Die Debatte um das Geschlecht der Olympiasiegerin wird als Angriff auf das Land angesehen.
Vor wenigen Tagen verkündete der Verband World Boxing, dass die algerische Boxerin Imane Khelif nicht mehr an Frauenwettkämpfen teilnehmen dürfe, bis sie einen genetischen Geschlechtertest absolviert habe. In der Folge veröffentlichte der amerikanische Journalist Alan Abrahamson vom Fachportal «3 Wire Sports» ein angeblich geleaktes medizinisches Dokument aus dem Jahr 2023. Es besagt, dass die Chromosomenanalyse bei Khelif einen männlichen Karyotyp festgestellt habe.
Prominente Kritiker wie Piers Morgan und J. K. Rowling fühlen sich bestätigt. «Die die Biologie leugnende Woke-Brigade hat mich misshandelt und beschämt, weil ich gesagt habe, es sei empörend und gefährlich, dass Khelif bei den Olympischen Spielen Frauen verprügle», postete Morgan auf X. «Ich bin bereit für ihre Entschuldigung, aber ich halte nicht den Atem an.»
Biologisches contra gefühltes Geschlecht
Imane Khelif gewann an den Olympischen Spielen in Paris eine Goldmedaille und wird in ihrer Heimat Algerien als Volksheldin gefeiert. Als Zweifel aufkamen, ob sie mit ihren biologischen Voraussetzungen die Kriterien erfüllt, um bei den Frauen antreten zu dürfen, sorgte dies in Algerien für breite Empörung, man nahm die Vorwürfe als Angriff auf das Land wahr.
Wer glaubt, dieser Rückhalt für Khelif stehe für den gesellschaftlichen Fortschritt in Algerien, täuscht sich. Denn die Boxerin wird nicht darum so vehement verteidigt, weil man dort an die Überwindung der Kategorien «Mann» und «Frau» glaubt. Im Gegenteil: Das Land verhaftet Homosexuelle und hält an der Vorstellung fest, dass es eine klare, essenzielle Differenz zwischen Mann und Frau gibt: biologisch, sozial und sogar juristisch. Im Gegensatz zu Europa, wo man über biologisches contra gefühltes Geschlecht streitet, ist das in Algerien keine Diskussion. Die Idee, dass das Geschlecht wandelbar oder wählbar sei, ist dort nicht einfach umstritten, sie ist undenkbar.
Warum also diese Solidarität mit Khelif? Ganz einfach: Weil Algerien unter einem massiven nationalistischen Wahn leidet. Hauptsache, jemand aus dem eigenen Land holt Gold. Noch wichtiger: Die Kritik an Khelifs Geschlecht kam von aussen, also aus «feindlichem» Territorium; das allein genügt, um den nationalen Schulterschluss auszulösen. In sozialen Netzwerken kursieren absurde Theorien, wonach die Kontroverse von Marokko und seinen angeblichen «zionistischen Freunden» orchestriert worden sei. Es geht um Abwehr, um Stolz, um antiwestliche Reflexe und nicht um die Verteidigung einer Frau. Hätte Khelif sich offen als lesbische oder als queere Person geoutet, würde der Staat sie verfolgen.
Imane Khelif ist gefangen zwischen drei Fronten: einer, zu der etwa J. K. Rowling gehört, die den Frauensport verteidigt und biologische Realitäten gegen ideologische Verzerrungen ins Feld führt. Einer relativen Mehrheit der LGBTQ-Bewegung, die die althergebrachten Geschlechterkategorien überwinden will. Und einer narzisstischen Heimat, die in ihr nicht die Sportlerin sieht, sondern den Triumph der Nation.
Sie wird zum Spielball des Kulturkampfes
Imane Khelif ist zum Spielball eines grossen Kulturkampfs geworden. Sie kann einem leidtun: Denn es handelt sich bei ihr keineswegs um eine unbegabte Sportlerperson, die sich durch einen Geschlechtswechsel Ruhm und Erfolg erschleichen will. Im Gegenteil. Khelif ist eine Person, die in einer patriarchalischen Gesellschaft sozialisiert wurde, als Frau, mit all den Nachteilen, die das in Algerien mit sich bringt. Für sie war der Boxsport ein Ausweg aus gesellschaftlicher Enge und der männlichen Bevormundung, kein Ort der Ideologie.
Während es in internationalen und arabischen Medien von Berichten über die angeblichen Enthüllungen zu Imane Khelif wimmelt, schweigen bis Redaktionsschluss die algerischen Zeitungen. Auch die algerische Box-Union hat kein Statement abgegeben. Auf der Website des amtlichen algerischen Pressedienstes findet sich ein Communiqué vom 6. März 2025, wonach «die algerische Olympiasiegerin Imane Khelif ihr Trainingslager an der Aspire Academy in Doha beginnt», für die Weltmeisterschaft im Boxen 2025 für Frauen.