Israel schafft es nicht, eine ausreichende Nahrungsmittelversorgung der Palästinenser im Küstenstreifen sicherzustellen. Woran liegt das?
Nach den erschreckenden Bildern schritt Washington zur Tat: Seit Samstag werfen amerikanische Militärmaschinen Nahrungsmittel aus der Luft über Gaza ab. Offenbar vertrauen die Amerikaner nicht mehr darauf, dass Israel es schafft, über den Landweg genug humanitäre Hilfe nach Gaza zu bekommen.
Die Abwürfe aus der Luft waren auch eine Reaktion auf eine Tragödie, die sich am vergangenen Donnerstag im nördlichen Gazastreifen ereignete. Tausende ausgehungerte Palästinenser stürmten dort einen Hilfskonvoi. Nach Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums starben 118 Menschen, mehrere hundert wurden verletzt.
Die palästinensische Seite spricht von einem Massaker, verursacht durch Schüsse israelischer Soldaten. Laut Israel starben die meisten Menschen in der Massenpanik, als sie entweder totgetrampelt oder überfahren wurden. Von der israelischen Armee veröffentlichte Drohnenaufnahmen zeigen, wie Menschenmassen auf die Lastwagen zuströmen, um einen Sack Mehl zu ergattern.
Es bleibt unklar, wie sich der Vorfall letztlich zugetragen hat. Doch er zeigt, wie verzweifelt die hungrigen Menschen in Gaza sind. Die zusätzliche Hilfe aus der Luft ist bisher aber nur ein Tropfen auf den heissen Stein. Der erste Abwurf von 38 000 Mahlzeiten der USA am Samstag entspricht einer kleinen Lkw-Ladung.
Dass die USA, aber auch Jordanien und weitere arabische und europäische Länder nun dazu übergehen, Hilfsgüter mit Fallschirmen abzuwerfen, hat einen einfachen Grund. Die Sicherheitslage im Norden Gazas ist so angespannt, dass nur wenige Hilfstransporte die Region erreichen.
Ausserdem hat die Zahl der Lastwagen, die Gaza erreichen, im Februar stark abgenommen. Erst seit wenigen Tagen steigt sie wieder. Ende November erklärte sich Israel auf internationalen Druck hin bereit, täglich 200 Lastwagen nach Gaza passieren zu lassen. Im Februar wurde diese Anzahl an nur vier Tagen erreicht.
Nachdem der blutige Vorfall am vergangenen Donnerstag die internationale Aufmerksamkeit erneut auf die humanitäre Lage in Gaza gelenkt hatte, gelangten wieder mehr Camions mit Hilfsgütern in das Küstengebiet. Am 3. März sollen laut israelischen Behörden 277 Lastwagen Gaza erreicht haben, so viele wie noch nie seit Beginn des Kriegs. Doch woran liegt es, dass über eine so lange Zeit so wenig Hilfe in den Gazastreifen gelangte?
Die wichtigsten Gründe
- Nur zwei Grenzübergänge sind geöffnet: Nach dem Hamas-Massaker am 7. Oktober hatte Israel den Gazastreifen zunächst komplett abgeriegelt. Ende Oktober erlaubte die israelische Regierung erste Hilfslieferungen durch den Rafah-Übergang an der ägyptischen Grenze. Ende November erklärte sie sich auf internationalen Druck hin bereit, auch den Grenzübergang Kerem Shalom zu öffnen. Der Erez-Grenzübergang im Norden Gazas bleibt geschlossen. Gerade im Norden ist die humanitäre Lage aber besonders prekär – Lastwagen auf dem Weg dorthin müssen bis jetzt noch das aktive Kampfgebiet im Süden durchqueren, was Lieferungen erschwert.
- Israels aufwendige Kontrollen: Viele der Lieferungen verzögern sich, da israelische Soldaten alle Lastwagen genau kontrollieren. Sogenannte Dual-Use-Güter – also zivile Gegenstände, die auch militärisch genutzt werden können – dürfen nicht in den Gazastreifen gebracht werden. Dazu gehören laut dem Welternährungsprogramm der Uno allerdings auch Kinderspielzeug, Generatoren, aufblasbare Wassertanks und Krücken. Nach Angaben des Uno-Nothilfekoordinators Martin Griffiths haben israelische Behörden sogar noch mehr Objekte auf die Liste der verbotenen Güter aufgenommen. Der amerikanische Senator Chris Van Hollen, der den Grenzübergang Rafah besucht hat, nannte Israels Kontrollen Anfang Januar arbiträr. Laut israelischen Behörden trifft es nicht zu, dass Israel pauschal Hilfsgüter zurückweist. Seit Kriegsbeginn seien nur 1,5 Prozent der Lastwagen abgewiesen worden, da sie verbotene Gegenstände geladen hätten.
- Die angespannte Sicherheitslage im Norden: Am 20. Februar teilte das Welternährungsprogramm der Uno mit, dass es seine Lieferungen in den nördlichen Gazastreifen einstelle. Wegen der «Gewalt und des vollständigen Zusammenbruchs der öffentlichen Ordnung» in dem Gebiet könnten bis auf weiteres keine Transporte durchgeführt werden. Nachdem mehrere Lastwagen geplündert worden seien und die Fahrer teilweise unter Beschuss hätten Hilfe verteilen müssen, könne die Organisation die Sicherheit der Mitarbeiter nicht mehr gewährleisten.
- Blockierte Hilfslieferungen: Seit Wochen blockieren israelische Aktivisten Hilfslieferungen am Grenzübergang Kerem Shalom. Ihrer Ansicht nach erreichen die Hilfsgüter nicht die hungernde Zivilbevölkerung, sondern fallen in die Hände der Hamas. Israel werde dazu gedrängt, seinen Feind zu unterstützen, argumentieren sie. Obwohl Israel den Grenzübergang zur militärischen Sperrzone erklärt hat, werden die Proteste oftmals von Polizei und Militär nicht verhindert.
- Fehlender politischer Wille: Offenbar ist die israelische Regierung nicht gewillt, den Protesten in Kerem Shalom ein Ende zu setzen. Die derzeitige Regierung, an der rechtsextreme Minister beteiligt sind, sperrt sich gegen eine Ausweitung der Hilfslieferungen. So blockierte Finanzminister Bezalel Smotrich Mitte Februar Mehllieferungen für Gaza, die am Hafen von Ashdod ankommen sollten. Diese sollten vom Hilfswerk UNRWA verteilt werden. Laut Smotrich gelangten die Hilfsgüter so in die Hände der Hamas. Israelische Medien berichten, dass die Armee zwar die Mittel hätte, die Zivilbevölkerung adäquat zu versorgen. Die Politik gebe ihr jedoch keinen Auftrag, die Hilfe auszuweiten.
- Die Mehrheit der Israeli lehnt Hilfslieferungen ab: Die Regierung tut auch so wenig, weil sie weiss, dass jede Ausweitung der Hilfslieferungen unpopulär ist. Laut einer Umfrage des Israel Democracy Institute von Mitte Februar lehnen 70 Prozent der jüdischen Israeli Hilfslieferungen nach Gaza ab. Unter jenen, die sich als politisch rechtsgerichtet einstufen, sind es sogar 80 Prozent. «Für die meisten Israeli sind alle Bewohner von Gaza Feinde», sagt Tamar Hermann. Die israelische Politikwissenschafterin hat die Umfrage durchgeführt. Hermann plädiert dafür, die israelische Seite zu verstehen. «Wir in Israel sind die Opfer dieses Angriffs. Am 7. Oktober haben auch normale Menschen aus Gaza, die nicht zur Hamas gehörten, geplündert und vergewaltigt», sagt sie. «Es ist sehr einfach, in London, Washington oder Oslo zu sitzen und bei dieser Frage nur eine Seite zu sehen.»
Der zunehmende internationale Druck auf Israel scheint aber etwas zu bewirken. Laut internationalen und israelischen Medien werden die Vereinigten Arabischen Emirate schon bald Hilfe über den Seeweg aus Zypern nach Gaza bringen können. Auch diese Lieferungen inspiziert Israel, bevor sie den Küstenstreifen erreichen. Die Nachrichtenagentur Associated Press berichtet zudem unter Berufung auf einen anonymen israelischen Beamten, dass Israel ab Freitag 20 bis 30 Lastwagen mit Hilfsgütern über einen neuen Übergang im Norden in den Gazastreifen passieren lassen werde.