Im Jahr 2022 sorgten in Prag die Aufzeichnungen eines jungen Rom über die Not seines Heranwachsens für Furore. Auch in Tschechien werden Roma systematisch diskriminiert. «Zigeuner lügen» von Patrik Banga hält der Gesellschaft einen notwendigen Spiegel vor.
«Ich begann zu schreiben, weil ich wütend war», liess Patrik Banga in seinem Beitrag für eine neue Rubrik in der tschechischen Literaturzeitschrift «Tvar» für Roma mit dem Titel «Akana me» (Jetzt ich) wissen. Und im Zorn über den aufreibenden Kampf um ein normales Leben ist denn auch sein Buch «Zigeuner lügen» verfasst, das in Tschechien 2022 für Furore sorgte und einen renommierten Literaturpreis erhielt. Es beschreibt den Weg eines Menschen zur Freiheit – Patriks eigenen Weg, der 1982 mit der Geburt in Prag begann.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und mit der Auferstehung der Tschechoslowakei eröffnete sich für Tausende von slowakischen Roma die Möglichkeit, nach Tschechien zu ziehen. Viele ergriffen die Chance in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Und so gelangten auch Patrik Bangas Eltern um 1950 nach Prag. Seine Mutter wie sein Vater entstammten Musikerfamilien, worin für die nächste Generation eine Chance für die Zukunft lag.
Die «Zigeunerfrage»
Sowohl im Protektorat Böhmen und Mähren als auch in der Slowakei, die beide 1939 auf Hitlers Befehl getrennt worden waren, galten ab 1941 die Nürnberger Gesetze. Diese bildeten die Grundlage für die brutale NS-Rassenverfolgung und trafen in beiden Ländern gleichermassen Juden sowie Sinti und Roma. Die meisten wurden im Holocaust ermordet. Im Protektorat Böhmen und Mähren überlebten von 81 000 Juden lediglich 1o 000, von etwa 6500 Sinti und Roma blieben 583 übrig. Nach alternativer Zählung kamen von 8000 lediglich 863 heil davon.
In der Slowakei waren von 136 000 Juden bei Kriegsende noch 31 000 am Leben. Im Osten des Landes existierte eine Gemeinschaft von rund 200 000 Roma, sie blieben von der Vernichtung fast vollständig verschont.
Lebten nach dem Krieg in Tschechien nur jene rund 800 geretteten Roma, kamen nach 1945 mehr als 200 000 Zigeuner-Roma aus der Slowakei dazu. Mit ihrer primitiven Lebensart und mit ihren diversen Dialekten waren sie den Tschechen fremd und wurden meistens abgelehnt. Gebraucht wurden sie indes nach der Vertreibung der Sudetendeutschen dringend als Arbeiter in den Grenzgebieten von Böhmen und Mähren in der dortigen Industrie.
Nachdem die Kommunistische Partei 1948 in der Tschechoslowakei die Macht übernommen hatte, galten die Roma de iure als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft. Ihre Rückständigkeit betrachtete die Politik als Folge des Kapitalismus, und entsprechend wurde die «Zigeunerfrage» auf das «Problem einer sozial rückständigen Bevölkerungsschicht» reduziert. 1958 allerdings fiel der Entscheid der Partei für die endgültige Assimilation der Zigeuner-Bevölkerung.
Erst der Prager Frühling brachte eine Verbesserung der Lage der Roma. Die Reformbewegung für einen «Sozialismus mit menschlichem Antlitz» wurde aber nach dem 20. August 1968 mit dem Einmarsch der Armeen des Warschauer Paktes niedergeschlagen. Noch 1969 wurde in Brünn der Verband der Zigeuner-Roma gegründet, der 1971 in London am Weltkongress der Roma teilnahm. 1973 löste er sich unter dem Druck der KP «freiwillig» auf.
Es begann die «bleierne Zeit» von zwanzig Jahren «Normalisierung». Roma wurden zu Bürgern zweiter Klasse degradiert und entsprechend behandelt. Es dauerte bis 1978, bis die oppositionelle Charta 77 in ihrem Manifest «Über die Stellung der Zigeuner-Roma in der CSSR» ihre Diskriminierung zur Frage des Gewissens der ganzen Nation erhob.
Nazi-Jagd auf Roma
Wie er damals aufwuchs, schildert Patrik Banga eingehend in seinem Buch. Die Familie Banga lebte in Prag in einer Wohnung im Stadtteil Žižkov, beruflich getragen und sozial geschützt durch ihre Musik. Zu ihren älteren Kindern hinzu kamen 1982 die Zwillinge Patrik und Radek. Die triste Realität war damals, dass die Roma als Menschen zweiter Klasse galten und entsprechend diskriminiert wurden. Die Welt, in der Patrik aufwuchs, war geprägt von Rassismus und Antiziganismus, Kriminalität und Polizeigewalt.
Die Fron des Lebens begann für die dreijährigen Zwillinge mit dem Herauftragen von Briketts aus dem Keller zum Heizen der Wohnung im vierten Stock. Die Eltern waren bei der Arbeit. Bald kamen die beiden in den Kindergarten, wo die Fenster vergittert waren und Kadavergehorsam eingeübt wurde. Wenn die Brüder allein herumlungerten, kümmerte sich oft Frau Bogdanová um sie: «Sie war eine jüdische Witwe und die erste Intellektuelle, die ich je kennengelernt habe. Gebildet, freundlich, tiefreligiös und weiss – das komplette Gegenteil von allem, was wir bisher kannten. Sie hatte keinen Schnaps im Haus, wahrscheinlich rauchte sie nicht einmal. Sie zeigte uns, dass es ein Leben jenseits von dem gab, das wir bis anhin kannten.» Schnaps aber floss im Hause Banga reichlich, zumal an den musikalischen Abenden, die auch der weissen Intelligenzia offenstanden.
In wechselnden Schulen fand Patrik Anschluss dank seiner musikalischen Begabung – und weil er das Repertoire der Beatles beherrschte. Das Gymnasium blieb ihm versagt, dafür gab es eine Lehre als Mechaniker. Die Diskriminierung der Roma fand nach der «samtenen Revolution» von 1989 ihre Fortsetzung. Nun machten sich junge Nazi-Skinheads einen Spass daraus, auf der Strasse Roma zu jagen und zu verprügeln.
Freilich waren auch für den Durchschnittstschechen die neunziger Jahre mit der forcierten Privatisierung der Ökonomie eine schwierige Zeit. Viele Leute – an erster Stelle Roma – verloren Arbeit und Wohnung und fielen durch alle sozialen Maschen. Armut breitete sich aus und mit ihr der Drogenkonsum.
Der polnische Soziologe Zygmunt Bauman hat den Umgang mit den Roma zum Zeichen für den Gesundheitszustand einer Gesellschaft erklärt. Patrik Bangas Lebensweg stand im Zeichen chronischer Verachtung und Benachteiligung. Als Siebzehnjähriger erfährt er von der misslichen Lage von aus Kosovo geflüchteten Roma im Lager Konik bei Podgorica. Er schämt sich dafür, dass es ihm weit besser geht Die Bilder halbnackter junger Roma-Kinder, die im Müll nach Essen graben, lassen ihn nicht los. Er schafft es, aus Tschechien einen Lastwagentransport mit Kleidern und Schuhen nach Konik zu organisieren. Viel zu wenig, aber zumindest etwas. Und für ihn ein Akt der Selbstbefreiung.
Patrik Banga fand damals zu seiner Stimme und seiner Aufgabe: in der Presse sachlich und anschaulich über die schwierige Situation der Roma zu berichten. Die tschechische Mehrheitsgesellschaft ist ihm dafür zu Dank verpflichtet. Das Lebensgefühl derer ganz unten zu kennen, steht ihr wohl zu Gesicht.
Patrik Banga: Zigeuner lügen. Die wahre Geschichte eines Rom. Aus dem Tschechischen von Hana Hadas. Anthea-Verlag, Berlin 2025. 208 S., Fr. 27.90.