Der amerikanische Psychologe Philip Zimbardo hat den Mythos um das Böse im Menschen zelebriert. Heutige Sozialpsychologen sind da weitaus optimistischer.
In jedem Menschen schlummert ein Verbrecher. Gerät er in eine Machtposition, so wird er zum Monster. Das war die gängige Interpretation des «Stanford Prison Experiment». Es ist eines der bekanntesten Experimente der Sozialpsychologie. Noch heute steht es in Lehrbüchern.
Nun ist der Wissenschafter hinter dem Experiment, der amerikanische Sozialpsychologe Philip Zimbardo, 91-jährig verstorben. Der Sohn armer Einwanderer aus Sizilien war mit der Arbeit aus dem Jahr 1971 weltberühmt geworden. Und er prägte unser Verständnis von der Natur des Bösen. Doch Sozialpsychologen deuten heute dieses Experiment ganz anders.
Versuchspersonen automatisch in die Rolle «hineingewachsen»?
Was genau sich im Keller der Eliteuniversität in Stanford in Kalifornien abspielte, kann im Nachhinein nur rekonstruiert werden. Zwar gibt es ausschnittweise Videodokumentation, und Bilder wurden in Zeitungen und im Fernsehen verbreitet. Doch was sonst in diesen Tagen geschah, bleibt im Dunklen. Nach 6 anstatt 14 Tagen wurde das Experiment abgebrochen – auf Initiative einer Doktorandin und der späteren Frau Zimbardos.
Das Experiment sollte untersuchen, wie soziale Rollen das Verhalten beeinflussen. Die freiwilligen Versuchspersonen fanden sich entweder in der Rolle von Gefangenen oder von Wärtern wieder. Verbürgt sind Szenen, in denen die Wärter die Gefangenen schikanieren – und diese etwa für länger als eigentlich geplant in Schränke sperren.
In einem Gespräch im Jahr 2016 an der Stanford University beschreibt Zimbardo, wie die Teilnehmer mit der Zeit in ihre Rollen hineingewachsen seien. Sie seien «zu ihrer Rolle geworden». Für die Wärter bedeutete das, dass sie sich immer brutaler, gar sadistischer gegenüber den vermeintlichen Gefangenen verhielten. Habe der Mensch die Möglichkeit, Gewalt auszuüben, so tue er das auch. Das war das Narrativ, das Zimbardo schon in den 1970er Jahren vertrat, und daran hielt er auch 50 Jahre später noch fest.
Wissenschaftlich nur unzureichend dokumentiert
Erst vor kurzem, im Jahre 2019, veröffentlichten die amerikanischen Sozialpsychologen Alexander Haslam, Jay Bavel und Stephen Reicher erstmals Kritik in einem wissenschaftlichen Journal, dem «American Psychologist». Sie beschreiben, was zuvor nur mündlich kolportiert worden war.
Offenbar haben mehrere der Wärter später gesagt, sie hätten ihr Verhalten als Teil des Experiments verstanden. Und einer der Gefangenen, der offenbar einen psychischen Zusammenbruch erlitt, gab an, diesen nur inszeniert zu haben. Einige hätten das «Experiment» gar als ein grosses Theater verstanden.
Ob die Versuchspersonen damit ihr Verhalten rechtfertigten, oder ob das wirklich ihr Eindruck war, bleibt unklar. Die Anweisungen an die Versuchspersonen sind nicht dokumentiert.
Einfluss der Führungsfigur Zimbardo ist unbestritten
Er habe sich «unvermittelt» in der Rolle der Gefängnisleitung wiedergefunden, sagte Zimbardo später über seine Rolle während des Experiments. Den Moment, in dem «dieser kognitive Wechsel» vonstattenging, bezeichnete er als «gefährlich». Durchaus möglich also, dass die Ereignisse für ihn vor allem auch ein erkenntnisreiches Stück Selbsterfahrung waren.
In diesem Sinn deuten heutige Psychologen die Ereignisse in Stanford. «Identity Leadership» ist das Schlüsselwort. Eine starke Führungsfigur gibt ein Verhalten vor, und die Gruppenmitglieder ziehen mit. Mit anderen Worten: Vermutlich hat Zimbardo die Wärter dazu angestachelt, die Gefangenen zu schikanieren.
Das Experiment war wissenschaftlich nie anerkannt
Zweifelsohne war Zimbardo eine starke Persönlichkeit. So lässt sich auch erklären, warum das Experiment weltberühmt ist, obwohl es unter Wissenschaftskollegen nie richtig anerkannt worden war. Zimbardo, der bis zu seiner Pensionierung Professor an der Stanford University war, verfasste die ersten Lehrbücher über Sozialpsychologie – sein Experiment fehlte dabei nie.
Fachjournale aber lehnten die Publikation mehrfach wegen der fehlenden Kontrollgruppe zurück. Schliesslich veröffentlichten die Geldgeber, das «Office of Naval Research», die Studie in ihrer Zeitschrift, und zwei Jahre später wurde die Arbeit in einem weiteren, unbedeutenden Journal publiziert.
Dass es dem Experimentator an wissenschaftlicher Rigorosität fehlte, war schon damals unbestritten. Neben der Kontrollgruppe fehlten etwa eine Charakterisierung der Persönlichkeit der Teilnehmer, standardisierte Instruktionen oder auch klare definierte Messverfahren.
Man versuchte zu verstehen, wie Massenmörder entstehen
Die Karriere, die das Experiment selbst in der psychologischen Literatur hingelegt hat, ist erstaunlich. Verständlich wird dies wohl auch vor dem Hintergrund des damaligen Zeitgeistes: Unter dem Eindruck des Zweiten Weltkrieges und des Vietnamkriegs versuchte die Gesellschaft zu verstehen, wie Menschen zu Massenmördern werden. Und die Sozialpsychologie, die die Dynamik innerhalb menschlicher Gruppen untersucht, erlebte ihren ersten Aufschwung.
Zimbardo war nicht der Einzige, der damals Gewaltverhalten untersuchte. Zeitgleich führt Stanley Milgram an der Harvard University ein Experiment durch. Versuchspersonen wurde dazu angehalten, anderen Menschen – vermeintlichen Probanden – starke Stromschläge zu verpassen.
Die Stromschläge gab es in Wirklichkeit nicht. Doch einige Versuchspersonen schreckten offenbar vor tödlichen Impulsen nicht zurück. Auch dieses Experiment wurde von den Medien überschwänglich beschrieben. Das vermeintlich Böse im Menschen garantierte Aufmerksamkeit.
Grausamkeit ist seltener als gedacht
Auch Milgrams Experiment gehört zum Grundwissen der Sozialpsychologie. Aus wissenschaftlicher Sicht war es besser als dasjenige des Kollegen auf der anderen Seite des Kontinents. Allerdings würde es heute kaum mehr von einer Ethikkommission gutgeheissen werden.
Und auch die Interpretation ist mittlerweile eine andere. Denn neben den willigen Versuchspersonen gab es auch viele, die sich weigerten, teilzunehmen. Heute interessieren sich Sozialpsychologen eher für die Gruppe von Versuchspersonen, die auch unter widrigen Umständen an ihren moralischen Standards festhalten.
Der berühmte Sozialpsychologe Albert Bandura sagte einst, der Mensch habe die Fähigkeit, seine moralischen Standards selektiv ein- und auszuschalten. Er könne in einem Moment grausam und im nächsten mitfühlend sein. Offenbar geschieht der Wechsel hin zum Grausamen seltener als gedacht.