Israel hatte sich von der neuen deutschen Regierung bedingungslose Unterstützung erwartet. Berlins Chefdiplomat enttäuscht die Netanyahu-Regierung – und steht inhaltlich in der Kontinuität seiner grünen Amtsvorgängerin.
Während Johann Wadephul am Sonntag die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem am Stadtrand von Jerusalem besucht, setzt sich ein junger Mann mit weissem T-Shirt ans Klavier im Jerusalemer Hauptbahnhof. Er spielt HaTikvah – die israelische Nationalhymne. Um ihn herum laufen Dutzende junge Männer und Frauen mit umgehängtem Sturmgewehr und in olivgrüner Uniform. Sie sind unterwegs zu ihren Einsatzorten.
Die Antrittsvisite des neuen deutschen Aussenministers in Israel kommt zu einem entscheidenden Zeitpunkt: Derzeit werden Zehntausende israelische Reservisten mobilisiert. Israels Regierung hat beschlossen, den Gaza-Krieg massiv auszuweiten und Teile des Küstenstreifens womöglich langfristig zu besetzen. Deutschlands Bundeskanzler Friedrich Merz drückte angesichts dessen und der humanitären Lage im Gazastreifen seine «allergrössten Sorgen» aus.
So wandte sich auch sein Aussenminister Wadephul mit «ehrlichen und sorgenvollen Worten» nach dem Besuch in Yad Vashem an seinen israelischen Amtskollegen Gideon Saar. «Ich bin nicht sicher, ob so alle strategischen Ziele Israels erreicht werden können, ob dies langfristig der Sicherheit Israels dient», sagte Wadephul über die Kämpfe im Gazastreifen. Deutschland appelliere daran, dass Israel wieder ernsthafte Verhandlungen um einen Waffenstillstand führe.
Dann muss der israelische Botschafter auf die Bühne
Gerade für Merz und Wadephul sind diese Töne gegenüber Israel bemerkenswert. So waren es die Christlichdemokraten, die im Wahlkampf der Ampelregierung in Berlin überzogene Israel-Kritik vorwarfen. Kurz nach seinem Wahlsieg lud Merz gemäss einer Mitteilung des Büros von Benjamin Netanyahu den israelischen Regierungschef nach Deutschland ein – obwohl der Internationale Strafgerichtshof einen Haftbefehl gegen Netanyahu erwirkt hat und Deutschland ihn festnehmen müsste, sobald er deutschen Boden betritt.
Israel, das auf der internationalen Bühne immer isolierter ist, sah in der neuen deutschen Regierung einen der wenigen verbliebenen engen Partner – der sich mit Kritik an Israels Kriegsführung zurückhalten würde. Mit seiner ersten Reise ausserhalb von Europa schraubt der neue deutsche Aussenminister diese Erwartungen herunter. Schon der Beginn des öffentlichen Auftritts beider Aussenminister steht unter einem schlechten Stern.
Wegen eines technischen Fehlers kann die Übersetzerin Wadephul nicht verstehen, zunächst wechselt er zum Rednerpult von Gideon Saar, dann wird ihm ein neues Mikrofon gebracht. Als Wadephul zum dritten Mal ansetzt, scheint die Technik immer noch nicht zu funktionieren. Saar zitiert kurzerhand Ron Prosor, Israels Botschafter in Deutschland, auf die Bühne. Prosor flüstert dem Aussenminister als behelfsmässiger Simultanübersetzer die hebräische Übersetzung ins Ohr. «Sonst verstehen wir uns hervorragend», witzelt Wadephul in Richtung von Saar.
Staatsräson – und Kritik an Israels Regierung
Zwar stellt sich Wadephul in die Tradition von Angela Merkel, die 2008 sagte, die Sicherheit Israels sei deutsche Staatsräson. Das bedeute, dass Deutschland bei jeder Gefahr und der Infragestellung des Existenzrechts von Israel an der Seite des jüdischen Staats stehe, sagt Deutschlands Chefdiplomat. «Das heisst nicht, dass Kritik und Verhalten an Personen des öffentlichen Lebens, Parteien oder auch der Regierung verboten wäre.»
Kurz darauf erinnert der Unionspolitiker an die grosse menschliche Not im Gazastreifen, kritisiert den völkerrechtswidrigen Siedlungsausbau im Westjordanland und stellt sich hinter den arabischen Friedensplan für Gaza. Diesen lehnt Israel ab, weil er eine starke Rolle der Palästinensischen Autonomiebehörde bei der Verwaltung des Gazastreifens vorsieht – und so womöglich die Gründung eines palästinensischen Staats vorwegnimmt.
«Gaza ist ein Teil der palästinensischen Gebiete», sagt Wadephul und erteilt den Siedlungsplänen rechtsextremer israelischer Minister damit eine klare Absage. Dem Dialog mit den Palästinensern bleibt Wadephul verpflichtet: Nach seinen Treffen mit Saar und Ministerpräsident Netanyahu fährt er nach Ramallah und spricht mit Mohammed Mustafa, dem Ministerpräsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde.
Kontinuität in der deutschen Nahostpolitik
Schliesslich erinnert Wadephul die Israeli daran, dass sie eine Verpflichtung zur Verteilung humanitärer Hilfsgüter hätten, «entlang den Prinzipien von Menschlichkeit, Unparteilichkeit und Neutralität». Das sagt der deutsche Aussenminister auch, weil sich der Wind in Europa langsam dreht. Vor wenigen Tagen stellte die niederländische Regierung das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und dem jüdischen Staat wegen der Blockade von Hilfslieferungen in den Gazastreifen infrage. Wadephul kann nicht an einem europäischen Streit über Israels Kriegsführung im Gazastreifen interessiert sein. Das brächte Deutschlands Aussenminister zwangsläufig in eine schlechte Lage.
Gideon Saar lauscht den Worten seines deutschen Amtskollegen ohne Regung und geht während der Medienkonferenz auf die von Wadephul genannten Punkte kaum ein. Der israelische Aussenminister bekräftigt, dass Deutschland und Israel eine besondere Beziehung verbinde. «Wir sehen Kanzler Merz und Sie als echte Freunde Israels», sagt Saar und kündigt einen Besuch in Deutschland im Juni an.
Trotz einem Regierungswechsel in Berlin hat sich offenbar am deutsch-israelischen Verhältnis nichts Grundlegendes geändert. Vielleicht ist Wadephuls Ton ein bisschen freundlicher als der seiner Amtsvorgängerin Annalena Baerbock. Doch die Pfeiler der deutschen Nahostpolitik bleiben dieselben: Staatsräson, Zweistaatenlösung, Kritik an der Siedlungspolitik. Ebenso wie in der Vergangenheit ist davon auszugehen, dass Israel die mahnenden Worte aus Deutschland schulterzuckend hinnimmt – und seine Kriegspläne wie angekündigt umsetzt.