Iran baut unbeirrt sein Nuklearprogramm aus und hat die Bombe bereits in Griffnähe. Die Internationale Atomenergieagentur ist jene Behörde, die dies eigentlich verhindern sollte. Ihr Chef Rafael Grossi erläutert im Gespräch, weshalb ihm die Hände gebunden sind.
Herr Grossi, die Befürchtung ist gross, dass Iran heimlich Atomwaffen entwickelt. Haben Sie Hinweise darauf, dass das Land Ihre Inspektoren täuscht und bei seinen Deklarationen betrügt?
Das Wort «betrügen» würde ich nicht benutzen – was ich meine, ist Folgendes: Die Internationale Atomenergieagentur (IAEA) hat den Einblick in wichtige nukleare Aktivitäten Irans verloren. Dieser Einblick wäre nötig für uns, um den nichtmilitärischen Charakter des Atomprogramms zu bestätigen. Aber wir werden daran gehindert. Das macht es schwierig für mich, zu sagen, dass Irans Deklarationen vollständig und korrekt sind.
Was ist Ihre Hauptsorge?
Iran ist abgesehen von den Atomwaffenstaaten das einzige Land der Welt, das Uran auf ein militärisches Niveau anreichert – oder zumindest auf ein fast militärisches. Der Unterschied zwischen den jetzigen 60 Prozent in Iran und den für Atomwaffen benötigten 90 Prozent ist eigentlich bloss ein technisches Detail.
Gibt es denn für Uran mit einem Anreicherungsgrad von 60 Prozent eine legitime zivile Verwendung?
Iran behauptet das, aber in der Realität sehen wir keinerlei Anwendung, die solch riesige Mengen von hochangereichertem Uran rechtfertigen würde. Hinzu kommt die Erfahrung der Vergangenheit: Iran hat schon früher nachweislich seine Verpflichtungen im Rahmen des Atomwaffensperrvertrags nicht erfüllt.
Bereits mehr als 20 Jahre lang . . .
Ja, wir blicken auf eine Geschichte voller Lücken in diesen Deklarationen zurück. Diese bittere Erfahrung machten wir schon mit dem Irak in den neunziger Jahren; wir sollten nicht denselben Fehler wiederholen. Ich sage den Iranern deshalb: Wir haben kein Vertrauen. Ihr könnt noch hundert Mal wiederholen, dass mit eurem Atomprogramm alles in Ordnung sei, aber das Vertrauen fehlt, aus gutem Grund.
Sie sagen, dass Sie Einblick in wichtige nukleare Aktivitäten Irans verloren haben. Könnte es also sein, dass Iran heimlich irgendwo Uran anreichert oder eine Bombe baut?
Das wäre ein zu weitreichender Schluss. Wir haben keinerlei Informationen darüber, dass die Iraner ein geheimes, paralleles Atomprogramm verfolgen. Ein solches Programm existierte zwar nach unseren Erkenntnissen in der Vergangenheit, aber so etwas ist heute nicht erkennbar. Gleichzeitig gibt es aber all diese Aktivitäten, die nicht völlig losgelöst sind von einem möglichen Atomwaffenprogramm: die Vorräte an hochangereichertem Uran, die Fähigkeit zur Produktion von Uran-Zentrifugen der neusten Generation, die Geschwindigkeit, mit der die Iraner vorgehen. All dies schafft ernsthafte Bedenken. Deshalb brauchen wir Klarheit, bevor es zu einem völligen Kollaps der Überwachung kommt.
Ein prominentes Mitglied des Regimes, der frühere Leiter der iranischen Atombehörde Ali Akbar Salehi, hat erklärt, dass sein Land alle Bestandteile für eine Atombombe habe. Es müsse sie nur noch zusammensetzen.
So etwas geht nicht. Das habe ich den Iranern bei meinem kürzlichen Besuch in Teheran gesagt. Es ist ja sogar noch schlimmer – sogar der jetzige Leiter der Atombehörde hat etwas Ähnliches angedeutet. Iran darf als Mitglied des Atomsperrvertrags keine solchen Aussagen machen. Wenn die Iraner sagen, dass sie alles Nötige für eine Bombe besitzen, zeigen sie, dass sie nicht alles gegenüber der IAEA offengelegt haben. Solche rhetorischen Spiele sind inakzeptabel, wenn es um Atomwaffen geht. Denn sie schüren Befürchtungen und lösen möglicherweise Gegenreaktionen von anderen aus. Da können wir nicht schweigen.
Schauen wir uns das Worst-Case-Szenario an: Laut Experten-Berechnungen kann Iran innert einer Woche genug Spaltmaterial für eine Bombe anreichern und innert eines Monats für acht Bomben. Würden Ihre Inspektoren das rechtzeitig entdecken?
Der Bau einer Atombombe selber wäre illegal und würde logischerweise im Geheimen geschehen. Was hingegen die dafür nötige Uran-Anreicherung betrifft, so haben wir in diesem Bereich vollen Einblick. Wir würden solche Aktivitäten innert Tagen feststellen.
Weniger Einblick haben Sie aber bei den Uran-Vorräten, nicht wahr?
Und vor allem bei der Herstellung von Zentrifugen. Früher, solange das Atomabkommen mit Iran noch galt, gab es da volle Transparenz, aber jetzt nicht mehr. Einblick in die Produktion von Zentrifugen ist mindestens so wichtig wie das Spaltmaterial selber. Denn wenn es Tausende von hochmodernen Zentrifugen irgendwo in einer Scheune gibt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis damit angereichert wird.
Der IAEA-Gouverneursrat, das höchste Gremium Ihrer Organisation, hat Iran kürzlich eine Rüge erteilt. Was ändert das?
Der Gouverneursrat repräsentiert die Mitgliedstaaten der IAEA, und so spiegelt die Rüge die Frustration in vielen Ländern über den Mangel an Resultaten. Diese Resolution ruft Teheran dringend dazu auf, besser zu kooperieren.
Dasselbe wird nun schon seit Jahren gesagt, trotzdem sind wir immer noch am selben Punkt.
Wenn nicht schlimmer: Iran hat inzwischen mehr Spaltmaterial und mehr technisches Know-how. Auch die Bemühungen, das Atomabkommen von 2015 mit Iran wiederzubeleben, sind gescheitert, begleitet von gegenseitigen Anschuldigungen. Anders als noch vor drei Jahren ist zudem klar, dass man nicht einfach zu jenem Atomabkommen zurückkehren kann, sondern es grundlegend erneuern müsste. Denn Irans Technologie hat seither Lichtjahre an Fortschritten gemacht.
Die IAEA könnte im Fall Iran theoretisch den Uno-Sicherheitsrat einschalten, aber das würde nichts bringen, weil dort Russland alles blockieren kann.
Exakt. Das ist eine der negativen Folgen der gegenwärtigen geopolitischen Spannungen und ein weiterer Rückschritt gegenüber früher. In der Vergangenheit konnte ich mich als IAEA-Generaldirektor stets auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner unter den Vetomächten des Sicherheitsrates verlassen und darauf, dass sie im Falle eines iranischen Fehlverhaltens als Einheit reagieren würden. Das ist jetzt nicht mehr der Fall.
Werden wir gerade Zeuge, wie die ganze vertragliche Architektur der Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen aus dem 20. Jahrhundert zusammenbricht?
Das damals geschaffene Überwachungsregime ist wichtiger denn je. Aber die Anziehungskraft von Atomwaffen wächst. All die vertraglichen Verbote sind schön und gut, aber es gibt inzwischen mehr Staaten, die Atomwaffen wollen. Und jene, die die Bombe schon haben, bauen ihre Arsenale aus. Das schürt Zweifel und bringt manche Staaten zum Gedanken, dass sie sich vielleicht ebenfalls nuklear bewaffnen sollten.
Wächter über den Atomsperrvertrag
A. R. · Der 1970 in Kraft getretene Atomsperrvertrag regelt, dass ausser den fünf anerkannten Atomwaffenstaaten (USA, Russland, China, Grossbritannien und Frankreich) kein Vertragsstaat Atombomben erwerben darf. Die Mitglieder müssen sich bei der zivilen Nutzung der Kernkraft internationalen Kontrollen unterziehen. Für die Inspektionen verantwortlich ist die in Wien beheimatete Internationale Atomenergieagentur (IAEA). Ihr Generaldirektor, Rafael Mariano Grossi, leitet die Behörde seit 2019. Der 63-jährige argentinische Diplomat weilte kürzlich in der Schweiz, für einen Vortrag an der ETH Zürich und Gespräche mit Aussenminister Ignazio Cassis in Bern. Zu den grössten derzeitigen Herausforderungen der IAEA zählt der Atomstreit mit Iran und die Gefährdung der ukrainischen Atomkraftwerke durch Russlands Angriffskrieg.