Ahmed al-Sharaa bastelt weiter an seinem neuen Staat. Eine von ihm unterzeichnete Verfassungsdeklaration schreibt wichtige Rechte fest, verleiht dem Präsidenten aber auch weitreichende Macht.
In der neuen syrischen Übergangsverfassung, die der Interimspräsident Ahmed al-Sharaa am Donnerstag feierlich unterzeichnet hat, wimmelt es nur so von Rechten: Meinungsfreiheit, Glaubensfreiheit, Frauenrechte, freie Presse – alle sind sie da, schwarz auf weiss. Auch die Gewaltenteilung wird explizit festgeschrieben. Und ein noch zu bildendes Parlament soll das Recht haben, den Präsidenten seines Amtes zu entheben. Mit Sharaas Verfassungsdeklaration beginnt eine auf fünf Jahre begrenzte Übergangszeit, nach der nicht nur eine ständige Verfassung verabschiedet, sondern auch Wahlen abgehalten werden sollen.
Nach Jahrzehnten der Diktatur unter dem Gewaltherrscher Bashar al-Asad klingt das vielversprechend. Sharaa, der einstige Kaida-Kämpfer und Anführer der islamistischen HTS-Miliz, will offensichtlich beweisen, dass er es ernst meint mit seinen Versprechen von Inklusion, Gleichberechtigung und Fortschritt im neuen Syrien. Das Signal soll natürlich auch über die Landesgrenzen hinausgehen, an die westlichen Staaten, die nach wie vor einen Grossteil der Sanktionen gegen das Land aufrechterhalten.
Dennoch ist eine grosse Portion Skepsis angebracht. Wer sich die Übergangsverfassung etwas genauer anschaut, entdeckt mehrere problematische Passagen. So wird etwa die islamische Rechtsprechung als «wichtigste Grundlage» für die Gesetzgebung definiert. Das ist in arabischen Staaten zwar nicht ungewöhnlich und bedeutet noch lange nicht, dass demnächst ein fundamentalistischer Scharia-Staat entsteht. Gleichzeitig lässt sich dieser Grundsatz schwerlich mit dem multikonfessionellen Charakter des Landes vereinbaren.
Die Fäden laufen beim Präsidenten zusammen
Insbesondere das Bekenntnis zur Gewaltenteilung verkommt bei näherer Betrachtung zur Farce. So darf Ahmed al-Sharaa gemäss der Deklaration persönlich einen Drittel der künftigen Parlamentarier selbst ernennen. Die Ernennung der übrigen Volksvertreter obliegt einem Komitee – dessen Mitglieder aber wiederum vom Präsidenten bestimmt werden.
Damit ist es aber noch nicht zu Ende mit dessen verfassungsgemässer Machtfülle: Auch die Richter des neuen syrischen Verfassungsgerichts darf Sharaa allesamt selbst nominieren. Zudem hat der Präsident das Recht, den Notstand auszurufen. Dies muss zwar zuerst vom Rat für nationale Sicherheit bewilligt werden. Doch wer steht diesem vor? Richtig, Ahmed al-Sharaa. Auch bei den anderen Mitgliedern des Sicherheitsrates – unter ihnen der Aussen-, der Innen- und der Verteidigungsminister – handelt es sich um treue Gefolgsmänner des ehemaligen Milizenchefs mit jihadistischer Vergangenheit.
Theoretisch hat Sharaa also die Mittel, ein Gebilde von willfährigen Loyalisten um sich herum zu errichten, zu herrschen, wie es ihm gefällt, und sich in fünf Jahren in vorgeblich freien Wahlen in seinem Amt bestätigen zu lassen. Ob er dies auch tut, ist eine andere Frage. Klar ist: Eine Verfassung allein macht noch keinen Rechtsstaat, ein solcher muss gelebt und gepflegt werden. Auch zu Asads Zeiten gab es eine Verfassung, die Syrien als Demokratie bezeichnete und die Meinungs- sowie Versammlungsfreiheit festschrieb. Die Realität sah anders aus.
Sharaa hält sich alle Optionen offen
So ist vorerst auch Sharaas Verfassungsdeklaration nicht viel mehr als ein Stapel Papier – nun muss er diesen mit Leben füllen. Auch ihm dürfte bewusst sein, dass er es nicht zu bunt treiben kann. Einerseits braucht er Geld aus dem Ausland und hofft auf die Aufhebung der Sanktionen. Andererseits haben die von islamistischen Milizen verübten Massaker an der alawitischen Bevölkerung vergangene Woche gezeigt, dass der Präsident weit davon entfernt ist, die Lage in diesem zerrissenen Land unter Kontrolle zu haben.
Inzwischen hat es Sharaa geschafft, die mächtige Kurdenmiliz aus dem Nordosten des Landes zu überzeugen, ihre politischen und militärischen Institutionen in den neuen Staat zu integrieren; die aufmüpfigen Drusen im Südwesten könnten bald folgen. Sie erwarten vom Präsidenten, dass er seine Versprechen einhält, fordern Mitsprache, Gleichberechtigung und politische Repräsentation.
Mit dem jetzigen Verfassungsentwurf behält sich Sharaa alle Optionen offen. Er könnte theoretisch am Anfang eines demokratischen Aufbruchs in Syrien stehen. Die weitreichende Selbstermächtigung ermöglicht es Sharaa aber auch, Opposition und Minderheiten gnadenlos abzuklemmen – mithilfe der Verfassung.