Der Fussball hat Mychell Chagas und Nzuzi Toko als Buben in Zürich zusammengeführt – und später in die unterschiedlichsten Erdteile gespült. Jetzt sind sie wieder vereint, bei YF Juventus, 1. Liga Classic. Im Cup empfängt ihr Team am Freitag den FC Sion.
Hohl gegen Kern, so lautet die Affiche. Jeden Morgen ist das so, 10-Uhr-Pause, draussen, auf dem Platz aus Beton, bei Sonne und Regen. Hohl und Kern, das sind zwei Schulhäuser im Kreis 4 in Zürich, und über den Platz jagen die besten Fussballer, die sich in ihnen finden. So lange, bis die Pausenglocke wieder schrillt. Und manchmal auch etwas länger.
Hohl gegen Kern, und beide wollen gewinnen. Jedes Tor zählt, besonders für zwei der Buben: Nzuzi Toko und Mychell Chagas. Sie sind die jeweiligen Captains, weil niemand anders besser mit dem Ball umgehen kann als sie. Wenn es einen Penalty gibt für den einen, steht der andere ins Tor. Und wenn einer verloren hat, dann kann er den nächsten Tag kaum erwarten, weil er auf die Revanche brennt.
Wenn es gerade schwierig ist, telefonieren Mychell Chagas (links) und Nzuzi Toko miteinander.
Champions League sei das für sie gewesen, sagt einer der Buben von damals, nicht mehr und nicht weniger. Sie seien Rivalen gewesen, aber es habe sie auch verbunden, dass sie so gut gewesen seien, sagt der andere.
Die Buben sind damals um die 10 Jahre alt. Geboren sind sie weit weg vom Zürcher Kreis 4, wie so viele andere im Kern und im Hohl. Der eine, Chagas, in Recife, Brasilien. Der andere in Kinshasa, Demokratische Republik Kongo.
Mychell Chagas und Nzuzi Toko ahnen damals nicht, was da gerade seinen Anfang nimmt. Wie sollen sie auch. Doch aus heutiger Sicht betrachtet, vom Zürcher Juchhof aus, wo die beiden jetzt zusammensitzen, mehr als zwanzig Jahre später und als Mittdreissiger, beginnt in jenen Jahren eine besondere Freundschaft.
Es ist eine Freundschaft, wie es sie oft gibt, weil sich die beiden über die Jahre mal seltener sehen und hören und mal öfter, sich mal näher sind und mal ferner.
Es ist eine Freundschaft, wie es sie selten gibt, weil der Fussball ihr roter Faden ist. Beide bringen es zum Profi, aber jeder in seinem Tempo. Der Fussball spült sie durch die Welt, in ferne Länder, China, Indonesien, Saudiarabien. Er führt sie zueinander, voneinander weg, schliesslich wieder zueinander. Es ist eine Freundschaft, die es ohne den Fussball nicht gäbe und die eine Menge erzählt über diesen Sport, sein Wesen und seine Mechanismen.
Ohne diese Freundschaft sässen die beiden nicht hier, auf dem Juchhof, wo der 1.-Liga-Classic-Klub YF Juventus spielt, ihr gemeinsamer Verein seit diesem Sommer. Chagas, der Stürmer. Toko, der Assistenztrainer, der notfalls immer noch als Fussballer einspringen kann. Und am kommenden Freitagabend, 20 Uhr: Schweizer Cup, gegen den FC Sion. Der Saisonhöhepunkt, sagt Chagas. Man könnte auch sagen: die grosse Bühne. Ein letztes Mal?
Aus Recife und Kinshasa
Mychell Chagas, geboren 1989, kommt als 10-Jähriger mit der Mutter und dem Bruder ins Zürcher Lochergut. Er ist noch nicht lange in der Stadt, da bringt ihn der Stiefvater zum FC Zürich, Probetraining. Der Bub, der sein Leben lang an den Stränden von Recife dem Ball nachgejagt ist, trägt zum ersten Mal Nockenschuhe, spielt zum ersten Mal auf Rasen. Es läuft nicht gut, aber er darf bleiben.
Nzuzi Toko, geboren 1990, flieht als 3-Jähriger mit den Eltern und fünf Brüdern aus Kongo-Kinshasa in die Schweiz. An der Langstrasse zwängt sich die Familie in eine 80-Quadratmeter-Wohnung. Der Vater liebt den Fussball und steckt die Söhne mit seiner Passion an. Er gibt ihnen Namen wie Armando und Platini, doch der beste Fussballer wird der Zweitjüngste, Nzuzi. Nur 174 Zentimeter gross wird er, er ist kleiner als die Brüder. Doch mit seinem Kämpferherzen können es die wenigsten aufnehmen.
Mit 12 Jahren holen ihn die Grasshoppers zu sich, fortan trägt Toko das Wappen des Rekordmeisters mit breiter Brust durch den Kreis 4. Der ist eigentlich FCZ-Land, doch Toko träumt als Bub immer nur von GC. Er lernt den Klub kennen, als dieser noch bei jeder Gelegenheit betont, wer der Schweizer Rekordmeister sei.
Die Wege von Chagas und Toko kreuzen sich immer wieder, auf dem Betonplatz und daneben; der ältere Bruder von Toko ist ein enger Freund von Chagas. Doch als diese beiden irgendwann anfangen, abends durch den Kreis 4 zu ziehen, ist Toko nicht dabei.
Toko wohnt schon früh in Dietikon, wo damals das GC-Internat steht, und natürlich weiss er, dass er gerade etwas verpasst. Manchmal tut ihm das weh, aber er schaut nur auf den Fussball, schon früh gewöhnt er sich das an. Toko sagt, das Internat sei sein Glück gewesen, es habe ihn ferngehalten von allen Versuchungen. Er findet bei GC eine Heimat – Chagas im FCZ nicht; er landet irgendwann im Tor, will dort aber nicht bleiben. Und zieht weiter.
Eine Weile verkauft Chagas Kleider
Schliesslich kommt auch Chagas zu GC, in der U 18 spielen die Jungs aus dem Hohl und dem Kern Seite an Seite. Aber nicht für lange. Carlos Bernegger ist damals der Trainer, er wird es später bis in die Super League schaffen. Zu Chagas sagt er zuerst, er wolle ihn unbedingt bei GC. Doch bald will er ihn nicht mehr, weil Chagas neben dem Fussball noch viele andere Dinge im Kopf hat.
«Chagas», sagt Toko, «war der Talentierte von uns beiden, ganz klar.» «Toko», sagt Chagas, «hatte den Biss, den Willen und ich halt lange meinen eigenen Kopf.»
Als Toko Anfang 2010 bei GC den Sprung zum Stammspieler schafft, mit 19 Jahren, ist Chagas beim FC Grenchen gelandet, 1. Liga, Gruppe 2, Einsatzminuten in der Rückrunde: 45. Im Sommer beschliesst er, dass der Fussball nichts für ihn ist. Er verkauft stattdessen Kleider, nimmt sich Zeit für sich, kehrt erst nach einem Jahr auf den Platz zurück, bei YF Juventus, damals noch 1. Liga Promotion.
Eine Weile ist es nun so, dass Toko seinen Weg im Profifussball macht, als kampfstarker, nimmermüder Mittelfeldspieler – und Chagas ihm dabei zuschaut, aus der Ferne, mit einiger Bewunderung. Weil das schon eine grosse Sache ist, der Kumpel aus dem Kreis 4, der es bei GC schafft, später nach England wechselt, zu Brighton, in die zweithöchste Liga.
Doch dann geht es auch für Chagas aufwärts, weil es irgendwann «klick» macht, wie er das formuliert. Er schaut nicht mehr nach links und nach rechts, wie er das vorher gemacht hat. Es ist auch der Weg von Toko, der Chagas zeigt, dass es nicht geht ohne Disziplin und harte Arbeit. Man sich auch einmal unterordnen und geduldig sein muss.
Chagas schiesst Rapperswil-Jona in die Challenge League und bekommt einen Vertrag beim Ligakonkurrenten Servette. Mit 27 ist auch er Profi, wie Toko, endlich, nach all den Jahren, in denen er bis 17 Uhr gearbeitet hat, um gleich danach ins Training zu fahren. «Ich wollte nie reich werden», sagt Chagas, «aber ich wollte vom Fussball leben können.» Das hat er jetzt geschafft.
Das Geld wird zum Treiber
In Genf lebt Chagas mit dem Goalie Joël Kiassumbua. Der hat wie Toko Wurzeln in Kongo-Kinshasa – und ist dessen enger Freund. Die alten Weggefährten sehen sich nun wieder öfter, fahren zusammen in die Ferien, vor fünf Jahren etwa in die Türkei. Dort ist Toko dabei, als Chagas jene Frau kennenlernt, mit der er heute verlobt ist und eine Tochter hat.
Als 2020 die Corona-Pandemie die Welt überrollt, trennen Chagas und Toko Tausende Kilometer. Aus den Buben, die im Kreis 4 dem Ball nachjagten, sind Fussball-Reisende geworden. Toko sitzt in Göteborg, Schweden, wo das Leben fast normal weitergeht. Und wundert sich, dass sein Freund Chagas in China zwei Wochen in eine strikte Quarantäne muss, wenn er aus dem Ausland einreist.
Toko spielt für den Traditionsverein IFK Göteborg, es ist seine dritte Station im Ausland, er war zuvor schon in der Türkei und in Saudiarabien. Dorthin hatte er 2018 gewechselt, vom FC St. Gallen, wo die Leute ihn mochten, er zum Captain aufstieg. Toko hätte bleiben können, doch er wollte weg aus der Schweiz.
Toko, der als 3-Jähriger seine Zwillingsschwester Nismba verloren hatte, weil in Kongo für Kleinkinder schon eine Grippe gefährlich werden konnte, ging es damals auch um die Zukunft. Darum, sich abzusichern. Chagas wagt 2020 den Sprung nach China, er hat zuvor für GC gespielt, in der Challenge League viele Tore erzielt, ist dann aber nicht mehr erwünscht. Auch für ihn ist das Geld ein Treiber, als es ihn mit 31 in die Ferne zieht, im fortgeschrittenen Fussballeralter. Später landet er in Indonesien, dann noch einmal in China.
Es geht Chagas und Toko wie vielen Berufskollegen, die abseits der grossen Stadien ihr Glück suchen. Das Fussballgeschäft, dieses Gewirr aus Abhängigkeiten, Opportunitäten und Beziehungen, treibt sie hierhin und dorthin.
Chagas lebt eine Zeitlang im Norden Chinas, wo Nordkorea und Russland ganz nah sind. In Indonesien sind bei einem Auswärtsspiel die gegnerischen Fans einmal so aufgebracht, dass das Militär anrücken muss.
Toko kann als kongolesischer Nationalspieler auch solche Geschichten erzählen. In Saudiarabien muss er seine Goldkette ausziehen, weil ein Mann derlei dort nicht zu tragen hat. Als er dort spielt, dürfen Frauen gerade erstmals ein Auto lenken. Irritiert, sagt Toko, habe ihn das schon. Aber ein Grund, nicht dort Fussball zu spielen, sei es nicht gewesen.
Chagas und Toko gehen unterschiedliche Wege, doch eines ist ihnen gemein: Ihre Karrieren sind reich gefüllt, vielleicht nicht mit Geld, aber mit Leben, Erinnerungen, Lehrstücken, auch: Freundschaften. Bis heute hat Chagas das chinesische Pendant zu Whatsapp auf seinem Handy installiert, um Kontakt zu halten mit Menschen, die ihm ans Herz gewachsen sind.
Jetzt sind beide Väter und sitzen im Büro
Jetzt sind sie zurück in der Schweiz, beide sind Väter, Chagas von drei Kindern, Toko von einem. Die Fussballer wohnen nicht mehr im Kreis 4, sondern in der Agglomeration von Zürich. Am Wochenende verbringen sie «sehr, sehr viel Zeit zusammen», unternehmen oft mit den Familien etwas, gehen etwa in die Kirche; beiden steht der christliche Glauben nahe.
Der Fussball spielt immer noch eine Rolle in ihrem Leben, aber es ist eine andere, weniger wichtige. Beide studieren Sportmanagement, aus der Ferne. Beide arbeiten in einem Büro. Toko geniesst die neue Erfahrung. Chagas fällt die Umstellung schwerer, er kennt das ja schon, die Tage am Pult, das Training am Abend. Manchmal, wenn es gerade schwierig ist, telefonieren die beiden. Toko, der Sachliche, beruhigt Chagas, den Emotionalen, dann.
Bei YF Juventus sind beide zu ihren Wurzeln zurückgekehrt. Schon als Junioren kickten sie für diesen Klub. Vor dem Comeback spielten beide für den FC Dietikon, einen anderen 1.-Liga-Classic-Verein. Als Chagas im Januar 2024 nicht weiss, wie es für ihn nach über drei Jahren in Asien weitergehen soll, stellt Toko den Kontakt zum Präsidenten des FC Dietikon her. Und als sich im Sommer dann YF Juventus um Chagas bemüht, hat der eine Bedingung: dass Toko mit ihm mitkommen darf.
Die beiden wollen ihre letzten Schritte im Fussballgeschäft gemeinsam gehen. Und müssen sich dabei an eine neue Rollenverteilung gewöhnen. Chagas ist immer noch Stürmer. Toko, dem die Knie schon länger zu schaffen machen, nun vor allem Assistenztrainer. Es kommt vor, dass Toko draussen steht und Chagas zuruft, er solle anständig ins Pressing gehen. Aber zum Glück wissen beide, wie sie einander nehmen müssen.