Wird Bosnien-Herzegowina das 28. Mitglied der EU? Sicher nicht, weil es jüngst grosse Reformfortschritte gemacht hätte. Aber in Brüssel handelt man aus geopolitischer Räson: Das Land soll näher an den Westen und weg von Russland geführt werden.
Die EU-Staaten haben sich am Donnerstag an ihrem Gipfel auf den Start von Beitrittsverhandlungen mit Bosnien-Herzegowina geeinigt. Charles Michel, der EU-Rats-Präsident, verkündete die Nachricht auf X: «Glückwunsch! Ihr Platz ist in unserer europäischen Familie. Die heutige Entscheidung ist ein wichtiger Schritt vorwärts auf dem Weg in die Europäische Union.»
Skeptische Niederländer
Der Schritt kommt nicht unerwartet, nachdem die Kommission zuvor eine Aufnahme der Beitrittsgespräche empfohlen und einen optimistischen Bericht über die Reformen in dem Land vorgelegt hat. Im Kreis der Staats- und Regierungschefs hatte sich danach Zustimmung abgezeichnet. Selbst der scheidende niederländische Ministerpräsident Mark Rutte sagte in Brüssel, dass Bosnien-Herzegowina Fortschritte gemacht habe. Unter allen Mitgliedstaaten sind die Niederlande vielleicht der skeptischste, wenn es um Fragen der Erweiterung geht.
Doch natürlich liegt der tatsächliche Beitritt des Westbalkan-Staates, der im Dezember 2022 den Kandidatenstatus erhielt, noch in weiter Ferne. Denn bevor die eigentlichen Verhandlungen beginnen – das heisst, bevor die EU eine sogenannte Beitrittskonferenz organisiert –, muss Sarajevo noch weitere Reformauflagen erfüllen, wie es heisst.
Mit dieser Formel hatte die EU zuvor auch die Ukraine und die Moldau abgespeist. Wie diese beiden Länder ist Bosnien-Herzegowina im komplizierten Brüsseler Beitrittsprozess zwar nun einen Schritt weiter. Die skeptischen Mitgliedstaaten haben jedoch noch immer unzählige Optionen, die Kandidaten auf ihrem Weg in die Union aufzuhalten. Und schliesslich können die Verhandlungen sowieso viele Jahre dauern. Mit der Türkei wurden schon 2004 Beitrittsgespräche aufgenommen, und von einer Mitgliedschaft ist das Land heute weiter entfernt denn je.
Experten sind sich einig, dass Bosnien-Herzegowina beim Bemühen um eine bessere Rechtsstaatlichkeit und beim Kampf gegen die Korruption und die organisierte Kriminalität noch sehr viel zu tun hat. Hier honoriert die Kommission zwar, dass die Regierung in Sarajevo Gesetze verabschiedet hat, welche unter anderem die Verfolgung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung erleichtern sollen.
Sehr viel schwerer zu lösen aber sind Probleme, die mit den Machtkämpfen im Land zu tun haben. Zwischen dem Gesamtstaat und seinen Entitäten, das heisst zwischen der bosniakisch-kroatisch dominierten Föderation und der serbisch dominierten Republika Srpska, gibt es Spannungen, die einer europäischen Integration im Wege stehen.
Diese Differenzen sind auch ein Einfallstor für Russland, das die Sezessionsbestrebungen des serbischen Nationalisten Milorad Dodik, der in der Srpska den Ton angibt, unterstützt. Und nicht nur der Kreml, auch China und die Türkei versuchen ihren Einfluss in der Region auszubauen. Der wahre Grund, warum die EU den Beitrittsprozess Bosniens beschleunigen will, ist deswegen ein geopolitischer.
Politische Ungereimtheiten
Der Kommission und den Mitgliedstaaten geht es darum, Bosnien-Herzegowina näher an den Westen zu führen und weiter weg von Putin. Solche Überlegungen spielen auch im Umgang mit den übrigen Westbalkan-Staaten (von denen nur Kosovo keinen Kandidatenstatus hat) und nicht zuletzt gegenüber der Ukraine, der Moldau und Georgien eine Rolle.
Dabei nimmt Brüssel allerdings in Kauf, dass es zwischen den realen Entwicklungen in den Ländern und den politischen Schlussfolgerungen einige Ungereimtheiten gibt. Die EU sei eher daran interessiert, den Erweiterungsprozess in Gang zu setzen, als ihn bis zum Ende durchzudenken, schreibt die Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.
Zwar wurde die Erweiterungsmethode der EU schon 2020 reformiert, um, wie es damals hiess, «geostrategisch zu investieren». In der Realität aber hinkt der bürokratische Prozess in Brüssel dem geopolitischen Willen hinterher. Eine wirkliche Annäherung der Kandidatenländer an die Europäische Union, der etwa über eine graduelle, also schrittweise Integration erfolgen könnte, besteht bis jetzt nur auf dem Papier.