Nach drei WM-Partien steht es zwischen Ding Liren und Gukesh Dommaraju unentschieden. Der Chinese hat gezeigt, dass er nicht zu früh abgeschrieben werden sollte.
Eine Zeitüberschreitung des Titelverteidigers Ding Liren hat die dritte Partie an der Schachweltmeisterschaft in Singapur nach dem 37. Zug am Mittwochnachmittag abrupt beendet. Der Chinese hatte seine Bedenkzeit von zwei Stunden, die für die ersten vierzig Züge hätte reichen müssen, bis auf die letzte Sekunde aufgebraucht und damit automatisch verloren. Es war die erste WM-Partie in über dreissig Jahren, die formal auf der Uhr statt auf dem Brett entschieden worden ist.
Allerdings wird sich Ding kaum über unzureichendes Zeitmanagement geärgert haben. Dass ihm die letzten Sekunden ausgingen, lag daran, dass er keine guten Züge mehr parat hatte. Mit einer präzis berechneten Kombination hatte sein erst 18-jähriger Herausforderer Gukesh Dommaraju zuvor die letzten Schwindelchancen Dings zunichtegemacht und war dabei, einen Turm zu gewinnen.
Ding Liren versteht es meisterhaft, alles Negative auszublenden
Nach drei von vierzehn Duellen und vor dem ersten Ruhetag am Donnerstag steht es an der Schach-WM somit 1,5 zu 1,5. Während der ersten Partien stand Ding im Fokus des Interesses. Sein beispielloses Formtief seit dem Titelgewinn im vergangenen Jahr, seine öffentlich bekundeten psychischen Probleme und die dreihundert Tage, während der er kein einziges Spiel mit klassischer Bedenkzeit gewonnen hatte, liessen das Schlimmste befürchten.
Aber Ding sollte nie zu früh abgeschrieben werden. Obwohl er schon während fast zehn Jahren zur Weltspitze gehört, war sein Weg zur Schachweltmeisterschaft alles andere als einfach. Und selbst während des letzten WM-Duells schien er phasenweise so neben den Schuhen zu stehen, dass ein Titelgewinn undenkbar schien. Doch immer wieder rappelte er sich auf und brachte es fertig, sämtliche negativen Umstände auszublenden und sich hundertprozentig aufs Spiel zu konzentrieren.
So konnte es am Montag bei der ersten Partie nur den oberflächlichen Beobachter überraschen, dass Ding keineswegs als verzweifeltes Nervenbündel in dieses Duell ging, sondern trotz dem Nachteil der schwarzen Steine energisch und zuversichtlich zu Werke ging. Mit der Wahl der Französischen Verteidigung zeigte er schon im ersten Zug an, dass es ihm um ein Spiel «auf drei Resultate» ging.
Während viele Wettkampfspieler versuchen, mit Schwarz möglichst risikolos auf Remis zu spielen, um im nächsten Spiel mit Weiss den Anzugsvorteil zu nutzen, wählte Ding Liren bewusst eine Eröffnung, in der Schwarz grösserem Risiko ausgesetzt ist, aber dank grösserer Asymmetrien auch eher auf einen ganzen Punktgewinn hoffen darf.
Und genau so kam es: Gukesh hatte in der Match-Vorbereitung zweifellos die Französische Verteidigung studiert, dürfte sie aber kaum schon im ersten WM-Spiel erwartet haben. Dennoch wählte er eine der schärfsten Fortsetzungen. Kurioserweise investierte Ding Liren im siebenten Zug fast eine halbe Stunde Bedenkzeit, ehe er mit dem Vorstoss seines Damenturmbauern eine seltene Nebenvariante wählte. Hatte ihm das Gedächtnis einen unerwarteten Streich gespielt? Oder brauchte er all die Zeit, um die innere Balance zu finden?
Jedenfalls sah man einen anderen Ding als in den letzten Monaten. Obwohl sein Gegner im zehnten Zug sofort eine Neuerung servierte, übernahm Ding fortan das Kommando. Sein a-Bauer stürmte auf die sechste Reihe vor, ein schwarzer Springer nutzte den Vorposten für ein ungewöhnliches Manöver nach b2, und kurz darauf drangen Dame und Turm über die c-Linie ins weisse Lager ein. Gukesh genoss derweil einen grossen Raumvorteil am Königsflügel, doch es gelang ihm nicht, seine Spielsteine zu einer harmonischen Einheit zu formen.
Es war die erste WM-Partie seines Lebens für den jungen Inder, und trotz deutlichem Zeitvorteil schien er mit den Nerven zu kämpfen. Dass sich sein Anzugsvorteil verflüchtigt hatte, wollte er nicht wahrhaben, und statt mit Abtausch auf ein Unentschieden zu spielen, hielt er beharrlich an seinen Angriffsplänen fest, opferte erst einen Bauern, dann einen zweiten und notgedrungen einen dritten.
Doch just als er nach einer Ungenauigkeit von Ding endlich die Chance hatte, ernsthafte Drohungen gegen den gegnerischen König zu entwickeln und diesen im zentralen Kreuzfeuer festzuhalten, wählte er einen unverständlichen Zug mit der Dame, woraufhin Ding mit zwei genauen Zügen seinen König in Sicherheit brachte und kurz danach den Sieg sicherstellte. Ein Auftaktsieg, dazu noch mit Schwarz – Ding hatte die Zweifler Lügen gestraft.
Das zweite Spiel endete am Montag unspektakulär mit einem Remis. Danach durfte Gukesh keine zweite Niederlage riskieren, und Ding hatte keinen Grund, das Glück zu forcieren.
Am Mittwoch verpasst Ding den zweiten Sieg
Im dritten Duell am Mittwoch wäre es für Ding beinahe noch besser gekommen: Obwohl er in der Eröffnung früh auf sich selbst gestellt war, wählte er selbstbewusst eine zweischneidige Fortsetzung, die seinen Läufer in Gefahr brachte, aber auch Gukesh zu genauem Rechnen zwang. Ding investierte wieder viel Zeit, fand aber einen starken Aufbau, und nachdem Gukesh etwas zu selbstsicher seinen g-Bauern auf die fünfte Reihe geschoben hatte, hätte sich Ding sogar einen Vorteil erspielen können.
Dieses Mal nahm das Spiel «auf drei Resultate» indes einen anderen Ausgang. In der Variante, die ihm einen Vorteil eingebracht hätte, unterschätzte Ding das Potenzial seiner Stellung, wohingegen er in der tatsächlich gewählten Variante einen taktischen Rückzug des weissen Springers übersah, der ihn eine Figur für nur zwei Bauern und später den ganzen Punkt kostete.
Prognosen bleiben schwierig: Ding Liren hat gezeigt, dass er trotz der Misere der letzten Monate den Weltmeistertitel verteidigen kann. Aber auch, dass er kaum in Bestform ist. Gukesh hat die Anfangsnervosität überwunden und scheint nach dem ersten Punktgewinn bereit zu sein, jede Schwäche des Gegners auszunutzen.