Sie sind geschwächt, aber nicht besiegt: Ein Jahr nach Beginn des Gazakrieges sind die islamistischen Milizen immer noch handlungsfähig.
Die israelischen Geiseln aus den Händen der Hamas befreien und die Terrororganisation zerschlagen – mit diesem Ziel hat Ministerpräsident Benjamin Netanyahu nach dem Massaker vom 7. Oktober einen grossen Teil der Israeli hinter sich versammelt. Er schwor sein Land auf einen schnellen und entscheidenden Krieg ein. Mehr als ein Jahr später ist klar: Nicht nur die Hamas, auch der Hizbullah in Libanon sind wegen ihrer asymmetrischen Kriegsführung schwerer zu schlagen, als die israelische Führung gehofft haben dürfte.
In den vergangenen Wochen ist es Israel aber gelungen, wichtige Führungsfiguren der beiden Milizen auszuschalten. Bei vielen kam in der Folge die Hoffnung auf, dass dies den Weg zu einem Ende der Feindseligkeiten beschleunigen könnte. Doch sowohl in Libanon als auch im Gazastreifen tobt weiterhin der Krieg. Die Frage stellt sich: Weshalb setzen die Hamas und der Hizbullah ihren Kampf fort – und wie stellen sie sich nach dem Tod ihrer Anführer auf?
Der Guerillakampf ist effektiv
Die islamistische Hamas im Gazastreifen ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Nach mehr als einem Jahr Krieg können ihre Kämpfer eigentlich nicht mehr koordiniert operieren. Nach Angaben der israelischen Streitkräfte ist die Truppe als militärische Organisation besiegt. «Die Hamas organisiert sich jetzt vor allem in kleinen Gruppen – wie im Norden des Gazastreifens», sagt Guido Steinberg, Terrorismus-Experte von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.
Die Terrormiliz setzt ihren Kampf mit den wenigen Mitteln fort, die ihr noch zur Verfügung stehen: Kalaschnikows, Panzerabwehrwaffen, Scharfschützen und vor allem eine grosse Anzahl von Kämpfern. Obwohl die israelischen Streitkräfte nach eigenen Angaben Tausende von Hamas-Kämpfern im Gazastreifen getötet haben, wird geschätzt, dass eine beträchtliche Anzahl noch am Leben und kampffähig ist.
Der Umstand, dass sich der Krieg im Gazastreifen zu einem Guerillakampf entwickelt hat, spielt der Hamas in die Hände. Es ist eine effektive und schwer zu bekämpfende Art der Kriegsführung, die auch mit schlechter Ausrüstung über eine lange Zeit aufrechterhalten werden kann. So deutet zurzeit wenig darauf hin, dass Israel seine erklärten Kriegsziele bald erreichen kann. Denn auch eine Kapitulation der Hamas, wie sie Benjamin Netanyahu immer wieder fordert, zeichnet sich nicht ab.
Die Hamas will 2025 einen neuen Chef ernennen
Auch die Tatsache, dass die Führungsriege der militant-extremistischen Organisation im Laufe des vergangenen Jahres massive Verluste erlitten hat, scheint die Hamas nicht umgestimmt zu haben. Ende Juli hatte Israel den 62-jährigen Politbüro-Chef der Hamas, Ismail Haniya, in einem Gästehaus der iranischen Regierung in Teheran getötet. Zwei Monate später töteten israelische Soldaten – eher zufällig – auch den langjährigen Gaza-Chef der Hamas, Yahya Sinwar. Er galt als Architekt des Massakers vom 7. Oktober und war nach Haniyas Tod zum Interimsführer der gesamten Organisation bis zur nächstmöglichen Wahl ernannt worden.
Die Eliminierung Sinwars gehörte ebenfalls zu den erklärten Kriegszielen der israelischen Regierung. Ministerpräsident Benjamin Netanyahu sprach daraufhin vom «Anfang vom Ende» des Gazakriegs. Bislang hat die Gruppe zwar darauf verzichtet, einen neuen Chef zu ernennen – eine Entscheidung, die manche als Schwäche deuten. Aber der Organisation mangelt es nicht an Kandidaten – im Gegenteil. Im Gespräch sind unter anderem Sinwars Stellvertreter Khalil al-Haya und Khaled Mashal. Letzterer hatte die Hamas schon von 1996 bis 2017 geführt.
Die Hamas will laut NZZ-Quellen 2025 einen neuen Chef ernennen – «wenn die Umstände es erlauben», wie es heisst. Damit dürfte ein Ende des Krieges im Gazastreifen gemeint sein. Bis die Führungsriege der Hamas in einer geheimen Wahl einen neuen Anführer bestimmt, soll ein mehrköpfiges Gremium die Kriegsführung der Hamas anleiten. Die Hamas hat in der Vergangenheit gezeigt, dass sie sich von der Tötung ihrer Anführer kaum beeindrucken lässt. Jedes Mal wurden schnell Nachfolger ernannt.
Zwar wurden in den vergangenen Tagen wieder erste Verhandlungen rund um einen Waffenstillstand geführt. Doch Vertreter der Hamas haben verlauten lassen, dass sich ihre Bedingungen auch nach dem Tod von Sinwar nicht geändert haben. So fordert die Hamas den vollständigen Rückzug der israelischen Armee aus dem Gazastreifen, die Freilassung palästinensischer Häftlinge aus israelischen Gefängnissen, Hilfslieferungen in den gesamten Gazastreifen und ein Ende des Krieges.
Auf ein verbindliches Kriegsende will sich hingegen Israel nicht einlassen. Es bleibt also fraglich, ob sich die beiden Kriegsparteien in naher Zukunft auf ein Ende der Kämpfe einigen können. Obwohl sie extrem geschwächt ist, scheint die Hamas die Hoffnung nicht aufgegeben zu haben, den Israeli Kompromisse aufzwingen zu können und damit zumindest einen Teil ihrer Macht im Gazastreifen zu behalten.
Der Hizbullah ist immer noch handlungsfähig
Auch dem Hizbullah gelingt es weiterhin, den Israeli schmerzhafte Verluste zuzufügen. Allein am vergangenen Donnerstag wurden sieben Menschen in Nordisrael getötet, als insgesamt 50 Raketen aus Libanon einschlugen. In Südlibanon wiederum steigt die Zahl der getöteten israelischen Soldaten. Dort geht die israelische Armee seit Anfang Oktober mit einer Bodenoffensive gegen den Hizbullah vor.
Der Hizbullah galt als grösste nichtstaatliche bewaffnete Gruppe der Welt und als schlagkräftiger als die libanesische Armee. Doch nach den unerbittlichen Bombardierungen hat sie viele ihrer Fähigkeiten eingebüsst. Laut israelischen Angaben wurde ein grosser Teil des Raketenarsenals der Miliz zerstört. Die Pager-Explosionen im September sowie die Tötung von Hizbullah-Chef Hassan Nasrallah und weiten Teilen der Führungsriege der Miliz Ende September haben den Hizbullah zusätzlich geschwächt.
«Von den Pager-Attacken wurden offenbar auch grosse Teile des mittleren Managements getroffen», sagt Terrorismus-Experte Steinberg. «Wir wissen aber nicht, wie viele es wirklich waren – es wurden ja auch Familienangehörige verletzt oder getötet. Deswegen sind die Folgen für die Führungsstruktur nicht ganz klar.» Anders als die Hamas verfügt der Hizbullah inzwischen aber wieder über einen Chef: Am vergangenen Dienstag wurde Naim Kassem zum Generalsekretär der schiitischen Miliz ernannt.
«Die Befehlsstrukturen sind nicht klar»
Kassem gehört dem Hizbullah schon seit Jahrzehnten an und war seit 1991 stellvertretender Generalsekretär hinter Nasrallah. Der 71-Jährige gilt aber als weitaus weniger einflussreich als sein charismatischer Vorgänger. «Wahrscheinlich bedeutet das für den Hizbullah grösseren iranischen Einfluss», sagt Steinberg. «Wir dürfen aber nicht vergessen, dass auch die Iraner geschwächt sind und die Israeli alles Mögliche tun, um diesen iranischen Einfluss möglichst gering zu halten.»
Iran unterstützt den Hizbullah mit Waffen, Geld und bei der Ausbildung von Kämpfern. Die schiitische Miliz gilt als wichtiger Verbündeter Irans in der sogenannten Achse des Widerstands, zu der sich auch schiitische Milizen im Irak und in Syrien und die Huthi in Jemen zählen. Dennoch hatte Nasrallah immer Wert gelegt auf die Eigenständigkeit der Organisation. Wie unabhängig der Hizbullah nach dessen Tod agieren kann, ist noch nicht absehbar.
«Der Hizbullah operiert jetzt unter erschwerten Bedingungen – ganz einfach deshalb, weil die Befehlsstrukturen nicht klar sind», sagt Terrorismus-Experte Steinberg. «Aber die Tatsache, dass die Miliz noch Flugkörper abschiesst, mit denen sie auch gezielt angreifen kann, ist ein Indiz dafür, dass die Organisation nach wie vor handlungsfähig ist.»
Auch in Libanon laufen derzeit Verhandlungen über einen Waffenstillstand mit Israel. Der jüdische Staat beharrt darauf, dass sich der Hizbullah zurückziehen und entwaffnen muss – und fordert, auch weiterhin militärisch gegen den Hizbullah vorgehen zu können. Doch für die schiitische Miliz, deren Machtbasis nicht zuletzt in Südlibanon liegt und die ihre bestimmende Rolle im libanesischen Staat mit seinen zahlreichen Konfessionsgruppen nicht einbüssen will, sind diese Forderungen kaum akzeptabel. Der Hizbullah und die Hamas kämpfen vorerst weiter, weil es für sie ums Überleben geht.