Der Schweizer Radprofi unterliegt im Zeitfahren in Vaduz nur dem belgischen Weltklassemann Yves Lampaert. Die Rückbesinnung auf altbewährte Trainingsmethoden zahlt sich für Bissegger aus. Seine Interviews bestreitet er nach wie vor mit Schlagfertigkeit.
Punkto Technik schien Stefan Bissegger das Zeitfahren in Vaduz perfekt gelungen zu sein. In den Kurven traf er die Ideallinie nahezu millimetergenau. Auf der Rampe, die vom Rheindamm zurück ins Zentrum von Liechtensteins Hauptstadt führte, wurde er wegen des Rückenwinds gar so schnell, dass er leicht abhob, doch er behielt die Kontrolle über sein Velo auch in der Luft.
Und dennoch setzte der 25-Jährige sofort zu einer selbstkritischen Analyse an, als er die nur 4,8 Kilometer lange erste Etappe der Tour de Suisse nach 5:08,76 Minuten beendet hatte. Der kurz vor ihm gestartete Belgier Yves Lampaert war etwas mehr als drei Sekunden schneller gewesen. Und Bissegger fragte sich, ob der Rückstand zumindest kleiner ausgefallen wäre, hätte er vor der zweiten Kurve etwas weniger gebremst.
Yves Lampaert yn cipio cymal 1 #Tourdesuisse (REC 4.77km). Stefan Bissegger yn colli allan yn ei ras gartref. pic.twitter.com/T2R1MNLHzp
— Y Dihangiad (@ydihangiad) June 9, 2024
«Es ist schade, dass es nicht gereicht hat», sagte der Frauenfelder angesichts des knapp verpassten Tagessiegs. Zu riskant sei er keineswegs unterwegs gewesen. Die Frage, wie er die heikle Szene auf der Rheindamm-Rampe erlebt habe, retournierte er knapp: «Ich habe keine heikle Szene gesehen.» Interviews bestreitet Bissegger bisweilen wie Nahkämpfe. Schlagfertigkeit, die in Bissigkeit umschlagen kann, zeichnet ihn aus.
Er hatte verloren, doch Bissegger konnte dem Rennen auch Positives abgewinnen. Zumal ihn in der Person von Lampaert ein Fahrer geschlagen hatte, der nicht nur im Kampf gegen die Uhr seit Jahren zur Weltspitze zählt. «Die Richtung stimmt», sagte Bissegger. Er sei dabei, zurück zu seiner alten Form zu finden.
Olympiaselektion unmittelbar nach der Tour de Suisse
Vielleicht passiert das gerade noch im richtigen Moment. Unmittelbar nach der Tour de Suisse will Swiss Cycling die Strassenfahrer für die Olympischen Spiele in Paris nominieren, und Bisseggers Chancen dürften sich nach dem Auftritt in Vaduz erhöht haben.
Im Strassenrennen und im Zeitfahren muss der Verband die beiden gleichen Fahrer an den Start schicken. Stefan Küng dürfte für Paris gesetzt sein, davon geht auch dieser selbst aus. «Ich stelle mir die Frage nicht, ob ich zu den Olympischen Spiele fahre», sagte Küng am Tag vor dem Zeitfahren in Vaduz: «Ich stelle mir die Frage, ob ich eine Medaille hole.» Angesichts seiner Resultate an den grossen Meisterschaften in den letzten Jahren sei er sich seiner Teilnahme sicher.
Für den Platz neben Küng bleiben Swiss Cycling zwei Optionen: Entweder entscheidet sich der Verband für einen spurtstarken Spezialisten für wellige Eintagesrennen, der sich im 275 Kilometer langen Strassenrennen behaupten kann. Das könnte für Marc Hirschi sprechen, aber auch für dessen Teamkollegen in der Mannschaft UAE, den erst 19 Jahre alten Jan Christen. Hirschi und Christen waren in dieser Saison bereits siegreich. Mauro Schmid ist nach einem durchwachsenen Frühjahr nur Aussenseiter.
Die zweite Variante wäre, neben Küng einen zweiten Zeitfahrer antreten zu lassen. Im Kampf gegen die Uhr sind Top-Resultate besser planbar als im schwer kalkulierbaren Strassenrennen. Unter der Woche hatte Bissegger an einem Medientermin in Zürich für sich geworben. Der Kurs in Paris liege ihm, sagte er mit Blick auf die 33 Kilometer lange, praktisch flache Strecke.
Zu Beginn seiner Profikarriere war es ihm auf Anhieb gelungen, sich im Kreis der besten Zeitfahrer der Welt zu etablieren, dann folgten Rückschläge und Enttäuschungen. Dass es jetzt wieder besser läuft, begründet Bissegger auch mit einer Umstellung im Training. Er ist nach Experimenten mit kurzen, hochintensiven Intervallen zur Methodik seines ehemaligen Coachs Marcello Albasini zurückgekehrt. Das bedeutet: längere Fahrten im Grundlagenbereich oder an der aerob-anaeroben Schwelle.
Die kurzen Intervalle, welche fast schon Sprints gleichen, gelten als modern. Auch der erfolgsverwöhnte Slowene Tadej Pogacar vertraut neuerdings auf den Ansatz. «Jeder Mensch funktioniert anders», entgegnet Bissegger. Auch sportwissenschaftliche Studien lägen nicht immer richtig. Er habe 2023 an seinen Wattwerten erkannt, dass die Form nicht optimal gewesen sei. Bissegger ist sich sicher, dass sich die Rückbesinnung auf Gewohntes für ihn auszahlt.
Auch die Materialprobleme sind gelöst. An der Tour de France 2022 waren Bissegger im Auftakt-Zeitfahren in Kopenhagen mangelhafte Reifen zum Verhängnis geworden. Auf der nassen Strasse gaben diese keinen Halt, Bissegger stürzte zweimal. Mittlerweile verfügt sein Team EF über Reifen, auf die auch bei Regen Verlass ist.
Küng wird von einer Bronchitis gebremst
Für Stefan Küng verlief der Tour-de-Suisse-Start enttäuschend; der als Favorit angetretene 30-Jährige wurde nur Achter. Er hatte sich zehn Tage vor dem Rennen eine Bronchitis eingefangen, anschliessend lag er mit Fieber im Bett. Seine letzten Trainingseinheiten musste er nach hinten verschieben, möglicherweise absolvierte er sie zu kurz vor dem Zeitfahren. «Die Spritzigkeit und der Punch haben gefehlt», sagte Küng.
Erstmals bestritt der Profi aus dem Team FDJ ein Rennen mit seinem neuen Zeitfahrrad vom Hersteller Wilier, über das er sich nach Tests im Vorfeld begeistert geäussert hatte: Ein solches Gefühl habe er noch nie auf einem Zeitfahrrad gehabt. Die 4,8 Kilometer von Vaduz änderten nichts am positiven Eindruck. «Auch mit dem schnellsten Velo der Welt brauchst du gute Beine», sagte Küng nach dem Rennen. Er blickt optimistisch auf die beiden Saisonhöhepunkte, die Olympischen Spiele und die Weltmeisterschaften in Zürich. Ebenso wie sein Landsmann Bissegger.