Kapitalzuflüsse von US-Geldmarktfonds haben die Märkte gestützt und den Zinsanstieg kompensiert – bis jetzt. Ein noch wichtigerer Indikator für die Börsenentwicklung spricht jedoch weiterhin für Aktien und vor allem für lang laufende Anleihen.
Bis zuletzt gingen die Börsianer davon aus, dass die Konjunktur besser bleibt als erwartet (siehe die zumindest oberflächlich guten Arbeitsmarktzahlen) und positionierten sich nicht für baldige Zinssenkungen. Jetzt jedoch scheint die Stimmung umzuschwenken in Richtung schlechterer Konjunktur und niedrigerer Zinsen. Das dürfte nach zwei Monaten Kursverlusten an den Bondmärkten wieder bessere Anleihekurse bedeuten, aber eine zunehmend uneinheitliche Entwicklung an den Aktienmärkten mit überraschenden Bewegungen nach beiden Seiten.
Selbst die «Magnificent 7» entwickeln sich im Gegensatz zum letzten Jahr zunehmend uneinheitlich. Tesla fällt hier schon seit längerer Zeit aus dem Rahmen (Hoch mit über 400 $ in 2021 und zuletzt unter 180 $), aber auch Alphabet und Apple sind im letzten Halbjahr nicht mehr gestiegen (seit Jahresanfang minus 5 %). Aus den «Magnificent 7» sind eigentlich die «Magnificent 2» (Nvidia, Meta) geworden. Insbesondere Nvidia war mit mehr als 80% Kursgewinn seit Jahresanfang verantwortlich für ein Drittel des S&P 500-Anstiegs von 7% in diesem Jahr. Die Aktie ist inzwischen die drittgrösste der Welt mit mehr als 2 Bio. $ Marktkapitalisierung vor Apple und (als grösste Aktie) Microsoft.
Kursrally der «Magnificent 7» durch Gewinnanstieg getrieben
Im Vergleich zur Dotcom-Hausse 2000 erscheinen die «Magnificent 7» trotz der bisherigen Kursgewinne heute niedriger bewertet als in der extremen generellen Börsenübertreibungsphase 2000. Nvidia wird mit dem 27-fachen Gewinn des übernächsten Geschäftsjahres (2026) bewertet. Als die Aktie vor vier Jahren nur ein Zehntel so hoch bewertet war wie heute, war das Kurs/Gewinn-Verhältnis nicht anders. Solche Entwicklungen sprechen dafür, dass es weiterhin bei einem «Stock- Picker-Markt» bleibt, wo die allgemeine Kursentwicklung weniger die Kurse bestimmt (Herauf- oder Herabsetzung der Kurs-Gewinn-Verhältnisse) als die individuelle Gewinnentwicklung.
Auch wenn die Gewinntendenz einzelner Aktien die Hauptrolle spielt, so ist nicht zu übersehen, dass die Aufwärtsentwicklung des letzten Jahres für Wallstreet insgesamt nicht durch die Gewinne, sondern durch eine Heraufsetzung der Kurs-Gewinn-Verhältnisse stattfand, während sich die Gewinne zum Beispiel im S&P 500 ohne die sieben Wachstumsaktien verminderten. Die Gewinne der Europa-Aktien fielen 11% im vierten Quartal gegen Vorjahr. Höhere Kurs-Gewinn-Verhältnisse (in USA ohne «Magnificent 7» mit 17 bis 18 ca. 20% über historischem Durchschnitt) waren also in Europa und USA Grund für den Indexanstieg 2023.
Eine zunehmend differenzierte und teilweise deutlich schlechtere US-Konjunktur dürfte also zu noch uneinheitlicherer Börsenentwicklung (sowohl in den USA als auch Europa) führen. Es ist also realistisch, dass der Aufschwung von noch weniger Aktien getragen wird. Schon zuletzt war die Nachricht von den neuen historischen Höchstkursen imponierend gut, aber bei genauerem Hinsehen wiederholte sich die Situation der ersten zehn Monate des letzten Jahres mit Stagnation des breiten Marktes. Entsprechend fehlte trotz historischer Hochs grosser Jubel.
Grösste Liquiditätsquelle für den US-Markt ist ausgeschöpft
Hintergrund dafür, dass es in Wallstreet im letzten Jahr aufwärts ging (breiter Markt nur im November und Dezember), war die Liquiditätsentwicklung. Die Geldmarktfonds nahmen ca. 2 Bio. $ aus ihren Reverse Repo-Fazilitäten bei der US-Notenbank heraus und kauften dafür höher verzinsliche Schatzanweisungen (Treasury Bills), was einen entsprechenden Liquiditätsschub für Wallstreet bedeutete. Bei Fortsetzung des bisherigen Trends ist diese Liquiditätsquelle (jetzt Rest von weniger als 500 Mrd. $) im zweiten Quartal ausgeschöpft, so dass dann der monetäre Rückenwind für Wallstreet fehlen dürfte.
Selbst wenn die Zinsen herabgesetzt werden, würde dies das monetäre Bild nicht wesentlich bessern, wenn man an Quantitative Tightening (monatliche Schrumpfung der Fed-Bilanz durch Verkauf von Anleihen für ca. 90 Mrd. $) festhält. Abgesehen von den unübersichtlichen Gewinnaussichten (Wallstreet dürfte zu optimistische Gewinnentwicklungen einpreisen) könnte sich das monetäre Bild im zweiten Quartal also wieder verschlechtern. Damit dürfte weiterhin keine echte Hausse (auch kein Crash) in Sicht sein, aber eine unverändert äusserst differenzierte Kursentwicklung, die es Anlegern und Fondsmanagern schwer macht, beim allgemeinen optimistischen Stimmungsbild (neue historische Höchstkurse!) mitzuhalten.
Fed-Zinsen auf hohe US-Bankreserven stützen die Märkte
Allein Japan hat im letzten und in diesem Jahr dem traditionellen Bild einer Aktienhausse entsprochen. Hintergrund waren die umfangreichen Stützungskäufe für japanische Anleihen durch die Notenbank, was de facto ein massives Quantitative-Easing-Programm (= Gelddrucken) bedeutet. Japan hat gegenüber USA und Europa weiterhin die beste Überschussliquidität (Geldmengenentwicklung im Verhältnis zur für die Wirtschaftsentwicklung benötigten Geldmenge).
Den besten Überblick über die Liquiditätssituation am US-Finanzmarkt gibt die Entwicklung der freien US-Bankreserven. Diese haben sich seit gut einem Jahr sowohl in absoluten Zahlen (auf einen historischen Rekord von ca. 3,5 Bio. $), als auch prozentual im Verhältnis zu den gesamten Aktiva der amerikanischen Banken verbessert.
Seit über 100 Jahren war die Entwicklung der freien US-Bankreserven neben der Zinsentwicklung der beste Langfristindikator für Wallstreet. Die von den Banken bei der US-Zentralbank gehaltenen hohen, freien Bankreserven werden vom Fed verzinst, zuletzt mit einem Rekordbetrag von annualisiert ca. 190 Mrd. $ bei einer Verzinsung von 5,4%. Diese Zinsen waren ein weiterer Weg des Fed, die eigentlich programmierte Fed-Bremspolitik zur Inflationsbekämpfung abzuschwächen.
Freie US-Bankreserven in % der Bankvermögenswerte
Anleihen mit längerer Laufzeit werden attraktiv
Vorerst noch bessere Liquidität in Wallstreet und wahrscheinlich in jedem Fall in diesem Jahr sinkende Zinssätze durch das Fed könnten (bei wider Erwarten guten Unternehmensgewinnen) positiv für den US-Aktienmarkt (und für die weltweiten Aktienmärkte) sein, aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit lässt sich nur eine Hausse für Anleihen voraussagen.
Während es in den letzten zwei Monaten falsch war, auf Anleihen mit zu langer Laufzeit zu setzen, dürfte es jetzt richtig sein, von Anleihen kurzer und mittlerer Laufzeit auf längere Laufzeiten umzuwechseln. Hintergrund sind die sich verschlechternden US-Konjunkturdaten. Auch wenn fast alle US-Institutionen (die vor einem Jahr noch fest an eine Rezession glaubten) inzwischen diese Meinung vollständig aufgegeben haben, sprechen die inverse Zinskurve und einige Frühindikatoren (Leading Indicator LEI im Februar im 23. Monat rückläufig) nach wie vor für eine (wenn wahrscheinlich auch nur leichte) US-Rezession. Damit wachsen wieder die Hoffnungen, dass die US-Zentralbank die Zinsen früher senkt als die zuletzt erwarteten Juli-Annahmen.
Aus konjunktureller Sicht müsste die EZB ihre Zinsen eigentlich (erstmals!) vor den USA senken (im Juni?). Dies hätte dann entsprechend positive Auswirkungen auf die Dollarnotiz. Wallstreet wird die Konjunkturnachrichten also in nächster Zeit noch genauer beobachten als bisher.
Die heutige durchschnittliche Aktienbewertung ist primär in Wallstreet mit dem Kurs-Gewinn-Verhältnis von 21 (S&P 493, also ohne die «Magnificent 7», ca. 18) gegenüber durchschnittlich rund 15 ungesund hoch und würde für eine längerfristige Seitwärtsentwicklung sprechen. Allerdings gilt dies nicht für viele kleine und mittelgrosse Aktien, die vernünftig bewertet sind. Wenn man bei solchen Aktien eine Wachstumsidee beziehungsweise ein aussichtsreiches Geschäftsmodell sieht, ist es realistisch, dass solche Aktien vom heutigen Niveau in den nächsten Jahren durchaus stärker steigen können. Der «Stock-Picker-Market» könnte also noch länger dauern.
Dieser Artikel ist ein Auszug aus der «Finanzwoche», dem seit 1974 erscheinenden Investmentbulletin von Jens Ehrhardt.
Jens Ehrhardt
Jens Ehrhardt ist Gründer, Hauptaktionär und Vorstandsvorsitzender von DJE Kapital. Nach fünfjähriger Partnerschaft in der seinerzeit grössten deutschen Wertpapier-Vermögensverwaltungs-Gesellschaft promovierte er 1974 über «Kursbestimmungsfaktoren am Aktienmarkt». Im selben Jahr legte er den Grundstein für den Aufbau seiner Firmengruppe, die er von Beginn an leitet. Ehrhardt verantwortet neben seiner Rolle als Vorstandsvorsitzender noch die Bereiche Risikomanagement und Unternehmens-/Anlagestrategie.