Sie gehört zu den gefragtesten Kreativen in der neuen artifiziellen Welt. An Joanns surreal-flauschigen Kreationen haben auch Marken wie Gucci, Versace oder Karl Lagerfeld Gefallen gefunden.
Ein Tortenstück mit barocker Engelglasur, Croissants und Hamburger mit Blumendekor, ein Bett mit einer üppigen Decke aus Spiegeleiern – wann immer man im Netz über diese Bilder stolpert, bekommt man sofort Appetit: auf noch mehr von solchen seltsamen Kreationen, die natürlich nicht echt sind und doch irgendwie sehr sinnlich daherkommen.
«Joooo.ann» heisst der dazugehörige Instagram-Account einer KI-Künstlerin namens Joann mit Wohnsitz in Erewan, Armenien. In ihrem Feed finden sich auch zahlreiche Anzeigenmotive, darunter grosse Namen wie Gucci, Valentino oder Versace, sie wird von mehreren Agenturen vertreten, antwortet prompt auf E-Mails; aber sie dann tatsächlich für ein Video-Interview zu erwischen, gestaltet sich derart schwierig, dass man schon beinahe glaubt, diese Künstlerin sei ebenfalls KI-generiert. Das also war mit «enigmatic» gemeint, wie es in einem der wenigen Interviews mit der angeblich so «rätselhaften» Joann hiess.
Vor allem Natur und Essen lösten viele Reaktionen aus, meint die Künstlerin.
Über die Anfänge und die Arbeit als Künstlerin
Aber dann erscheint zumindest ihr Profilbild tatsächlich auf dem Bildschirm, und die Stimme dazu ist nicht nur echt, sondern auch die Künstlerin ist äusserst gesprächig. Nach Jahren auf Social Media sei sie nur einfach nicht mehr besonders «sozial» und teile statt Privatem lieber ihre Arbeiten, erklärt die 31-Jährige. Dass sie sich hinter einer Illustration und einem Pseudonym verschanzt – was soll man sagen, mit künstlichen Images kennt sie sich halt aus.
Gerade hat Joann einen typischen englischen Doppeldeckerbus als Fortsatz einer Gin-Flasche für die Marke Beefeater entworfen, ein Auftrag für Absolut Vodka steht bereits an, für GAP überzog sie Heissluftballons, Holzhütten und Knospen mit Jeansstoff, und diese flauschige, barockrosafarbene Strassenbahn für Versace, das war natürlich auch sie. Längst gehört Joann zu den gefragtesten ihres Fachs, wobei die Disziplin «AI Art» noch ganz am Anfang ihrer Entwicklung steht.
«Eigentlich habe ich alles, was ich jetzt mache, schon vorher gemacht, nur ohne die Hilfe von künstlicher Intelligenz», sagt Joan. Sie hat Linguistik studiert, als Grafikdesignerin und Illustratorin gearbeitet, Verpackungen und Kampagnen für grosse Marken entworfen und war schliesslich Designerin bei einer grossen IT-Firma in Armenien. «Wir entwickelten dort Chatbots, so kam ich mit Programmen wie Chat-GPT und Midjourney in Berührung. Ich weiss noch, dass ich drei Nächte nicht geschlafen habe, weil ich alles ausprobieren wollte und wie weggeblasen war, welche Bilderwelten sich mir da eröffneten», erzählt Joann. «Irgendwann sagte mein Freund: ‹Du musst doch mal raus, an die frische Luft›, aber ich war viel zu fasziniert, um aufzuhören.»
Joanns Bildkreationen haben etwas Traumhaftes, beinahe Poetisches.
Vor etwa zwei Jahren legte sie ihr Instagram-Profil an und postete die ersten Bilder, die sogleich viral gingen, sechs Monate später kündigte sie ihren Job und bekam bald darauf den ersten Auftrag für eine Online-Kampagne des italienischen Modelabels GCDS. Darin zogen sich Absätze der Highheels wie Zähne auseinander und offenbarten Treppenstufen dazwischen, Handtaschen bekamen Eingänge wie zu einem Raumschiff. Die Bilder erreichten nicht nur bei den Nutzern grosse Aufmerksamkeit, sondern auch bei anderen Marken. Vor allem seit Joanns Zusammenarbeit mit Gucci im November 2023 reissen die Aufträge nicht mehr ab, zumal digitales Marketing neben klassischen Printanzeigen immer wichtiger wird.
Ist «AI Art» richtige Kunst?
«Am Anfang dachte ich eigentlich nur, ich hätte das perfekte Hobby für mich gefunden. Mit KI zu arbeiten, kann sehr spielerisch sein», findet Joann. «Du gibst bestimmte Prompts ein und wartest ab, was das Programm aus deinen Aufforderungen macht. Dann änderst du das eine oder andere Wort und schaust, wie es das Ergebnis verändert. Vielleicht macht sich der Hamburger besser auf einem Busch als auf einem Baum, oder French Fries passen eigentlich viel besser in die Szenerie.»
«Ich war immer dafür, neue Möglichkeiten verstehen zu lernen, statt sie pauschal abzulehnen. Wenn du sie nicht nutzt, tut es jemand anderes.»Joann
Das erste Resultat sei nie das beste, man müsse schon eine Weile experimentieren, und danach sei das Bild noch lange nicht fertig. «Ich weiss, dass viele Leute denken, KI sei keine richtige Kunst, weil man ja nur Befehle erteilt», sagt die Künstlerin. «Ein Freund, für den ich ein paar Illustrationen machen sollte, wurde richtig wütend, als ich dafür die KI nutzte, und sagte, das sei doch wie Schummeln. Aber ich bearbeite jedes Bild ja selbst weiter, wähle Filter aus, ändere die Farben, das Licht, die Texturen.»
Am Ende haben fast alle ihre Kreationen etwas Träumerisches, Flauschiges, beinahe Poetisches. Häuser und Brücken werden von fliessenden Stoffbahnen umschlungen, Wohnzimmer und Küchen sind mit Zuckerguss zugeschneit, Flugzeuge fliegen mit Fransen, Hängeschaukelbetten schweben sanft im Urwald, ein Pferd hat ein gehäkeltes Fell, aus Vasen wachsen Gummibärchen.
Der ganze Feed wirkt wie ein surreales Schlaraffenland, das offensichtlich viele Leute berührt. «Ich bekomme unglaublich viel Feedback für meine Arbeiten», sagt Joann. «Tiere funktionieren natürlich immer, aber vor allem Natur und Essen lösen viele Reaktionen aus.» Ausgerechnet die künstliche Intelligenz erschafft Bilder, die sehr reale Emotionen wecken. Sie sind unrealistisch, aber nicht vollkommen unwirklich. Sie spielen mit dem Surrealen.
KI verzerrt die Wirklichkeit und ist das surrealistische Kunstwerkzeug schlechthin.
Die neue Technik wird wahlweise verteufelt oder als grösste Errungenschaft seit der Erfindung des Rades gefeiert. Dazwischen gibt es wenig. Dass Joann eher zum zweiten Lager tendiert, ist nicht verwunderlich, schliesslich profitiert sie von den Möglichkeiten. Aber ihrer Meinung nach ist KI gerade in der Kunst vor allem ein weiteres neues Medium, ähnlich wie die Erfindung des Fotoapparats, der plötzlich auch ganz neue Bilder jenseits von Zeichnungen und Gemälden erzeugte.
«Ich war immer dafür, neue Möglichkeiten verstehen zu lernen, statt sie pauschal abzulehnen. Wenn du sie nicht nutzt, tut es jemand anderes», sagt Joann. Sie betrachte die KI wie eine Person, der man genau erklären müsse, was man von ihr wolle. «Je besser die KI mich versteht, desto besser sind die Ergebnisse.» Das «Prompting» sei das Geheimnis: In der richtigen Sprache liegt der Schlüssel zum Komponieren von Bildern.
Capsule-Collection für Karl Lagerfeld
Einer ihrer grössten Jobs im vergangenen Jahr war das Entwerfen einer Capsule-Collection für die Marke Karl Lagerfeld. Der Gründer selbst war bekanntlich grosser Fan neuer Technologien, deshalb wollte der Kreativdirektor Hoon Kim bei seinen Entwürfen früh mit künstlicher Intelligenz experimentieren. Ganz oben auf seiner Liste der interessanten Künstler: diese junge Frau aus Armenien.
Die Kollektion ist, wenig überraschend, in Schwarz-Weiss gehalten und spielt mit den typischen Elementen wie maskulinen Schnitten, Krägen und Schleifen. Einige Ideen von Joann und der KI waren buchstäblich zu phantastisch für die reale Kollektion, aber einige Entwürfe sind derzeit ganz real erhältlich, etwa ein Jackett mit asymmetrischem Kragen und eine Bluse mit aufwendigen Kaskadenrüschen an den Ärmeln.
Fragt man Joann nach Vorbildern in der Kunst, muss sie nicht lange überlegen. «Ganz klar Dalí», sagt sie. «Ich war ungefähr sechs, als wir meine Tante im spanischen Figueres besuchten und dort ins Dalí-Museum gingen. Seine Werke haben schon damals unglaublich Eindruck auf mich gemacht.» Tatsächlich stehen Bilder wie der Toilettenrollenhalter aus Haaren oder die Bettdecke aus Spiegeleiern in bester surrealistischer Tradition, genau wie der Krake aus Blumenkohl oder die Macarons, die wie Gebisse aussehen. Vermutlich ist die künstliche Intelligenz sogar das surrealistische Werkzeug schlechthin, weil die Möglichkeiten, die Wirklichkeit zu verzerren, schier endlos erscheinen.
Womöglich liegt es nicht zuletzt an diesen Kindheitserinnerungen, dass Spanien derzeit ganz oben auf der Liste für ihre neue Wahlheimat im Jahr 2025 steht, gleich danach folgt Portugal. «Armenien ist mein Zuhause, vorher habe ich viele Jahre mit meiner Familie in Marseille gelebt, aber am liebsten bin ich gar nicht länger an einem Ort, sondern reise viel und hole mir dabei Inspiration.» Die brauche eine Künstlerin nämlich, trotz KI, immer noch.