Im Herbst sollen die Hecken der Zürcher Grünanlage verschwinden. Obwohl dort viele Spatzen leben. Ein Merkblatt der Verwaltung zeigt: Die Stadt würde damit ihre eigenen Empfehlungen zugunsten der bedrängten Vögel missachten.
Ob Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) froh wäre, dass das Gepiepse der Spatzen auf der nach ihm benannten Wiese in Zürich bald vorbei ist? «Piep, piep, piep!» Den lieben langen Tag. Das kann einem ganz schön auf die Nerven gehen – zumal wenn man sich wie die Statue Pestalozzis und jene des Knaben neben ihr nicht von der Stelle rühren kann.
Oder ob sich der Volksbildner vielmehr ärgern würde über das Bauvorhaben des Tiefbauamts, das der dichten Hecke um den Sockel seines Bronze-Denkmals herum an den Kragen will – und somit den hier lebenden Spatzen ihr Zuhause wegzunehmen droht?
Der Buchsbaum bei der Statue ist schön dicht. Der Busch bietet ein perfektes Versteck für Spatzen. «Piep, piep, piep!» Die Vögelchen haben offenbar Freude an ihrem Daheim im Grünen mitten in der Stadt – zumal bei essenden Passanten immer wieder etwas zu Boden fällt und man sich so immer wieder bedienen und schnell wieder verschwinden kann in der Hecke, wie ein Augenschein am Freitagabend zeigt.
Spatzen sind Kulturfolger: Sie haben sich dem Menschen angepasst. Eigentlich profitieren sie von seiner Anwesenheit.
Weniger Insekten, weniger Nistplätze – weniger Spatzen
Aber eben: Mit dem fröhlichen Tschilpen auf der Pestalozziwiese dürfte es im September vorbei sein. Dann tritt das Bauprojekt in die entscheidende Phase, das dem Pärklein an der Bahnhofstrasse ein neues, «naturnahes» Erscheinungsbild verleihen soll: mit weiteren Bäumen und mehreren bunt blühenden Sträuchern wie Pfaffenhütchen, Holunder, Gewöhnlichem Schneeball, Zimt- und Hundsrosen.
Der Buchsbaum beim Pestalozzi-Denkmal hingegen, aber auch die Eibenhecken, Zwergmispeln und der vom Bundesamt für Umwelt auf die schwarze Liste invasiver Neophyten gesetzte Kirschlorbeer auf dem Areal müssen weichen.
Vogelschützer in Zürich sind damit allerdings gar nicht einverstanden.
«Es ist unsäglich, wie die Stadt an jeder Ecke gegen die Natur vorgeht», sagt Katharina Büttiker, die Präsidentin der Stiftung Animal Trust in Zürich. Die Hecken auf der Pestalozziwiese seien kerngesund und ein wichtiger Rückzugsort für Spatzen. «Dabei geht deren Bestand doch massiv zurück!» Internationale Studien bestätigen diesen Eindruck. Eine britische Langzeituntersuchung kommt zum Schluss, dass die Zahl der Hausspatzen in der EU seit 1980 um 247 Millionen Exemplare abgenommen hat – das grösste Minus aller Vogelarten.
Birdlife Schweiz geht davon aus, dass die Spatzenpopulation in der Stadt Zürich im gleichen Zeitraum um bis zu 40 Prozent abgenommen hat, wie die Organisation im vergangenen Jahr gegenüber dem «Tages-Anzeiger» sagte. Daten des Vogelbeobachtungsprojekts Avimonitoring Zürich deuten in eine ähnliche Richtung.
Die Gründe für den Niedergang: immer weniger Insekten, die lebenswichtige Proteine liefern; immer weniger Nistplätze an verschlossenen Hausfassaden, in Regenrinnen, Storenkästen, unter Dachziegeln – und immer weniger Hecken.
«Stehen die Hecken nicht unter Heimatschutz?»
Simon Kälin-Werth, Gemeinderat der Grünen und Präsident des Natur- und Vogelschutzvereins Meise Zürich 2, kann mit der «ökologischen Aufwertung», die das Tiefbauamt auf der Pestalozziwiese nach eigenen Angaben anstrebt, wenig anfangen. Er fragt sich: «Stehen die Hecken auf der Anlage nicht unter Heimatschutz?» Die immergrünen Büsche bei der Pestalozzi-Statue seien seit Jahrzehnten so gewachsen. «Ich halte es für eine Sünde, die zu entfernen.»
Und: «Das wird die Wohnungsnot der Spatzen in der Stadt Zürich gravierend verschärfen.»
Kälin-Werth will das nicht hinnehmen. Er hat bei der Stadt den entsprechenden Bauentscheid bestellt, um gegen das Projekt Einsprache einlegen zu können. Animal Trust wird laut Büttiker «auf jeden Fall» dagegen rekurrieren. Der Stadtzürcher Heimatschutz hat nach Angaben von Kälin-Werth den Bauentscheid ebenfalls eingefordert. Die Organisation war am Freitag für eine Stellungnahme nicht erreichbar.
Für Kälin-Werth vom Vogelschutzverein geht es zunächst darum, den Dialog mit der Stadt zu suchen. Er habe die Tiefbauvorsteherin Simone Brander (SP) bereits um einen Termin gebeten. Kälin-Werth sagt: «Alle Argumente sollen auf den Tisch.» Der grüne Gemeinderat stört sich nicht zuletzt daran, dass das Bauvorhaben nie öffentlich diskutiert worden sei. Er habe die Ausschreibung zufällig im «Tagblatt der Stadt Zürich» gesehen. Immerhin gehe es um einen prägenden Ort der Innenstadt – und um ein Projektvolumen von knapp 1 Million Franken.
Je dichter und älter, desto besser
Das Tiefbauamt teilt mit, dass man den Vogelschutz sehr ernst nehme. Für jene Sträucher, die bei der Renovation des Brannhof-Gebäudes bereits entfernt worden seien, habe man bei der Schweizergasse am anderen Ende der Anlage für Ersatz gesorgt. Dort wachsen junge Steinlinden, wo sich Vögel (noch) kaum verstecken können, und Gewöhnlicher Liguster. Dieser Busch bietet ausreichend Sichtschutz für Spatzen, genauso wie der verschmähte Kirschlorbeer und die Stechpalme, die sich um einen der beiden Japanischen Schnurbäume auf der Grünfläche rankt.
«Piep, piep, piep!» Den Vögelchen gefällt’s bei der Pestalozziwiese.
Weiter macht das Tiefbauamt darauf aufmerksam, dass die neuen Sträucher für mehr Biodiversität und somit auch für mehr Spatzenfutter sorgen würden. «Ausserdem werden die neuen Wege mit Kies und Sand gestreut, und die Spatzen können die ganze Wegfläche als Sandbad nutzen», schreibt das Amt auf Anfrage.
Aufschlussreich ist auch ein Merkblatt von Grün Stadt Zürich. Unter «Empfehlungen für einen spatzenfreundlichen Stadtraum» heisst es unter anderem:
- bestehende Hecken, Sträucher und Bäume stehen lassen
- dichte Hecken erstellen (je länger, desto besser)
- dichte Büsche und Sträucher wie Eibe oder Buchsbaum wachsen lassen (je dichter und älter, desto besser)
Auf der Pestalozziwiese hat sich die Stadt für einen anderen Weg entschieden.