Thomas Bruhin, Portfoliomanager bei der Zürcher Kantonalbank, sieht einen Balanceakt zwischen Zinssenkungsfantasien und der Konjunkturentwicklung auf die Börse zukommen. Im Interview sagt er, wie er sich mit dieser Perspektive positioniert und in welchen Schweizer Titeln er Widerstandskraft und Chancen erkennt.
«Angesichts unsicherer Märkte gibt mitunter das Potenzial zur Selbsthilfe von Unternehmen den Ausschlag für den Kaufentscheid.» Das sagt Thomas Bruhin, Portfoliomanager bei der Zürcher Kantonalbank.
Im Einklang mit vielen Marktteilnehmern erwartet zwar auch er weitere Zinssenkungen. Doch gleichzeitig gibt er zu bedenken, dass sie ja aus einem Grund vorgenommen werden: Die Wirtschaft schwächelt. In diesem Umfeld positioniert sich der Fondsmanager defensiv, setzt auf Schweizer Qualitätstitel und räumt dem Gesundheitsbereich viel Platz ein.
Warum er auf Lonza setzt, Roche der Konkurrentin Novartis vorzieht und im Finanzbereich schwergewichtig Versicherer im Portfolio hat, erklärt er im Interview. Angetan haben es ihm ausserdem Unternehmen, die das Potenzial haben, die Margen unabhängig vom wirtschaftlichen Umfeld durch interne Verbesserungsmassnahmen zu verteidigen. Diese Konstellation sieht er bei Sandoz und Sika.
Herr Bruhin, am Mittwoch hat die US-Notenbank Fed den Leitzins um gleich 50 Basispunkte gesenkt. Was bedeutet das für die Märkte?
Das Fed hat geliefert. Bis zum Jahresende erwartet der Markt noch drei weitere Zinsschritte um je 25 Basispunkte und acht über die nächsten zwölf Monate. Das stützt die Bewertung. Sollte dieses Szenario eintreffen, wäre das aber ein klares Zeichen für eine lahmende Wirtschaft. An den Aktienmärkten zeichnet sich damit in den nächsten Monaten ein Balanceakt ab zwischen Zinssenkungsfantasien einerseits und der Konjunkturentwicklung andererseits.
Der September zeigte bereits eine Rotation an den Börsen: Tech-Werte, die bisherigen Überflieger, schwächelten, und defensive Segmente rückten vor. Wie positionieren Sie sich?
Ich bleibe defensiv aufgestellt. Zu den defensiven Werten zählen in der Schweiz der Gesundheitsbereich und insbesondere Vertreter der Nahrungsmittelindustrie. Die ärmere Bevölkerungsschicht muss nach der Inflation der letzten Jahre aber sparen und weicht auf günstige Produkte aus. Die klassisch defensive Ausrichtung des Nahrungsmittelbereichs funktioniert in dieser Konstellation nicht. Positionen in Nestlé, Givaudan, Lindt & Sprüngli oder Barry Callebaut habe ich deshalb bereits früh im Jahr reduziert. In diesem Zusammenhang habe ich jüngst auch die konsumsensitiven Aktien von Richemont abgebaut. Die Nachfrage aus China zeigt keinerlei Wiederbelebung, und wenn die Konjunktur auch in den westlichen Märkten nachlässt, dürfte das bis ins Luxussegment hinein Spuren hinterlassen.
Nestlé ist dennoch Ihre grösste Position im Fonds. Trotz einem leichten Abbau haben Sie die Westschweizer nicht aufgegeben?
Nestlé ist mit Tierfutter, Kaffee und allgemein Nutrition in attraktiven Segmenten präsent. Technische Produktionsprobleme haben das Unternehmen letztes Jahr zurückgeworfen. Doch es ist nun wieder daran, gute Regalpositionen in den Verkaufsläden zurückzuerkämpfen. Die langfristige Perspektive stimmt, zumal der Konzern auch unter dem neuen CEO Laurent Freixe weiterhin am Portfolio arbeiten wird – tendenziell aber wohl mehr verkaufen als neu zukaufen wird. Kurzfristig sind zwar kaum grosse Impulse zu erwarten, und über eine Reduktion der Guidance wird spekuliert. Doch auf dem nun gedrückten Bewertungsniveau blicke ich zuversichtlich in die Zukunft – auch wenn ich nicht davon ausgehe, dass Nestlé bereits im kommenden Jahr zurück zu 4 bis 6% Wachstum finden wird.
Unabhängig von den Zinsen und der Konjunktur: Welche Trends prägen die Börse derzeit?
Ein Schlagwort ist sicher künstliche Intelligenz, KI. Das Thema bewegt global und prägt auch die Erwartungen an die Schweizer Halbleiterwerte. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie KI Prozesse oder Produkte ausserhalb der Tech-Industrie beeinflusst.
Wie lautet Ihre Antwort?
Derzeit sieht man noch wenige praktische Anwendungen. Eine Ausnahme bildet Sonova, die den Chip des Topmodells ihrer jüngst neu angekündigten Modellreihe von Hörgeräten mit KI trainiert hat. Das soll das Hörverständnis in unterschiedlichsten Situationen verbessern. Weitere Anwendungsmöglichkeiten von KI evaluieren Unternehmen bei internen Prozessen, was Qualitäts- und Effizienzsteigerungen verspricht.
Verspricht es auch höhere Margen?
Diesbezüglich bin ich wenig optimistisch. Grundsätzlich muss jede Industrie KI-Lösungen implementieren. Einen Wettbewerbsvorsprung daraus erwarte ich nicht, sondern betrachte das umgekehrt: Wer künftig nicht bereit ist, KI einzusetzen, dürfte punkto Effizienz in Nöte geraten.
Sehen Sie weitere Trends?
Automatisierung. Anfänglich war das Thema getrieben durch den Fachkräftemangel, jetzt geht es zusätzlich darum, die Lohninflation durch Automatisierung zu parieren. Dazu kommt die Rückverlagerung von Produktionsstätten aus Asien in näher gelegene Länder, womit neue Fabriken mit effizienten Anlagen gebaut werden. Dies gilt ausgeprägt für den Bereich Healthcare, nun, da die USA mit dem Biosecure Act eine Loslösung von China bei der Produktion von medizinischen Wirkstoffen anstreben.
Welche Schweizer Unternehmen profitieren von diesen Trends?
Mehreren Unternehmen geben diese Treiber Rückenwind, beispielsweise den Auftragsfertigern Lonza und Bachem oder dem Laborausrüster Tecan. Grundsätzlich müsste auch Komax von der Automatisierung profitieren. Die Aktien des Herstellers von Kabelbäumen habe ich jedoch verkauft. Dies, weil die wachsende Dominanz der Chinesen im Automobilmarkt zu einem strukturellen Bruch führt, der sich negativ auf die westlichen Hersteller auswirkt und damit auf die Kunden von Komax.
Lonza zählt zu Ihren grössten Übergewichten. Wie nutzt sie diese Trends?
Im vergangenen Jahr und gemessen am Börsenkurs leider gar nicht. Das lag jedoch primär an einer gleich mehrfach missglückten Kommunikation des Unternehmens, beispielsweise beim abrupten Abgang von CEO Pierre-Alain Ruffieux. Längerfristig bin ich von den Chancen von Lonza überzeugt.
Was stimmt Sie zuversichtlich?
Das strukturelle Wachstum ist intakt. Es braucht immer mehr medizinische Wirkstoffe, und die Pharmagesellschaften lagern deren Herstellung zunehmend an Zulieferer aus. Gerade biologisch hergestellte Medikamente, bei denen Lonza eine starke Position hat, wachsen jährlich im zweistelligen Prozentbereich. Von Roche hat Lonza zudem ein komplettes Werk in den USA übernommen. Damit kann sie nach einer kurzen Umstellungszeit neue Kapazitäten vorhalten und die bestehende Nachfrage bedienen, statt zeitintensiv erst neue Anlagen planen zu müssen.
Auftragsfertiger investieren derzeit bis zu ein Viertel des Umsatzes in den Kapazitätsausbau. Ist es trotz dieser Gewinnbelastung ratsam, die Aktien bereits jetzt zu halten?
Der Gewinn leidet unter den Investitionen sowie den Kosten für die Neueinstellung von Personal, das geschult werden muss, noch bevor mit den neuen Anlagen Umsatz erzielt wird. Mit ihrer Inbetriebnahme und einer steigenden Auslastung eröffnet das jedoch künftig grosses Gewinnwachstumspotenzial. Für Auftragsfertiger gilt: Ein investierter Franken wird künftig jährlich wiederkehrend einen Franken zusätzlichen Umsatz ermöglichen. Der Höhepunkt des Investitionszyklus dürfte bei Lonza inzwischen erreicht sein und der freie Cashflow zugunsten der Aktionäre wieder wachsen.
Bleiben wir im Gesundheitsbereich. Roche ist Ihre zweitgrösste Position, Novartis die drittgrösste. Auffallend ist jedoch: Sie räumen Roche in Ihrem Fonds noch mehr Platz ein, als das Schwergewicht im Index ohnehin hat, Novartis hingegen ist Ihr stärkstes Untergewicht. Wieso diese Zweiteilung?
Der Markt hat immer seine Lieblinge, auch bei den Pharmaunternehmen. Doch irgendwann kippt das. Ein solcher Favoritenwechsel könnte demnächst kommen. Novartis hat in den letzten Jahren sehr geschickt agiert und operativ die Marge bereits nahe an das Mittelfristziel von 40% gehoben. Doch in den kommenden Jahren laufen viele Patente aus. Trotz Wachstumstreibern wie Kisqali zur Behandlung von Brustkrebs und Pluvicto gegen Prostatakrebs belastet ein solcher Ablauf von Patenten.
Was spricht für Roche?
Wegen mehrerer Studienfehlschläge ist die Pipeline von Roche jetzt geschwächt. Da derzeit weniger erfolgreiche Medikamente aus ihrem riesigen Forschungsmotor herauskommen, leidet der Kurs – vielleicht aber übertrieben stark. Wenn in den nächsten Quartalen wieder gute Neuigkeiten kommen sollten, und davon gehe ich aus, dürfte das Pendel rasch in die andere Richtung schwingen.
Hoffnungen – und dann Enttäuschungen – in Bezug auf zwei Fettleibigkeitskandidaten von Roche haben das jüngst vorgemacht, aber eben: in beide Richtungen.
Das ist Ausdruck davon, wie unschlüssig die Börse derzeit agiert. Faktisch ging es um Wirkstoffe, die lediglich in einer ersten Phase an wenigen Menschen getestet wurden. Bewegt hat das den Börsenwert von Roche aber gleich um mehrere Milliarden, erst nach oben, dann wieder nach unten. Das steht in keinem vernünftigen Verhältnis zum gesamten Potenzial von Roche. Sie wird auch künftig wieder erfolgreich neue Medikamente hervorbringen.
Neu aufgebaut haben Sie eine Position in der Novartis-Abspaltung Sandoz. Was macht die Investition in den Generikahersteller attraktiv?
Wie oft bei Abspaltungen gerieten die neu kotierten Titel von Sandoz anfänglich unter Druck. Als ich Vertrauen gewonnen hatte, dass ihre Biosimilars das Potenzial haben, ihr trotz Preisdruck bei konventionellen Generika zu Umsatzwachstum zu verhelfen, habe ich die Position neu aufgebaut.
Was hat den Ausschlag gegeben?
In den USA hat Sandoz mit ihrem Biosimilar des Originalmedikaments Humira von AbbVie eine sehr starke Vertriebsposition aufgebaut: Einerseits vermarktet Sandoz das Medikament unter dem eigenen Namen. Zudem ist sie eine Vertriebspartnerschaft mit CVS, einer der grössten US-Apothekenketten, eingegangen. Diese vertreibt nun nur noch das von Sandoz hergestellte Biosimilar und hat das Originalpräparat Humira, das in der Spitze allein in den USA einen Jahresumsatz von gegen 10 Mrd. $ erreicht hatte, aus dem Verkauf genommen. Das war ein erster Beweis, dass die Biosimilar-Strategie von Sandoz erfolgreich sein kann.
Bringt die Eigenständigkeit grundsätzlich Vorteile?
Sandoz hat Potenzial für operative Verbesserungen, das das Management nun unabhängig von der ehemaligen Mutter ausschöpfen kann. Sein Ziel ist es, die Marge von 18 auf rund 25% zu heben. Dazu will es die Organisation straffen sowie die Lieferketten optimieren, um bessere Einkaufskonditionen zu erreichen. Die anvisierte Margenverbesserung liegt damit in den eigenen Händen und nicht in der Hoffnung auf gnädige Märkte – auch wenn sich derzeit abzeichnet, dass sich der Verfall der Generikapreise verlangsamt, was zusätzlich positiv wäre.
Wechseln wir zur Finanzbranche. Hier fällt auf: Zurich Insurance ist Ihr grösstes Übergewicht, auch in Swiss Life sind Sie verhältnismässig stark engagiert. Swiss Re hingegen ist deutlich untergewichtet. Wie kommt das?
Das Preisumfeld mit steigenden Prämien spricht derzeit grundsätzlich für Versicherer. In Zurich sehe ich aber das stabilere Geschäftsmodell als beim Rückversicherer Swiss Re. Seine Aktien geraten wegen grosser Schadensummen aus Naturkatastrophen immer wieder unter Druck. Im Finanzbereich gewichte ich aber insgesamt die Versicherer höher als die Banken.
Wieso?
Die Abhängigkeit der Versicherer von den Finanzmärkten ist geringer als beispielsweise bei UBS oder Julius Bär. Das mitunter, weil die Versicherer ihre Bilanzen aufgeräumt haben und in den vergangenen Jahren kaum mehr Anfälligkeiten zeigten, wenn im Finanzmarkt Spannungen aufkamen. Zudem sprechen für Versicherer ihre gute Rendite auf dem Eigenkapital sowie eine Kapitalausstattung, die weit über das regulatorisch Geforderte hinausreicht. Damit alimentieren sie attraktive und nahezu jährlich steigende Dividenden. Das verleiht ihren Kursen einen gewissen Schutz nach unten.
Eine weitere Paarung gibt es im Baubereich. Sika haben Sie dieses Jahr zu einer Top-Ten-Position aufgebaut. Holcim bleibt hingegen untergewichtet. Warum?
Holcim läuft es sehr gut – sowohl operativ als auch dank der Perspektive, das US-Geschäft abzuspalten. Um die in diesem Zug steigende Bewertung mitzunehmen, habe ich jüngst mein Untergewicht etwas reduziert. Doch den attraktivsten Teil – das Nordamerikageschäft – muss ich als Schweizer Fonds verkaufen, sobald es separat in den USA kotiert wird.
Was spricht für Sika?
Die Bauindustrie harzt derzeit generell. In Geberit und Schindler bin ich deshalb ebenfalls untergewichtet – obwohl beides sehr gute Unternehmen sind. Sika zeichnet aber aus, dass hier weiterhin Synergien aus der milliardenschweren Akquisition von MBCC gehoben werden können. Das hilft, die Marge zu verteidigen oder sie gar auszubauen. Angesichts unsicherer Märkte hat wie schon bei Sandoz auch bei Sika das Potenzial zur Selbsthilfe mit den Ausschlag für den Kaufentscheid gegeben.
Neu aufgebaut haben Sie zudem VAT. Wieso gerade jetzt – oder erst jetzt?
Der Halbleiterzulieferer ist dank seiner Marktführerschaft ein unbestrittener Qualitätswert. Doch er war mir einfach immer zu teuer. Als die Börsen Anfang August dann einen Rückschlag erlitten, sind die Aktien von VAT um 20% eingebrochen. Diese Korrektur habe ich zum Einstieg genutzt.
Neu ist auch Ihre Position im Flughafen Zürich. Wieso haben Sie hier zugegriffen?
Die Aktien des Flughafens Zürich sind mein jüngster Zukauf. Die Halbjahreszahlen waren unter den Erwartungen ausgefallen. Die Kosten zur Bewältigung des wachsenden Flugverkehrs waren viel stärker gestiegen als von den Analysten prognostiziert. Das führte zu einem Kursrückschlag – und für mich zur Gelegenheit einzusteigen.
Mit welcher Perspektive?
Ich gehe davon aus, dass sich die Balance zwischen Kosten und Einnahmen normalisieren wird und die Passagierzahlen bereits dieses Jahr das Niveau von vor der Pandemie erreichen. Der nun vollzogene Personalaufbau ist Folge dieser höheren Auslastung und der Wiederaufnahme von Wachstumsprojekten. Das interpretiere ich als Ausdruck der Zuversicht des Managements.
Zu den Personalkosten gesellen sich aber auch hohe Kapitalausgaben. Was erwarten Sie diesbezüglich?
Der Flughafen investiert derzeit stark – primär in die Fertigstellung des indischen Tochterflughafens Noida. Nächstes Jahr sollte er in Betrieb gehen, womit die Kapitalausgaben sinken und im Gegenzug der freie Cashflow wieder deutlich steigen wird. Das schafft Raum, die Dividende über die nächsten Jahre kontinuierlich zu steigern – über die Zeit vielleicht gar auf ein so attraktives Niveau wie vor der Pandemie, als 70 bis 80% des Gewinns an die Aktionäre ausgeschüttet wurden.
Zur Person
Thomas Bruhin ist seit 2002 Portfoliomanager im Asset Management der Zürcher Kantonalbank. Seit 2008 ist er u.a. verantwortlich für den Swisscanto (CH) Equity Fund Switzerland. Zusätzlich deckt er teamintern als Analyst schwerpunktmässig Unternehmen aus den Sektoren Konsum und Gesundheit ab. Vor seinem Engagement bei der Zürcher Kantonalbank arbeitete der heute 54-Jährige während vier Jahren als Portfoliomanager für UBS Asset Management und schloss dabei 2000 die Ausbildung zum Certified EFFAS Financial Analyst (CEFA) ab. Ausserdem absolvierte er ein Betriebswirtschaftsstudium an der HWV Luzern.