In Brüssel herrscht nach dem Ausbau des deutschen Grenzschutzes Nervosität – und in der Schweiz wird der Ruf nach mehr Kontrollen lauter. Neue Zahlen deuten darauf hin, dass die Wirkung begrenzt wäre.
Der Anschlag von Solingen sowie die AfD-Wahlerfolge in den Bundesländern Thüringen und Sachsen haben die Diskussion über den Grenzschutz in Deutschland neu aufflammen lassen. Die CDU stellt sogar den Vorrang des Dublin-Abkommens vor nationalem Recht infrage: Seit Tagen wird darüber diskutiert, ob Asylsuchende an der deutschen Grenze zurückgewiesen werden können sollen. So weit will die SPD-geführte Regierung zwar nicht gehen. Doch Innenministerin Nancy Faeser kündigte am Montag an, die Grenzkontrollen massiv auszubauen.
Weil an der deutschen Grenze zur Schweiz (sowie an jenen zu Polen und Österreich) schon seit längerer Zeit Kontrollen durchgeführt werden, hat dieser Schritt für die Schweiz keine direkten Folgen. Betroffen sind die Landesgrenzen zu Frankreich, Luxemburg, den Niederlanden, Belgien und Dänemark. Die EU-Kommission reagiert vorderhand schmallippig auf die deutschen Ankündigungen. Sie bestätigt, dass sie vom deutschen Innenministerium eine entsprechende Benachrichtigung erhalten habe – und erinnert ans Schengen-Regelwerk.
Grenzkontrollen seien grundsätzlich zulässig, sofern sie «notwendig und verhältnismässig» seien, sagte eine Sprecherin gegenüber den Medien. Eine derartige Massnahme müsse «die strikte Ausnahme» sein, bei der eine Gefahrenlage vorzuliegen habe. Man sei mit den deutschen Behörden in Kontakt, sagte die Sprecherin und betonte, dass man Schengen weiterhin als funktionierendes System erachte.
Nervosität in Brüssel
Hinter den Kulissen ist in Brüssel jedoch durchaus Nervosität spürbar. Ist Schengen tatsächlich so stabil, wie man gegen aussen vorgibt? Ein möglicher Dominoeffekt ist greifbar: Falls Deutschland sein Grenzregime massiv verschärft, könnten sich Nachbarstaaten genötigt fühlen nachzuziehen – denn niemand will zusätzliche Migranten aufnehmen. Entsprechend scharf sind nun die Warnungen, die Vertreter von Polen, Österreich und den Niederlanden nach Deutschland schicken.
Am provokativsten schwingt erneut Ungarn die Asyl-Keule. Als Reaktion auf die 200-Millionen-Strafe, die das Land wegen Rechtsverletzungen begleichen muss, droht Ministerpräsident Viktor Orban, Migranten mit einem Ein-Weg-Ticket nach Brüssel zu schicken. Ein ungarischer Regierungsvertreter hielt jüngst gar eine Pressekonferenz ab, bei der er vor gelben Bussen mit der Aufschrift «Röszke–Brüssel» posierte und damit auf eine betroffene Grenzgemeinde in seinem Land anspielte.
Gleichzeitig schwappt die Grenzdebatte auch auf die Schweiz über. Nach Faesers Ankündigung forderte die FDP am Dienstag postwendend, «die gezielten Personenkontrollen an neuralgischen Grenzübergängen und im grenznahen Raum zu verschärfen». Wenn die deutsche Regierung Asylsuchende, die anderswo schon registriert worden seien, beim Grenzübertritt festhalten und unverzüglich zurückführen könne, dann müsse der Bundesrat an der Schweizer Grenze zu Italien dasselbe tun. Die SVP fordert schon länger zusätzliche Grenzkontrollen.
Schweiz macht weiterhin Personenkontrollen
Umstritten ist allerdings, wie viel solche Massnahmen bringen. Laut dem deutschen Innenministerium zeigen die Kontrollen durchaus Wirkung: Die Zahl der Zurückweisungen sei seit der Einführung der Kontrollen an der Schweizer Grenze drastisch angestiegen. Im vergangenen Jahr wurden rund vier Mal so viele Menschen zurückgeschickt wie 2022 (rund 15 000). 2024 waren es bislang etwa 5700 Personen. Unklar ist allerdings, wie vielen dieser Personen der Grenzübertritt in einem zweiten Anlauf doch geglückt ist.
Das Staatssekretariat für Migration (SEM) erklärte auf Anfrage jedenfalls, es habe bis jetzt keine Hinweise darauf, dass sich die verstärkten Kontrollen an der deutsch-schweizerischen Grenze auf die Zahl der Asylgesuche in der Schweiz ausgewirkt hätten. Es betont zudem, dass die Schweiz im Rahmen der Zollkontrollen nach wie vor auch Personenkontrollen durchführe. Dies sei möglich, weil sie nicht Mitglied der EU sei.
Das EJPD stehe zudem in engem Kontakt mit der deutschen Innenministerin, so das SEM: «Wir teilen mit Deutschland das Ziel, irreguläre Sekundärmigration zu verhindern. Aus Sicht der Schweiz ist die Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen allerdings kein geeignetes Mittel dazu.» Das SEM werde die künftigen Entwicklungen nach dem Entscheid der deutschen Regierung weiter analysieren und mögliche Auswirkungen verfolgen.
Auch Aussagen des Bundesamtes für Polizei (Fedpol) und des Bundesamtes für Zoll und Grenzsicherheit (BAZG) zeigen, dass der Bundesrat nicht an den Nutzen von zusätzlichen Grenzkontrollen zur Begrenzung der irregulären Migration glaubt. Dies geht aus der Bilanz des Bundesrates zur Verstärkung der Grenzkontrollen während der Fussball-EM und der Olympischen Spiele hervor, die am Mittwoch veröffentlicht wurde.
Letztes Jahr wurden mehr Schlepper aufgegriffen
Auf die irreguläre Migration hätten zusätzliche Kontrollen keinen Effekt gehabt, heisst es in der Bilanz, die von BAZG, Fedpol und SEM herausgegeben wurde. In den drei Monaten Juni, Juli, August seien insgesamt 8337 Personen aufgegriffen worden, wobei ab Mitte Juli ein starker Anstieg festgestellt worden sei. Allein in den Monaten Juli und August des Vorjahres hätten die Behörden aber deutlich mehr, nämlich 9456 Personen aufgegriffen.
Auch die Zahl der aufgegriffenen mutmasslichen Schlepper lag laut den Angaben unter dem Niveau des Vorjahres. 2024 waren es 64 gegenüber 71 im Vorjahr. Diese Zahlen zeigten, dass die Migrationsrouten und -bewegungen nicht in erster Linie von Grenzkontrollen, sondern von vielen anderen Faktoren abhängig seien. Laut SEM wirkten sich eher die Zahl der Anlandungen in Italien und die Verschiebung der Migrationsrouten aus. Es sei deshalb auch keine Verlängerung des vorübergehenden Kontrollregimes geplant.
Die intensivierten Kontrollen führten laut der Bilanz des Bundesrates aber «erwartungsgemäss zu zusätzlichen Treffern in den Fahndungsdatenbanken». Während der ganzen Periode der verstärkten Kontrolle seien 8140 Treffer verzeichnet worden – gegenüber 6912 im Vorjahr. Diese betrafen zur Verhaftung ausgeschriebene Personen, aber auch Personen, die eine Busse nicht bezahlt haben, oder als gestohlen gemeldete Fahrzeuge. In Bezug auf Terrorismus blieben die Kontrollen ergebnislos.