Der Zürcher Literaturkritiker hat ein Lesebuch mit Highlights seiner eigenen Recherchen zusammengestellt. Entstanden ist eine Zauberkiste vergessener Texte.
Es ist kaum zu glauben, was der Publizist und Literaturwissenschafter Charles Linsmayer für die Schweizer Literatur geleistet hat. 1977 begann er mit seinen editorischen Grosstaten, die zu mittlerweile einhundertdreissig Bänden mit vorwiegend Texten von Schweizer Autoren führten. Geleitet von grosser Entdeckerlust und literarischem Gespür, gibt sich Linsmayer, der demnächst seinen achtzigsten Geburtstag feiert, nicht mit dem zufrieden, was in literarischen Dingen eine – von wem auch immer forcierte – Kanonisierung als gesicherte Erkenntnis verkündet.
Linsmayer weiss, von welchen persönlichen oder verlegerischen Zufällen es abhängt, ob Autorinnen und Autoren eine Art Bestandsgarantie bekommen oder oftmals zu Unrecht vergessen werden. In fünfzig nun in einem Lesebuch versammelten Porträts aus seiner Editionsarbeit präsentiert er Highlights – von Walter Ackermann bis William Wolfensberger –, und selbst wer glaubt, halbwegs einen Überblick dessen zu besitzen, was in den Schweizer Landessprachen während der letzten hundert Jahren geschrieben wurde, kommt nach der Lektüre nicht umhin, Demut an den Tag zu legen und sich seiner eigenen Leselücken bewusst zu werden.
Kleine Seitenhiebe
Von der universitären Literaturwissenschaft wurde Linsmayers Enthusiasmus nicht selten argwöhnisch betrachtet. Zu wenig schien sich seine Auswahl an akademischen Qualitätskriterien zu orientieren. Solche Vorbehalte mögen Linsmayer verletzt haben, aber seinen Eifer konnten sie nicht beeinträchtigen.
In der Skizze zu Robert Walser schimmert diese Enttäuschung durch, wenn Linsmayer die germanistische Huldigung dieses Autors als Indiz grosser Versäumnisse sieht: «Tatsächlich muss der Walser-Kult im Grunde ein Defizit verdecken, das seit Jahren immer grösser wird und das darin besteht, dass die Schweizer Germanistik die jüngere Literatur des eigenen Landes weitgehend ignoriert und Walsers schweizerischen Zeitgenossen keinerlei Interesse entgegenbringt.» Aufwendig kommentierte Editionen hätten so nicht zuletzt das Ziel, den «Nachweis der Subventionsberechtigung» zu erbringen.
Sein neustes Lesebuch tritt solcher Idiosynkrasie mit der Evidenz konkreter Anschauung entgegen. Geschliffenen biobibliografischen Kurzporträts schliessen sich klug ausgewählte Textauszüge an, angereichert durch Illustrationen und mitunter grossartige Fotodokumente.
Wunderbar ist da zum Beispiel das Bild der 89-jährigen Helen Meier, die lachend im Trogener Bähnli sitzt. Ebenso erfrischend ist das Bild der jungen Jeanne Hersch, die dem späteren thailändischen König Bhumibol offenbar Wichtiges ins Ohr raunt. Ein Zeitdokument gar die Aufnahme vom greisen neugierigen Maurice Chappaz, der sich von Linsmayer die Wunderwelt eines Mobiltelefons zeigen lässt.
Eine Schatztruhe
In einem knappen Nachwort bemüht sich Linsmayer darum, ein verbindendes Element der von ihm ausgewählten Autoren herauszuarbeiten. Sie alle hätten das Schreiben als existenzielle Notwendigkeit verstanden und traumatische Erlebnisse in einen «kreativen Effort» umzumünzen versucht. Das überzeugt in vielen Fällen, obschon für politisch-dokumentarische Textformen oder Sprachexperimentelles in dieser Perspektive wenig Platz bleibt.
Dennoch: Dieses Lesebuch ist eine Fundgrube, eine wahre Schatztruhe. Linsmayers überschwängliche Begeisterung, die immer wieder zu wahren Lobeshymnen führt, ist ansteckend. Ob zum Beispiel Max Pulvers Roman «Himmelpfortgasse» wirklich «einer der wichtigsten Romane des 20. Jahrhunderts» ist, wird bei nächster Gelegenheit zu überprüfen sein.
Charles Linsmayer: Die andere Schweizer Literatur. Die Highlights von Charles Linsmayers biografisch-editorischer Tätigkeit. Ein Lesebuch. Th.-Gut-Verlag, Zürich 2025. 648 S., Fr. 43.90.