Krisen ohne Ende. Eine Welt, die aus den Fugen ist: Vor hundert Jahren erlebte Walter Eucken seine Zeit als Epoche des Niedergangs. Daraus entwickelte er das Konzept einer neuen Wirtschaftsordnung.
In der Medizin ist die Krise ein Wendepunkt im Verlauf einer Krankheit. Auf sie kann die Genesung, aber auch das Allerschlimmste folgen, der Tod. In dieser Ambivalenz dient der Begriff der Krise oft auch dazu, gesellschaftliche und politische Zuspitzungen zu beschreiben. Derzeit hat er Konjunktur, denn womöglich fatale Wendepunkte lassen sich allenthalben ausmachen.
Zum Beispiel ist ungewiss, ob sich der Westen gegen seine äusseren und inneren Feinde wird behaupten können, ob die internationale Ordnung noch zu reparieren und die Klimaerwärmung zu stoppen ist. Und wie es der modische Begriff der «Polykrise» zum Ausdruck bringen soll, überlagern und verstärken sich diese Entwicklungen auch noch gegenseitig.
Von der verstörenden Empfindung, in eine Krisenepoche eingemündet zu sein, war die öffentliche Debatte vor hundert Jahren schon einmal geprägt. Damals, in der Zwischenkriegszeit, produzierte die mit den Pariser Vorortverträgen geschaffene Ordnung neue politische Verwerfungen. Auch wirtschaftlich und moralisch war die Welt aus den Fugen.
Unbehagen am Kapitalismus
Ein Schlaglicht darauf, wie gross die Orientierungslosigkeit war, wirft ein Brief, den Walter Eucken im Mai 1919 an seine Mutter in Jena geschrieben hat. Der damals noch nicht einmal dreissigjährige Nationalökonom, der später zum Begründer des Ordoliberalismus wurde, drückt darin zornesbebend die Hoffnung aus, «dass wir bald zur Revanche die Waffe in die Hand nehmen».
Es ist derselbe Mann, dem sein Freund Wilhelm Röpke nach seinem frühen Tod 1950 in der «Neuen Zürcher Zeitung» trauernd nachrief, er sei die «Fleisch gewordene Rechtschaffenheit, Gradheit und Güte» gewesen. Die nationalistische Aufwallung legte sich wieder. Stattdessen begann der Sohn des neu-idealistischen Philosophen und Nobelpreisträgers Rudolf Eucken über die Ursachen der Krise nachzudenken, die seinem Eindruck nach alles andere dominierte.
Euckens kulturphilosophische Schriften aus der Zwischenkriegszeit bezeugen den schmerzvollen Abschied von einer untergegangenen Welt und den allmählichen Aufbruch zu neuem Denken. Seine Krisendiagnosen zeugen von einem auch heute verbreiteten Unbehagen in Bezug auf den Kapitalismus: Dieser bedeute die «Herrschaft des wirtschaftlichen Selbstinteresses», schrieb er einmal. Den Menschen sei der Glaube an Sinn und Wert des Lebens abhandengekommen.
Die innere Leere der Menschen
Als Ökonom pries er die Beschleunigung des wirtschaftlichen Fortschritts und die Durchlässigkeit der gesellschaftlichen Strukturen, die dem Kapitalismus zu verdanken sind. Zugleich aber erkannte Eucken, dass damit eine Austrocknung der alle Bevölkerungsschichten verbindenden Kultur einhergeht. In einer statischen Wirtschaft, argumentierte er, verbreiteten gefestigte Bildungsschichten die notwendige «Einheitskultur». In einer dynamischen, durchlässigen Wirtschaft indes fehlten diese Mittler. Das gilt erst recht in der heutigen Zeit mit ihren zersplitterten Diskursen und medialen Milieus.
Trotzdem gab es für Eucken keinen Weg zurück. Er wusste, dass der Sozialismus keine Lösung ist. Dessen «Ökonomismus», die Fixierung auf das Wirtschaftliche, könne die innere Leere der Menschen ebenso wenig überwinden wie der «Politismus», der die einzelne Person im Staat aufgehen lasse. Sein Dilemma vermochte Eucken nicht konstruktiv zu lösen; er schob es schliesslich beiseite.
Stattdessen beschrieb er die Krise des Kapitalismus als ordnungspolitisches Problem. Vor dem Hintergrund von Hyperinflation, Weltwirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit und anschliessend Nationalsozialismus, Diktatur und neuerlichem Krieg konzentrierte er sich auf die Konzeption einer Ordnung, ohne die der Kapitalismus «weder seine starken Kräfte entfalten noch überhaupt funktionieren kann». Den Auftakt machte sein 1932 erschienener Aufsatz «Staatliche Strukturwandlungen und die Krisis des Kapitalismus».
Was die Wirtschaft reguliert
Die Verhältnisse der Weimarer Republik waren für die Entwicklung von Euckens ordnungspolitischem Denken konstitutiv gewesen. Er hatte beobachtet, wie die Regierung den Wünschen der Wirtschaft willfährig war, Monopole und Kartelle genehmigte, Subventionen vergab und Preise festlegte. So hatte sich, wie er formulierte, «unter sehr starker Ausdehnung des Staatsapparates ein Ineinanderwachsen von Staat und Wirtschaft, von Staat und Gesellschaft überhaupt» vollzogen.
Diese Diagnose könnte einen ins Grübeln bringen. Was Eucken beschrieb, klingt aus der Gegenwart vertraut. Ein solcher Staat, mahnte er, verliere seine ordnende Kraft, und das Preissystem verliere seine Wirkung als wichtigster «Regulator der Volkswirtschaft». Alle verzerrenden staatlichen Eingriffe ins Preisgefüge seien schädlich.
Die Frage, wie eine gedeihliche Ordnung zu sichern wäre und wie sich eine Zusammenballung privater wirtschaftlicher Macht verhindern liesse, bestimmte fortan Euckens Forschungsprogramm. Die Früchte seiner Mühen veröffentlichte er in dem Buch «Die Grundlagen der Nationalökonomie». Um eine Brücke zwischen der Historischen Schule und den modernen Theoretikern zu schlagen, hatte er eine analytische Morphologie der Wirtschaftsformen entwickelt, an deren Polen die Markt- oder «Verkehrswirtschaft» und die Plan- oder «Zentralverwaltungswirtschaft» einander gegenüberstanden.
Leben nach ethischen Prinzipien
Zugleich präsentierte Eucken seinen wichtigen Gedanken einer «Interdependenz der Ordnungen», der gegenseitigen Abhängigkeit von Rechtsordnung, Wirtschaftsordnung und gesellschaftlicher Ordnung. Die Planwirtschaft erkannte er als notwendig totalitär, und der deutsche Weg ins Verderben bestätigte ihn. Das Buch, das sein grosser theoretischer Wurf sein sollte, erschien 1940, als in Deutschland bereits das Licht ausgegangen war.
Eucken gelang in dieser schweren Zeit der Balanceakt, sich weder aus der wissenschaftlichen noch aus der wirtschaftspolitischen Diskussion zurückzuziehen und sich dennoch dem akademischen Widerstand anzuschliessen. Schon seit der Pogromnacht 1938 traf er regelmässig mit Mitstreitern in Freiburger Widerstandskreisen zusammen – dem Freiburger Konzil, der Arbeitsgemeinschaft Beckerath und dem Bonhoeffer-Kreis.
Hier entstanden Entwürfe für eine Nachkriegsordnung. Euckens theoretisches wie auch praktisches Ziel war eine Wettbewerbsordnung, die eine Zusammenballung von Macht verhindert und so den Menschen wieder «das Leben nach ethischen Prinzipien ermöglicht». Nach diesem Konzept muss sich der Staat auf die Definition und Durchsetzung geeigneter «Spielregeln» beschränken und sich der Eingriffe ins wirtschaftliche «Spiel» selbst meist enthalten.
Solide Politik
Nach dem Krieg war der mutige, integre, politisch unbelastete Nationalökonom ein gefragter Berater für die Alliierten und schliesslich auch für Ludwig Erhard, den politischen Vater des sogenannten Wirtschaftswunders. Wenn Westdeutschland «wenigstens die ersten Stufen zu einer geläuterten Marktwirtschaft erklommen hat, so ist das Verdienst, das dabei Walter Eucken zuzumessen ist, nicht hoch genug zu veranschlagen», schrieb Röpke, als 1950 des Freundes Herz stillstand, kurz vor Abschluss einer Vortragsreise nach London.
Euckens dortige Vorträge, Bilanz seines Schaffens wie auch des durchlebten «Zeitalters der Misserfolge», sind wie seine früheren Krisendiagnosen Teil eines soeben erschienenen, hervorragend edierten Bandes seiner «Gesammelten Schriften». Diese werden nunmehr, bald ein Dreivierteljahrhundert nach seinem Tod, in einem Grossprojekt aus dem Nachlass erschlossen.
Seine Wettbewerbsordnung wiederum ist in Euckens 1952 postum veröffentlichten «Grundsätzen der Wirtschaftspolitik» genau ausbuchstabiert. Seine «konstituierenden Prinzipien» unverzerrter Preise, stabilen Geldes, offener Märkte, des Eigentums, der Vertragsfreiheit, der Haftung und einer stetigen Wirtschaftspolitik eignen sich nach wie vor als Prüfsteine für eine ordnungspolitisch solide Politik.
Ein rasch wirkendes Heilmittel angesichts geopolitischer oder ökologischer Zuspitzungen sind sie nicht. Aber sie helfen auch in der heutigen Krisenzeit, die mit allen anderen Sphären des gesellschaftlichen Lebens zusammenhängende Teilordnung der Wirtschaft vor einer fatalen Wendung zu bewahren.
Karen Horn lehrt ökonomische Ideengeschichte an der Universität Erfurt. – Der Band mit Essays von Walter Eucken ist unter dem Titel «Freiheit, Staat und Sozialismus» im Verlag Mohr Siebeck erschienen.