Die Ukraine braucht dringend weitere Flugabwehrsysteme, um sich gegen Russlands Raketenbeschuss zu wehren. Deutschland hat die Lieferung weiterer Patriots zugesagt. Andere EU-Staaten zögern.
Donald Tusk brachte das Dilemma der Europäer auf den Punkt. «Wenn all die Worte, die in den letzten Jahren in Brüssel über gemeinsame Verteidigung gefallen sind, in Kugeln und Raketenwerfer umgewandelt werden könnten, wäre Europa die stärkste Macht der Welt», schrieb der polnische Ministerpräsident kürzlich, nachdem die EU-Staaten über die militärische Not der Ukraine beraten hatten.
Das Land steht seit Wochen unter schwerem Raketenbeschuss und hat immer grössere Schwierigkeiten, seine Luftverteidigung gegen die Russen aufrechtzuerhalten. Es fehlt an Flugabwehrsystemen mittlerer und kürzer Reichweite, auch an Munition für die Artillerie. Doch von den meisten Europäern kann die Ukraine derzeit nicht viel erwarten. Die Bestände seien leer, heisst es allenthalben. Man müsse erst neue Waffensysteme auftreiben, auch, um nicht selber schutzlos dazustehen.
Nur Berlin spurt vor
So jubelten die Aussenminister der EU am Montag zwar darüber, dass das amerikanische Repräsentantenhaus am Wochenende neue Militärhilfe für die Ukraine bewilligt hatte. Sie bekräftigten an einem Treffen in Luxemburg auch ihren Beistand gegenüber dem Land. Eine klare Zusage für die Lieferung zusätzlicher Flugabwehrsysteme, wie sie der ukrainische Aussenminister Dmitro Kuleba gefordert hatte, gab es aber nicht.
Nur die deutsche Regierung hatte Kiew bereits Mitte April ein weiteres Abwehrsystem vom Typ Patriot versprochen. Das mobile amerikanische System gilt als hocheffizient bei der Bekämpfung von Flugzeugen, ballistischen Raketen und Marschflugkörpern. Jeder Schuss, heisst es aus dem ukrainischen Militär, sei ein Treffer. Von den rund 60 eigenen Patriot-Batterien haben die USA der Ukraine bisher nur eine zur Verfügung gestellt, Deutschland lieferte im vergangenen Jahr zwei.
Die Ankündigung des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz, dem Land «schnellstmöglich» ein drittes System zu liefern, veranlasste den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski, überschwänglich «Deutschlands Führungsrolle» zu loben. Allerdings geht man in Kiew davon aus, dass in der gegenwärtigen Lage mindestens sieben Patriot-Batterien oder ähnliche Flugabwehrsysteme gebraucht würden, um den russischen Angriffen einigermassen zu trotzen.
Wer könnte aushelfen? Zu den Staaten in Europa, die sich seit den achtziger Jahren Patriots von den Amerikanern beschafften, gehören neben Deutschland die Nato-Mitglieder Griechenland, die Niederlande, Schweden, Rumänien, Spanien und Polen. Einige dieser Länder sind fernab vom Kriegsgeschehen und dennoch wenig interessiert, der Ukraine unter die Arme zu greifen.
Für Griechenland geht es darum, die Verteidigungsfähigkeit gegenüber dem türkischen Erzrivalen aufrechtzuerhalten. Athen besitzt nicht nur sechs Patriot-Batterien, sondern auch veraltete russische Flugabwehrsysteme vom Typ S-300, mit denen die ukrainischen Streitkräfte durchaus vertraut sind.
Die spanische Zurückhaltung ist rätselhafter. Auf Reporterfragen in Luxemburg antwortete Spaniens Aussenminister José Manuel Albares ausweichend. Es sei nicht gut, öffentlich darüber zu reden, was man liefern könne und wann, sagte er. Madrid stehe immer an der Seite der Ukraine. Laut einem Bericht der «Financial Times» stehen Spanien und Griechenland unter hohem Druck, mehr Hilfe zu leisten. Einer unmittelbaren Bedrohung, heisst es in Brüssel, seien die beiden Länder schliesslich nicht ausgesetzt.
Auch andere Waffensysteme sind gefragt
Polen und Rumänien verweisen darauf, dass sie die Abwehrsysteme zum Schutz vor möglichem Störfeuer aus Russland brauchen. Grundsätzlich offen zeigen sich die Niederlande und Schweden, die jeweils vier Patriot-Batterien besitzen. Die niederländische Aussenministerin Hanke Bruins Slot kündigte an, die Lieferung sehr sorgfältig zu prüfen. Die schwedische Regierung will das auch tun. Man konzentriere sich derzeit allerdings auf finanzielle Hilfe, heisst es aus Stockholm.
Dabei geht es längst nicht nur um Patriot-Raketen. Auch Staaten, die wie Frankreich und Italien das franko-italienische Flugabwehrsystem Samp/T in Dienst haben, könnten Kiew Lieferungen zusagen. Das Problem ist hier eher, dass die Länder schon jetzt stark verschuldet sind und der politische Wille schwindet, die Ukraine noch stärker zu unterstützen.
Konkretere Hilfszusagen der europäischen Verbündeten könnte es beim nächsten Treffen der sogenannten Ramstein-Gruppe geben, der Gruppe von Ländern, die sich zur Verteidigung der Ukraine zusammengeschlossen haben. Für den früheren belgischen Premierminister und EU-Abgeordneten Guy Verhofstadt reicht das nicht. In einem Tweet liess er seinem Ärger freien Lauf: «Viele Worte, aber keine Taten! Was brauchen wir noch, um die Ukraine voll zu unterstützen? Schicken Sie jetzt Patriots und die versprochene Munition!»