Mit «Annie Hall» gewann die Schauspielerin Diane Keaton einen Oscar und unzählige Fans ihres eigenwilligen Stils. Ein neues Buch zeigt, wie sie ihn fand – und nicht wieder verlor.
Die grosse Frage in den modischen Nischen der sozialen Netzwerke ist gerade folgende: Wie finde ich meinen persönlichen Stil? Aussehen wie alle anderen, das ist nicht länger das Ziel. Stattdessen soll man seine ästhetische Essenz entdecken und mittels Mode man selbst sein. Nur fällt das vielen schwer.
Also zählen Tiktokerinnen Körperkategorien auf, in die man sich einteilen kann, um sich analog zu kleiden. Sie verschreiben Farbstudien, damit man ja nicht winterliche Töne anzieht, wenn einem eigentlich nur die Farben des Sommers stünden. Sie testen abenteuerliche Wortkombinationen, die die eigene modische Persönlichkeit möglichst treffend benennen sollen. Der Rat, den man ihnen geben möchte, besteht hingegen aus nur zwei Wörtern: Diane Keaton.
Zerstreuung als Stilmerkmal
Zwar würde Diane Keaton selbst dem vermutlich widersprechen. Das neue Buch der 78-jährigen Schauspielerin – so etwas wie eine modische Biografie, gekreuzt mit einem Fotoalbum, auf über 300 Seiten – ist voller Selbstkritik. Ein ganzes Kapitel von «Diane Keaton: Fashion First» widmet sich ihren vermeintlichen Fauxpas. Die kurzen Annotationen zu den Bildern im Buch drücken häufig Fassungslosigkeit ob ihrer Entscheidungen aus. Auch dass sie im Verlauf ihrer Karriere immer wieder einmal auf «Worst Dressed»-Listen landete, diesem Relikt der nuller Jahre, verschweigt Keaton nicht.
Trotzdem gilt sie seit ihren schauspielerischen Anfängen in den siebziger Jahren als Stilvorbild. «Annie Hall» (1977) war Keatons Durchbruch. Unter der Regie von Woody Allen spielt sie die charmant-zerstreute Titelfigur, eine junge Frau aus Chippewa Falls, Wisconsin, die in New York City fotografiert, schauspielert, singt und sich in den zweifach geschiedenen Alvy Singer (Allen) verliebt. Hall trägt Bundfaltenhosen und halb aufgeknöpfte Westen, breite Krawatten von ihrer Grossmutter und dünne Schals, runde Hüte auf dem Kopf und den Tennisschläger in einer Strandtasche. Sie mag noch auf der Suche nach ihrem Selbst sein und greift überall nach Identitätsfragmenten. Aber tief drin, so vermutet man, weiss sie schon ganz genau, wer sie ist. Ihre Kleider versprühen es förmlich.
Ein Teil der Garderobe stammte vom Designer Ralph Lauren, zusammengestellt von der Stylistin Ruth Morley. Doch «Annies Stil war Dianes Stil», schreibt Lauren im etwas kurz geratenen Vorwort zum neuen Buch: «sehr eklektisch». Und einflussreich: «Der Annie-Hall-Look taucht jetzt erstaunlich häufig auf den Strassen auf», schrieb die «New York Times» schon im Sommer 1977 und belegte es mit Fotografien von Bill Cunningham. Sie zeigen lächelnde Frauen in Westen und leicht zerknitterten Hemden. Ein Jahr später gewann Keaton für ihre Rolle den Academy Award als beste Schauspielerin.
Pixie-Cuts und Perlenkettenberge
Diane Keaton hatte im Alter von drei ihre erste Dauerwelle. Zum ersten Schultag trug sie ein helles Kleid mit Volants an den Ärmeln und einen akkurat geschnittenen Bob. Als erstes Kind ihrer Eltern sei sie auch die erste Puppe ihrer Eltern gewesen, schreibt sie im Buch. Doch bald weicht das Puppenhafte der Neugierde: Keaton, aufgewachsen im Kalifornien der fünfziger und sechziger Jahre, wollte aussehen wie Raquel Welch oder Brigitte Bardot (beides gelang ihr, wie sie sagt, nicht wirklich) und machte die nachmittäglichen Fotoshootings mit ihrer Mutter zum Hobby. Sie verbrachte mit ihrer Schwester Stunden in der amerikanischen Brockenstubenkette Goodwill und noch mehr Stunden damit, die Secondhand-Funde umzunähen, damit sie ihren Vorstellungen entsprachen.
Buchtipp
«Fashion First» von Diane Keaton
Mit einem Vorwort von Ralph Lauren und Beiträgen von Nancy Meyers, Sarah Jessica Parker und Kris Jenner. Rizzoli, 304 S., erschienen auf Englisch. Fr. 65.90, erhältlich etwa bei Orell Füssli.
Sie ist nicht immun gegen die Strömungen der Zeit, das zeigen ihr Pixie-Cut in den sechziger Jahren und ihre Perlenkettenberge der Achtziger. Aber nach und nach fand sie ihre Uniform. Diese bedient sich grosszügig bei der Männermode und begleitet sie bis heute, wo sie etwas schwarz-weisser und schärfer geschnitten ist. Es ist Mode, die mehr mit Geschmack und Abenteuerlust zu tun hat als mit Selbstoptimierung und farblichen Jahreszeiten.
Mode als Balsam
Mit ihrer Vorliebe für Handschuhe und hohe Kragen galt Diane Keaton fortan als eine modische Anomalie im körperbetonten, paillettenbesetzten Hollywood. Im Buch sagt sie es so: «Wenn ich meinen sogenannten ‹Streetstyle› beschreiben sollte, würde ich sagen: VERSTECKE MEINEN GESAMTEN KÖRPER, einschliesslich meiner Augen, meiner Nase, meines Mundes, meiner Beine und des Rests von mir.»
Solche Aussagen werden in «Fashion First» nicht weiter hinterfragt oder untersucht. Ebenso wenig wird modehistorisch eingeordnet (wo sind Marlene Dietrich und Katharine Hepburn?). Das ist eine verpasste Chance für etwas mehr Einsicht. Es ist aber auch realistisch. Unsere Kleidung enthüllt nun einmal unsere Unsicherheiten und Neurosen, indem wir sie als Balsam nutzen. Diane Keaton mag ihre Haare und ihre Stirn nicht, so schreibt sie, also trägt sie Hüte. Sie habe keine Taille (also: Mäntel mit formgebenden Gürteln) und hässliche Knie (also: lange Jupes und Hosen). Die totale Freiheit, die besitzt auch sie nicht. Aber das macht kreativ.
Dafür besitzt sie also eine Hahnenfussbrosche, entenschnabelförmige Mary-Janes mit Plateausohle und sehr viele schwarze Ledergürtel, alle ähnlich, aber doch anders. Statt die Showroom-Besuche und ausgeklügelten Styling-Strategien, die heute das modische Leben von vielen Schauspielerinnen und Schauspielern prägen, hat sie Selbstbestimmtheit. Man sieht es ihr an. Und vielleicht möchte man es ihr nachmachen.