwegen werden Ärztinnen und Ärzte sowie spezialisierte Pflegende in Gesprächskompetenzen geschult, die auch finanziell abgerechnet werden können. Es gibt aber noch einen dritten Punkt, weshalb das Interesse an qualifizierten Gesprächen gering ist: Die Lobby der Pharmaindustrie nimmt einen starken Einfluss darauf, was bezahlt wird und was nicht. Teure, selbst wenig effektive Medikamente und Medizinprodukte erhalten grosse Unterstützung. Kostengünstigere Therapien wie spezielle physio- und psychotherapeutische Massnahmen kommen oft zu kurz. Man könnte beispielsweise einen Menschen mit einer Winterdepression für einen Bruchteil des Geldes eines teuren Medikaments jedes Jahr in ein Fünfsternehotel in die Karibik schicken. Der Nutzen wäre möglicherweise ein ähnlicher.
Stichwort hohe Medikamentenpreise: Ein teures Medikament wie die einmalige Gentherapie Zolgensma für Babys mit spinaler Muskelatrophie kostet 2,1 Millionen Franken. Ist ein solch hoher Preis für einzelne Menschen in einem solidarischen System gerechtfertigt?
Der Preis von Zolgensma wird durch das Versprechen des Gewinns vieler Lebensjahre in guter Lebensqualität und die langfristigen Einsparungen von Gesundheitskosten gerechtfertigt. Die Therapie kann das Leben eines Kindes retten, das sonst schwer eingeschränkt wäre und lebenslang intensive medizinische Betreuung brauchte. Das Problem ist, dass bei solchen Medikamenten die Langzeitdaten fehlen, die den versprochenen Nutzen belegen. Ohne diese Evidenz bleibt der hohe Preis auch bei Zolgensma umstritten. Dies ist bei sehr vielen der sogenannten Orphan-Drugs, der Medikamente für seltene Erkrankungen, der Fall. Der Preis ist zu hoch – absolut und auch in Bezug auf den wissenschaftlich erwiesenen Nutzen.
Wie erklärt man Eltern, dass ihr Kind vielleicht nicht überlebt, weil «die Gesellschaft» ein Medikament nicht bezahlt?
Diese Situation ist im wahrsten Sinne des griechischen Dramas tragisch. Eltern, Ärzte, Betreuungsteams: Wir alle wollen verständlicherweise alles tun, um das Kind zu retten oder ihm ein besseres Leben zu ermöglichen. Dies gilt aber nicht nur für ein Kind, das an einer seltenen Erkrankung leidet, sondern auch für die Kinder, die gesundheitliche Probleme haben, bei denen keine medikamentösen Massnahmen vorhanden sind. Die Pharmaindustrie nutzt dieses Argument daher in unredlicher Weise aus. Aus ethischer Sicht sollten für alle Menschen wirksame Massnahmen, welche die Lebensqualität und die Lebenszeit verlängern können, zur Verfügung stehen, und dies nicht nur dann, wenn es sich um Medikamente oder Medizinprodukte handelt. So ist zum Beispiel die Physio- und Atemtherapie bei Kindern mit zystischer Fibrose extrem wichtig. Doch diese ausreichend sicherzustellen, ist, wie alles Personalintensive im Gesundheitswesen, schwierig.
Der Novartis-Chef Vas Narasimhan argumentiert, dass Gentherapien wie Zolgensma einen medizinischen Durchbruch darstellten, da sie mit einmaliger Anwendung Hoffnung auf Heilung böten. Sollte der Staat hier eingreifen und eine Obergrenze für Therapiekosten setzen?
Das tut der Staat in gewisser Weise bereits in den Verhandlungen mit der pharmazeutischen Industrie, die aber auf deren Verlangen hin nicht transparent sind.
Novartis erzielte im Jahr 2023 einen Reingewinn von 8,6 Milliarden Franken – sind so hohe Gewinne mitverantwortlich für die hohen Medikamentenpreise?
Man muss es leider sagen: Sehr viele Pharmaunternehmen, deren Arbeit gesellschaftlich sehr wichtig ist, nehmen ihre Verantwortung nicht wahr. Sie maximieren ihre Profite, die sie auch aus dem Solidarsystem beziehen, statt sie zu optimieren. Sie profitieren auch häufig von der steuerfinanzierten Grundlagenforschung in ihrer Medikamentenentwicklung.
Was ist ein Menschenleben in unserem Gesundheitssystem wert?
Der Preis eines Menschenlebens lässt sich nicht in Zahlen fassen. Und genau deshalb berührt diese Frage ein ethisches Dilemma: Niemand will einem Menschen die Chance auf Heilung verwehren, besonders wenn das Leben auf dem Spiel steht. Doch auf der anderen Seite stellt sich die Frage, wie viele Ressourcen wir für eine einzelne Therapie ausgeben können, ohne dass andere Patienten darunter leiden. Ein Preis für eine Behandlung muss daher nicht nur ethisch für den Einzelnen, sondern auch wirtschaftlich im Sinne der Versorgung aller vertretbar sein. Wenn die Langzeitdaten und die tatsächliche Wirksamkeit unsicher sind, kann es sein, dass der Preis im Verhältnis zum Nutzen zu hoch ist. Besonders, wenn das Geld nicht gerecht auf alle verteilt werden kann.
Schliessen sich Ethik und Ökonomie im Gesundheitsbereich aus?
Nein, im Gegenteil. Es wäre naiv, wirtschaftliche Aspekte zu ignorieren. Entscheidend ist, wie ein öffentlich-solidarisch finanziertes System eine gerechte Verteilung sicherstellt. Dabei muss gewährleistet sein, dass nicht nur wenige von hohen Leistungen profitieren, sondern der Bedarf möglichst vieler Menschen gedeckt wird.
Ärzte verschreiben Therapien, verdienen aber auch an ihnen. Besteht nicht die Gefahr, dass sie sich finanziell eigennützig entscheiden?
Ärzte sind in erster Linie Kümmerer, die auf der Basis ihres Berufsethos ihren Patienten helfen wollen. Aber tatsächlich haben sie eine Doppelrolle. Sie tragen die Verantwortung, sowohl im Interesse ihrer Patienten zu handeln, als auch die wirtschaftlichen Vorgaben des Gesundheitssystems und des eigenen Betriebs zu berücksichtigen. Dies kann zu Konflikten führen. Umso wichtiger ist es, über diese Mechanismen ehrlich zu sprechen, sich bewusst zu machen, dass auch in der Schweiz die Ressourcen endlich sind, und gemeinsam über diese schwierigen Abwägungen nachzudenken.
Können wir Spitzenmedizin und eine flächendeckende Grundversorgung für alle gleichzeitig finanzieren?
Ja, das ist möglich. Entscheidend ist, dass Spitzenmedizin nicht nur teure Eingriffe und technische Lösungen umfasst, sondern auch exzellente interdisziplinäre Zusammenarbeit und kluge Entscheidungen. Gleichzeitig muss die Grundversorgung, besonders in der hausärztlichen und der interprofessionellen Betreuung, gestärkt werden, um die Bevölkerung effektiv und nachhaltig gesund zu halten.
Wird das Potenzial der interdisziplinären Zusammenarbeit in der Schweiz schon ausgeschöpft?
Die Zusammenarbeit sollte gestärkt werden, zumal sie bessere Behandlungsergebnisse ermöglicht. Wenn verschiedene Fachrichtungen kooperieren, treffen sie die besten Entscheidungen und berücksichtigen individuelle Patientenbedürfnisse besser. Viele Kliniken in Dänemark und Norwegen, das Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Deutschland und die Mayo-Klinik in den USA haben Vorbildwirkung. Sie zeigen, wie enge Zusammenarbeit und gemeinsame Entscheidungen, ein interprofessionelles «shared decision making», zu patientenzentrierter Versorgung führen, die effektiv, sicherer und kostengünstiger ist. Dort erhält jeder Patient die Chance eines Coachings vor und während der gesamten Therapie, um evidenzbasierte Entscheidungen zu ermöglichen. Der starke Einbezug der Patienten wird auch von den Ärzten und Behandlungsteams als zufriedenstellender empfunden, die Arbeit als erfüllter.
Wo sehen Sie in der Schweiz Überversorgungen?
Überversorgungen treten auf bei einigen präventiven Screening- oder bildgebenden Verfahren und auch bei der Verschreibung von Medikamenten wie Antibiotika, Eisen oder Blutverdünnern. In der Schweiz werden zudem zu oft unnötige orthopädische Operationen durchgeführt.
Welche Massnahmen könnten die Überversorgung in der Schweiz verringern?
Es gäbe viele. Eine der wichtigsten besteht darin, den Leistungskatalog klarer und transparenter zu gestalten.
Wo zeigt das Gesundheitssystem eine Unterversorgung?
Bei chronisch und komplex kranken Menschen. Dazu zählen schwer psychisch kranke Menschen und Menschen mit Behinderungen. Zudem kommen Präventionsmassnahmen und Massnahmen für die reproduktive Gesundheit zu kurz. Die Antibabypille für die Frau ist teuer, die Pille für den Mann immer noch nicht in der Versorgung. Ein weiteres Problemfeld ist die Zahnmedizin, was andere Länder besser lösen.
Der Staat muss unter anderem auch die Sicherheit, die Bildung und die Altersvorsorge sicherstellen. Wie gross darf der Anteil für die Gesundheit sein?
Der Anteil für das Gesundheitswesen darf nicht unbegrenzt wachsen, da er mit anderen wichtigen Aufgaben konkurriert. Eine stetige Erhöhung der Gesundheitsausgaben kann langfristig die Mittel für Bildung und andere gesellschaftliche Bedürfnisse schmälern. Das wiederum beeinträchtigt die Gesundheit der Bevölkerung. Wir müssen uns daher immer wieder mit Zielkonflikten auseinandersetzen und den Gesundheitssektor nicht unbedacht ausweiten, ohne die Folgen für andere Bereiche zu bedenken.
Wie können diese Konflikte zwischen Gesundheit, Bildung und Sicherheit besser ausbalanciert werden?
Eine verstärkte Gesundheitsbildung könnte langfristig die Kosten senken, da eine informierte Bevölkerung weniger krank wird.
Wie können ethische Grundsätze gewahrt werden, wenn das Gesundheitsbudget gekürzt werden muss?
Wir können von Ländern wie Costa Rica lernen, die trotz begrenzten Mitteln eine exzellente Gesundheitsversorgung und eine hohe Lebenserwartung bieten – mit niedrigen einkommensabhängigen Prämien und hundertprozentiger Deckung. Costa Rica konzentriert sich unter anderem auf weniger und essenzielle Medikamente und grundlegende Gesundheitsleistungen, die einen hohen Nutzen bringen. Die WHO hat eine Liste solcher Medikamente erstellt, die als unentbehrlich gelten, um eine grundlegende Gesundheitsversorgung sicherzustellen. Diese ist effizient und kostengünstig.
Wo müssen Prioritäten gesetzt werden, wenn das heutige Budget verschlankt wird?
Bei begrenztem Budget müssen wir klare Prioritäten setzen, um die Mittel dort einzusetzen, wo sie den grössten Nutzen bringen. Neben Costa Rica hat auch Schweden als ein reiches europäisches Land ein wissenschaftlich fundiertes System zur Priorisierung von Gesundheitsleistungen entwickelt. Weniger wirksame oder teurere Behandlungen, die weniger Nutzen bringen, können in finanziellen Engpässen zurückgestellt werden.
Wie schafft man Akzeptanz für Veränderungen im Gesundheitssystem, ohne das Vertrauen zu verlieren?
Akzeptanz schaffen wir, indem wir unser Menschenbild hinterfragen. Wir sollten nicht annehmen, dass alle Menschen egoistisch sind. Stattdessen sollten wir fragen: Was wünschen wir uns für uns selbst, für unsere Familien und für die kommenden Generationen? Wenn wir uns als Teil einer grösseren Gemeinschaft sehen, in der wir Verantwortung füreinander übernehmen, wird es leichter, Reformen zu akzeptieren. Wir müssen uns als Gesellschaft daran erinnern, dass wir nicht nur für uns selbst, sondern auch für andere da sind, stärker auf den tatsächlichen Bedarf des Einzelnen achten und uns besser um die besonders vulnerablen Gruppen kümmern.
Wie kann dieses Verständnis verankert werden?
Akzeptanz entsteht durch Bildung, insbesondere durch gezielte Gesundheitsbildung. In Ländern wie Neuseeland gibt es «life and death education» in Schulen. Hier lernen Kinder nicht nur Mathematik, sondern auch das Verständnis von Risiken, Gesundheit und wichtigen Lebensentscheidungen. Wenn jemand versteht, was «absolutes Risiko» oder ein «falsch positiver Befund» bedeutet, kann sie oder er besser informierte Entscheidungen treffen.
Wird das Schweizer Gesundheitssystem genesen?
Ich bin optimistisch und glaube daran, dass wir als Gesellschaft erkennen, dass wir als Spezies Mensch nur dank unserer Fähigkeit zu Kooperation zu so viel Lebensglück und Lebensqualität gekommen sind.