Die Inflation im Euro-Raum ist noch nicht endgültig besiegt, doch zugleich schwächelt zunehmend die Wirtschaft. In diesem Dilemma hat sich die EZB für einen weiteren kleinen Zinsschritt entschieden.
Für Besinnlichkeit ist es in der Geldpolitik trotz den bevorstehenden Weihnachtsfeiertagen noch deutlich zu früh. Zwar ist die Inflationsrate im Euro-Raum nach gut drei Jahren endlich wieder einigermassen in den Zielbereich der Europäischen Zentralbank (EZB) zurückgekehrt. Doch zugleich sind die Sorgen der Notenbanker über die schwächelnde Wirtschaft und die zunehmenden politischen Unsicherheiten gestiegen.
In dieser Gemengelage hat die EZB am Donnerstag die Zinsen zum vierten Mal in diesem Jahr um 0,25 Prozentpunkte gesenkt. Der derzeit massgebende Einlagensatz notiert nun bei 3 Prozent. Mit ihm bestimmt und steuert der EZB-Rat seinen geldpolitischen Kurs.
Steigende geopolitische Risiken
Die meisten Messgrössen der zugrunde liegenden Inflation deuteten darauf hin, dass sich die Inflation nachhaltig im Bereich des mittelfristigen Zielwerts der EZB von 2 Prozent einpendeln werde, teilte die Notenbank mit. Die Binneninflation im Euro-Raum sei leicht gesunken, bleibe aber hoch. Dies sei vor allem darauf zurückzuführen, dass sich Löhne und Preise in bestimmten Sektoren noch mit deutlicher Verzögerung an den früheren starken Inflationsanstieg anpassten.
Im November ist die Inflationsrate in der Euro-Zone nach einer ersten Schätzung des europäischen Statistikamtes Eurostat wieder von 2,0 auf 2,3 Prozent gestiegen, in Deutschland beträgt sie 2,4 Prozent. Doch mit dieser Entwicklung hatten Ökonomen aufgrund von statistischen Basiseffekten bei den Energiepreisen gerechnet. Die Teuerung dürfte auch im Dezember nochmals zulegen, bevor sie sich im ersten Halbjahr 2025 dem Zielwert der EZB von mittelfristig 2 Prozent annähern sollte.
Zerlegt man die Inflationsrate in ihre vier Hauptbestandteilte fällt jedoch auf, dass nur die Energiepreise (–1,9 Prozent) im November gesunken sind, wogegen der Preisanstieg bei den Dienstleistungen (3,9 Prozent) und für Lebensmittel, Alkohol und Tabak (2,8 Prozent) weiterhin unerwünscht hoch war. Diese beiden Bereiche meint die EZB primär, wenn sie von Binneninflation spricht. Lediglich in der Industrie (ohne Energie, 0,7 Prozent) zogen die Preise gemächlich an.
Da zugleich die Kerninflation seit Monaten mit 2,7 Prozent hartnäckig hoch ist, geben Notenbanker bei der Bekämpfung der Teuerung noch keine Entwarnung. Auf die Kerninflation achten die Zentralbanken wegen ihrer mittelfristigen Aussagekraft besonders, denn aus ihr werden die volatilen Preise für Energie und Lebensmittel herausgerechnet. Die Ökonomen der Notenbank rechnen jedoch damit, dass die Kerninflation im Jahr 2025 auf 2,3 Prozent und 2026 auf 1,9 Prozent sinken wird.
Zugleich zeigt die Konjunktur in der Euro-Zone einige Schwächezeichen. Wirtschaftliche Frühindikatoren wie die Einkaufsmanagerindizes deuten auf eine leicht schrumpfende Konjunktur in den kommenden Monaten hin. Darüber hinaus ist die Kauflaune der Konsumenten gesunken und der Arbeitsmarkt trübt sich langsam ein.
Deshalb war seit der Zinssenkung im Oktober an den Finanzmärkten darüber spekuliert worden, ob die EZB die Zinsen im Dezember zur Ankurbelung der Konjunktur womöglich sogar um 0,5 Prozentpunkte senkt. Von einem solch grossen Zinsschritt hat der EZB-Rat jedoch vorerst abgesehen. Die Notenbanker erwarten derzeit für das kommende Jahr ein Wirtschaftswachstum in der Euro-Zone von 1,1 Prozent sowie im Jahr 2026 dann mit 1,4 Prozent.
Geopolitisch ist sind zu den bisherigen Unsicherheitsfaktoren, dem Krieg in der Ukraine und den Spannungen im Nahen Osten, die Regierungskrisen in Deutschland und Frankreich sowie die Wiederwahl von Donald Trump als Präsident der USA hinzugekommen.
Durch den baldigen Wiedereinzug von Trump ins Weisse Haus stellt sich vor allem die Frage, wie konfrontativ die Handelspolitik der Vereinigten Staaten wird. Trump hat vollmundig Zölle von 60 Prozent auf Importe aus China und von 10 bis 20 Prozent für Einfuhren aus anderen Ländern angekündigt. Sollte es zu einem Zollkrieg kommen, würde dieser die Inflation dies- und jenseits des Atlantiks anheizen.
In Europa haben die beiden wichtigsten Länder gegenwärtig eine Regierung auf Abruf. In Deutschland findet nach dem Aus der «Ampel» die nächste Bundestagswahl am 23. Februar statt. In Frankreich ist dagegen noch unklar, wann es nach dem erfolgreichen Misstrauensvotum gegen Premierminister Michel Barnier zu einer neuen Regierungsbildung und einer Einigung der Parteien im Streit um den Haushalt des Landes kommt. An den Finanzmärkten steigen jedenfalls die Sorgen über die sehr hohen Schulden Frankreichs.
Inzwischen rechnen von der Nachrichtenagentur Bloomberg befragte Ökonomen im Durchschnitt damit, dass die Europäische Zentralbank die Leitzinsen an jeder ihrer vier Treffen im ersten Semester kommenden Jahres um 0,25 Prozentpunkte senken wird, so dass der Einlagensatz im Juni bei 2 Prozent notieren würde. Doch bis es so weit ist, fliesst in Frankfurt noch viel Wasser den Main hinunter.
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