Der brasilianische Folksänger lässt die Tropicália-Bewegung und den Beat der sechziger Jahre wieder aufleben. Im Gespräch ist er nett und nahbar. Im Konzert wirkt er wie aus einer anderen Zeit.
«Halbwissen!», ruft Tim Bernardes erfreut, «Halbwissen gefällt mir.» Der brasilianische Liedermacher blickt von seinem Teller auf, wo er gerade ein Poulet zerlegt. Dass man seinen Songs mit Halbwissen begegnet, weil man die portugiesischen Texte nur halbwegs versteht, findet der Künstler offenbar sympathisch.
«So ist es mir früher beim Hören von englischen Liedern auch ergangen», erzählt er. «Und indem man die Verständnislücken selbst füllt, entsteht manchmal Magie. Und die Magie ist oft bedeutungsvoller als das, was der Künstler gemeint hat.» So bekämen die Songs ein Eigenleben und damit noch mehr Bedeutung.
Dass Bernardes von Magie, Mysteriösem und Interpretationsfähigkeit spricht, ist nichts Aussergewöhnliches. Es ist das Hauptthema seines Albums «Mil Coisas Invisíveis», mit dem er seit bald zwei Jahren ein beharrlich wachsendes Publikum beglückt.
Leben und sterben
Das Album war ein Versuch, die ersten 26 Jahre seines Lebens musikalisch zu verstehen, die Kipppunkte der eigenen Biografie zu erahnen und zu interpretieren. Und der Welt zwischen leichten Liebesliedern und Anklängen an die brasilianische Musiktradition die eigene Gefühlslage zu präsentieren.
«Nascer, Viver, Morrer» (geboren werden, leben, sterben) heisst der Opener des Albums. «Dieser Zyklus wiederholt sich immer wieder, ohne identisch zu sein in seiner Fallhöhe und in seiner rationalen Fassbarkeit.» Tausende Dinge seien unsichtbar, das müsse man anerkennen. «Es gibt kein Skript für dieses Leben, überall warten neue Anfänge», so räsoniert der Künstler aus São Paulo über seinem Poulet.
Ganz so offen scheint der Lebensweg des heute 32-Jährigen aber nicht gewesen zu sein. Das Schicksal hat ihn früh in Richtung Musik gestossen. Sein Vater Maurício Pereira ist ein bekannter Musiker, und auch sein Bruder Chico Bernardes ist als Singer/Songwriter unterwegs. Das grösste Publikum aber erreicht Tim Bernardes.
Seine Musik ist nicht komplex und tönt gerade deshalb universell. Aber sie ist nie effekthascherisch, biedert sich keinem Publikum an. Wirklich gut mitsingen lassen sich nur wenige Titel. Stilistisch handelt es sich um eine Mischung aus Folk und Samba, aus britischem, amerikanischem und brasilianischem Songwriting. Kammermusik-Pop, könnte man sagen, auch weil Tim Bernardes immer wieder Streicher einsetzt.
In Genf am Antigel-Festival gibt Tim Bernardes letzten Mittwoch ein Konzert, das ganz aus der Zeit gefallen scheint. Ganz alleine tritt er auf, alleine mit der Gitarre. Der Musiker nimmt sich Zeit für jeden Klang, und diese Zeit tut der Musik so gut wie ihrem Publikum. Ganz ruhig, sehr sorgfältig, sehr genau agiert er beim Musizieren. Sein Vortrag ist fast fehlerlos, aber auch unverkrampft. Einmal verrutscht er auf dem Griffbrett und verfällt während des Songs ganz kurz in ein ansteckendes Lachen. Doch auch dieser Ausrutscher und der Ton, auf dem er zufällig landet, wirken schliesslich originell, aber richtig.
Der Brasilianer hat genau ein Instrument dabei, das er nach jedem Song wieder neu stimmen muss – und er erklärt auch, wieso: «Das ist eine sehr alte Gitarre, die sich sehr schnell verstimmt, aber sie klingt dafür auch genau so alt, wie sie ist.» Es ist ein warmer, besinnlicher Klang – und Bernardes nutzt ihn voll aus. Kunstvoll beendet er seine Songs, klopft auf den Gitarrenkorpus, einmal um ein bisschen Samba einzuleiten, dann wieder scheinbar um eine Aussage zu unterstreichen.
Tim Bernardes erfüllt alle Anforderungen an einen Singer/Songwriter. Vielleicht ist er der beste, den Südamerika gerade zu bieten hat. Ganz sicher ist: Gesang und Gitarrenspiel sind bei ihm im Einklang. Kunstvoll bewegt sich die Stimme, kunstvoll setzt er das Instrument ein. Und jeder Schluss bringt eine klangliche Überraschung mit sich. Hier spielt er eine finale Kadenz, da lässt er einen fragenden Akkord im Raum stehen und klopft ihn dann auf dem Korpus langsam aus. In Verlegenheit gerät er nur einmal – wenn er nach einer Dreiviertelstunde um einen Schluck Wasser bitten muss.
Neben den Titeln seines erfolgreichen Albums gibt Bernardes auch einige Coverversionen zum Besten, er interpretiert Stücke von O Terno wie «Volta» und «Eu Vou», sodann «Baby» von Caetano Veloso und «Que Nega E Essa» von Jorge Ben. Sie reihen sich nahtlos in sein eigenes Repertoire ein. Auch andere Vorbilder sind aus seiner Musik herauszuhören: Die Beatles, die Beach Boys, Os Mutantes und überhaupt alle Vertreter der sogenannten Tropicália-Bewegung.
Etwas zum Mitsingen
Und wenn man Tim Bernardes auf der Bühne beobachtet, scheint er einen direkt aus den sechziger Jahren zu begrüssen. Die karierte Glockenhose mit dem hohen Bund, das grüne Hemd mit dem grossen Kragen, die ausufernde Haarpracht, der Schnurrbart, die Brille – alles passt in jene ferne Dekade. Eine Mischung aus John Lennon und George Harrison sitzt da im Casino Théâtre in Genf und tänzelt zu seinem Spiel mit dem Fuss.
Für «A Balada de Tim Bernardes», ein Lied über sich selbst, stimmt der Sänger die Gitarre in eine andere Tonlage um und schlägt einen beschwingten Rhythmus an. Es geht ihm jetzt um die künstlerische Essenz: Der Musik wohnt eine Heiligkeit inne, die Musik weist den Weg. Und wenn die Musik so zelebriert wird, dann soll das Publikum für einmal auch mitsingen.