Als der Konzern Wirecard zusammenbrach, tauchte sein Spitzenmanager Marsalek in Russland unter. Nun verdichten sich die Hinweise darauf, dass er schon lange im Dienste Moskaus stand – und nach der Flucht nahtlos für Russlands Geheimdienste weiterarbeitete.
Seit Jahren ranken sich Gerüchte um Geheimdienstverbindungen von Jan Marsalek, dem 2020 untergetauchten Spitzenmanager des kollabierten Finanzunternehmens Wirecard. Als gesichert galt, dass sich Marsalek nach dem Zusammenbruch des einst mit 16 Milliarden Euro bewerteten Konzerns Hals über Kopf mit einem Privatflugzeug nach Weissrussland absetzte und von dort nach Russland weiterreiste. Doch dort verlor sich seine Spur.
Recherchen des exilrussischen Investigativmagazins «The Insider», des «Spiegels», des ZDF und der österreichischen Tageszeitung «Standard» zeigen nun jedoch, dass Marsalek in Russland eine neue Identität angenommen hat. Brisant ist vor allem der Befund, dass der Manager mit grosser Wahrscheinlichkeit schon Jahre vor seiner Flucht für den russischen Geheimdienst gearbeitet hat.
Über solche Erkenntnisse hatte im Dezember zwar schon das «Wall Street Journal» berichtet. Aber die am Freitag präsentierten Belege lassen nun kaum noch einen anderen Schluss zu. Damit wird die Betrugsaffäre um Wirecard, einst ein Star unter den dreissig grössten Firmen Deutschlands, endgültig zu einem Spionageskandal – mit äusserst peinlichen Aspekten für die Regierungen in Berlin und Wien.
Denn nicht nur hatte der mutmassliche russische Agent Marsalek Zugang zu allen von Wirecard verarbeiteten Kreditkartentransaktionen, darunter Zahlungen des deutschen Auslandgeheimdienstes BND. Der Wiener war offenbar auch eine Schlüsselfigur einer Geheimzelle innerhalb des österreichischen Inlandgeheimdiensts BVT, die jahrelang für Russland spionierte. Weder Deutschland noch Österreich haben diese Verwicklungen aufgearbeitet. Als Reaktion auf die Enthüllungen hat nun in Berlin der parlamentarische Geheimdienstkontrolleur Konstantin von Notz die Einsetzung eines Sonderermittlers gefordert.
Unter dem Deckmantel eines Priesters
Als zentrales Beweisstück für Marsaleks Status innerhalb der russischen Geheimdienstwelt erscheint die Kopie eines russischen Passes, die «The Insider» nun vorlegt. Ausgestellt ist das Dokument auf einen russischen Staatsbürger namens Konstantin Bajasow, doch es enthält das Passfoto von Marsalek. Mehr noch: Als Kontaktperson ist in der Passakte eine Frau vermerkt, die eng mit dem russischen Geheimdienst FSB verbandelt sein soll.
Der echte Bajasow ist ein orthodoxer Priester aus der Provinzstadt Lipezk, der eine verblüffende Ähnlichkeit mit Marsalek hat. Weshalb seine Identität nun einem anderen gehört, wollte der Priester gegenüber den bei ihm nachfragenden Journalisten nicht kommentieren. Es ist schwer vorstellbar, dass sich der untergetauchte Wirtschaftskriminelle ohne aktive Mithilfe des russischen Sicherheitsapparats eine neue Identität hätte verschaffen können.
Der Pass ist für sich allein noch kein schlagender Beweis für eine Agententätigkeit Marsaleks. Hinzu kommen jedoch weitere wichtige Indizien. So hat der «Spiegel» nach eigenen Angaben mit dem mutmasslichen Verbindungsmann Marsaleks sprechen können, einem Russen namens Stanislaw Petlinski. Westliche Agenten würden ihn als verlängerten Arm verschiedener russischer Geheimdienste betrachten, schreibt das Magazin. Petlinski soll Marsalek 2014 angeworben haben, stilgerecht auf einer Jacht im Mittelmeer und mithilfe einer kühlen Blondine.
2017 unternahmen die beiden Männer eine bizarre Reise nach Syrien, wo sie bei den ebenfalls mit Russlands Geheimdiensten verbandelten Wagner-Paramilitärs einen Frontbesuch machten. Ein Foto zeigt Marsalek in der Ruinenstadt Palmyra, mit Kampfhelm und kugelsicherer Weste. Der als adrenalinsüchtig beschriebene Österreicher, der in seinem bürgerlichen Leben von einem Münchner Büro aus einen Finanzkonzern steuerte, soll sich mit der Reise ins Kriegsgebiet einen Traum erfüllt haben.
Beschuldigt als Drahtzieher eines Londoner Agentenrings
Es sind aber nicht nur Medienberichte, die eine der seltsamsten Spionageaffären der letzten Jahrzehnte unterfüttern. Auch die britischen Ermittlungsbehörden haben wichtige Erkenntnisse präsentiert. Sie haben seit dem Herbst insgesamt sechs Bulgaren der Spionage für Russland angeklagt und dabei den Vorwurf erhoben, der Agentenring habe im Zeitraum von 2020 bis 2023 im Auftrag von Marsalek gehandelt. Trifft das zu, so bedeutet dies nichts anderes, als dass der flüchtige Manager seine Geheimdiensttätigkeit von Russland aus nahtlos weitergeführt hat.
Das «Wall Street Journal» berichtete unter Berufung auf westliche Geheimdienstquellen über eine weitere Mission: Er sei im Dienst des russischen Staates daran beteiligt, die Afrika-Geschäfte des getöteten Wagner-Chefs Jewgeni Prigoschin neu zu ordnen. Die Marsalek-Saga bietet jedenfalls mehr Stoff, als ein Drehbuchautor in Hollywood für einen Agententhriller verwenden könnte.