Anzügliche Gäste, Uber-Fahrer im Maybach und sterbende Haustiere: unterwegs mit einem Zürcher, der schon fast alles erlebt hat und an Silvester trotzdem ein Kribbeln spürt.
George Botonakis ärgert sich: «Das ist ein absolutes Chaos.» Im Schritttempo rollt er in seinem Opel an der Taxikolonne vorbei und mustert die Kollegen. «Die ganze verdammte Spur ist versperrt.»
Der Taxifahrer ist eigentlich ein lockerer Typ. «Boti», wie ihn in Zürich alle nennen, will es an dem Freitagabend im Advent gemächlich angehen. Aber am Zürcher Hauptbahnhof ist Schluss mit lustig.
Es ist 22 Uhr, Taxis verstopfen eine Fahrspur, ein Krankenwagen mit Blaulicht ist blockiert, zwei Taxifahrer lachen und gestikulieren.
Die Taxibranche in Zürich hat einen durchzogenen Ruf: Die Preise seien zu hoch, Fahrten würden verweigert, Spuren blockiert. Botonakis kennt diese Vorwürfe. An keinem anderen Ort in der Stadt gelingt es Taxifahrern so nachhaltig, ihr Image zu ruinieren. «Am Bahnhof schiessen sie richtige Böcke.»
Botonakis muss es ausbaden, er ist nicht nur «Täxeler», sondern auch Präsident des Zürcher Taxiverbandes. «Jeden Monat zig Reklamationen», sagt er.
So gesehen seien die Pläne der Stadt vielleicht gar nicht so dumm, findet er. Die rot-grünen Stadtoberen würden am liebsten alle Autos vom Hauptbahnhof verbannen. Man könne dann zwar nicht einmal mehr alte Leute abladen, sagt Botonakis. «Aber immerhin, das Chaos wäre bereinigt.» Es ist Galgenhumor, der aus ihm spricht.
Kaum eine Branche wurde so durchgerüttelt wie die seine. Uber ist zu einer starken Konkurrenz geworden, und seit diesem Sommer mischt auch der Anbieter Bolt mit. Die Apps veränderten das Fahrgeschäft.
Das ist gut für die Kunden, weil die Preise fallen. Aber es ist schlecht für die Taxifahrer, von denen viele gezwungenermassen für Uber fahren, um die Leerzeiten zu füllen. Und die Branche fürchtet sich vor dem autonomen Fahren.
Wer will unter diesen Umständen noch Taxifahrer sein?
Der Taxifahrer und sein Leben
Natürlich ist Taxifahrer mehr als ein Beruf. Den Ton setzte Hollywood. Typen wie Robert De Niro in «Taxi Driver», der als dystopischer New Yorker Taxifahrer auf die immer schiefere Bahn gerät. Ob Belgrad, Bangkok oder Berlin – eine abstruse Geschichte über Taxifahrer weiss jeder zu erzählen.
Botonakis sagt: «Taxifahrer wird man, wenn man ganz unten ist.» Wenn der Führerschein das Einzige sei, was man noch zu Geld machen könne. Er weiss, wovon er redet. Der Schweiz-Grieche, aufgewachsen im Kreis 4, ist ein Stehaufmännchen.
Er absolviert eine Ausbildung zum Automechaniker, bis er merkt, dass er sich nicht für Technik interessiert. Dann heuert er als Personenschützer an. Doch das sei ihm irgendwann zu gefährlich geworden, erzählt er.
Er wechselt das Metier, eröffnet eine Disco an der Badenerstrasse. «Das Aramis brummte.» Bis im Jahr 2001 ein eifersüchtiger Bosnier vor dem Eingang seine Ex-Freundin erschoss. Die Tat habe nichts mit dem Klub zu tun gehabt, sagt Botonakis. Aber danach habe niemand mehr dort feiern gehen wollen.
Also sattelt er wieder um. Er gründet in den nuller Jahren einen Kurierdienst. Zu der Zeit habe man für «jeden Seich» einen Kurier bestellt. Tastaturen werden per Taxi von Zürich nach Genf gekarrt. «Das Taxometer lief nonstop. Völlig bescheuert!» Der Kurierdienst wächst, irgendwann beschäftigt er 65 Angestellte.
Aber es gibt Beschwerden über die Arbeitsbedingungen. «Ich bin mit manchen Angestellten nicht korrekt umgegangen», sagt er heute. Als die Presse über Zeitdruck, lange Schichten, wenig Pausen und ungerechtfertigte Lohnabzüge berichtet, verliert er Aufträge. 2019 verkauft er einen Teil seiner Firmen.
Der Glücksritter will weiter nach Dubai, wo tausendundein Geschäfte warten. Doch es kommt anders. Noch bevor er in der Wüste eintrifft, geht die Welt in den Lockdown. Die Pandemie «verbläst» sein ganzes Vermögen. «Also muss ich wieder im Taxi herumfahren», sagt er. Und klar hat er nebenher noch andere Geschäfte am Laufen.
So richtig weg vom Steuer war er nie. Mittlerweile fährt er seit rund einem Vierteljahrhundert Taxi. 2001, als er die Lizenz erwarb, liegen in einer Freitagnacht bis 600 Franken Umsatz drin. Dreimal so viel, wie heute verdient werde.
«Geklagt wurde natürlich schon damals», sagt Botonakis. Einer der Witze aus dieser Zeit ging so: Ab der ersten Minute lernt jeder Taxifahrer zu klagen. Erst dann lernt er die Strassen kennen.
Die Kollegen und die Jagd
Es ist 23 Uhr, am Weihnachtsmarkt haben sich die Zürcherinnen und Zürcher kalte Füsse geholt und wollen heim. Das gelbe Schild auf dem Dach leuchtet, jeder kann das Taxi herbeiwinken.
Es gibt verschiedene Typen von Fahrern. Botonakis sieht sich als Jäger. Schnell zum Weihnachtsmarkt, dann die Konzertbesucher vor dem «Kaufleuten» einsammeln, dann zum Spital, wo der Schichtwechsel beginnt, später an die Langstrasse. So geht das die ganze Nacht.
Die Uber-Fahrer erkennt Botonakis sofort. Die Fahrgäste stehen halb auf der Strasse, das Handy in der Hand. Einem Aargauer Tesla entsteigen vier junge Leute, alle in Partystimmung. Schon steigen die nächsten Kunden ein. «Dabei dürfte der so gar nicht fahren», sagt Botonakis, «ohne die blaue Plakette.»
Seit diesem Jahr gilt im Kanton Zürich ein neues Taxigesetz. Auch Uber-Fahrer brauchen einen Führerschein für die gewerbliche Personenbeförderung. Sie müssen eine Theorie- und Praxisprüfung absolvieren und einen Fahrtenschreiber einbauen. Dafür gibt es einen blauen Kleber auf die Windschutzscheibe.
Die Verordnung sei nur schwer kontrollierbar, sagt Botonakis. Kein Wunder, bei den Zahlen: Im hart umkämpften Zürcher Taximarkt tummeln sich rund 4000 Fahrerinnen und Fahrer, die Uber-Leute mitgezählt. Dazu kommen die Auswärtigen, die an den Wochenenden in der Stadt wildern.
Die meisten Uber-Fahrer hätten einen regulären Job, sagt Botonakis. Hier beginnt seiner Meinung nach das Elend. Denn kaum einer von ihnen halte seine Arbeits- und Ruhezeiten ein. Aussendienstler, Lieferanten und Bürolisten würden nach ihrem regulären Arbeitstag noch eine Uber-Schicht dranhängen.
Ab und zu bleibe einer in einer Kontrolle hängen. «Aber die Polizei hat am Wochenende anders zu tun, als mit Uber-Fahrern herumzukaspern.»
Vor ihm hält ein Maybach. Eine junge Frau, offensichtlich eine Uber-Kundin, steigt in den 200 000-Franken-Wagen. Botonakis’ freies Taxi würdigt sie keines Blickes: «Das kann nicht sein, dass ein Maybach für Uber fährt», sagt Botonakis.
Allein die Kosten: In seinem Occasion-Opel kostet der Kilometer 30 Rappen. Der Maybach komme locker auf zwei Franken. «Das holt der niemals rein.» Er ist überzeugt: Entweder ist das ein Chauffeur, der den Wagen des Chefs ausfährt, oder da betreibe ein Reicher ein ausgefallenes Hobby.
Nur, wie soll man gegen einen Maybach ankommen?
Die Argumente des Taxifahrers scheinen aus einem anderen Jahrhundert zu stammen: Er sieht sich als Dienstleister, der Koffer schleppt, die Tür aufhält, den Regenschirm zückt und Ausgehtipps gibt.
Viele Vertreter dieser Art dürften in Zürich nicht mehr anzutreffen sein. Es ist das Dilemma der Branche: Kaum jemand sieht in Taxis noch einen Mehrwert. Uber und Co. sind günstiger und bequemer. «Heute sind wir die Fussabtreter der Gesellschaft.»
Der Futterneid in der Branche sei ausgeprägt, sagt Botonakis. Kein Wunder: Selbständige Taxifahrer würden um die 3300 Franken im Monat verdienen. «Das sind Tagelöhner, die Leben von einem Tag zum anderen. Die finden ja sonst nichts.»
Der Opel überquert die Langstrasse, fährt an der Milieu-Beiz «Sonne» vorbei. Hier hätten sich die Taxifahrer früher getroffen und einander Kaffee offeriert. Botonakis sinniert über die Zeiten, als noch nicht jeder Taxifahrer «nur in sein Telefon gegafft» habe. «Ja, wir sind eine aussterbende Spezies.»
Die Kunden und das Nachtleben
Das Telefon ruft ihn zurück in die Gegenwart. Yvonne, eine Stammkundin, will nach Hause. Es ist kurz nach Mitternacht, und jetzt kommt wieder Leben in den Mann. Die Nacht ist sein Ding. Er liebt die Partyleute, die lockeren Gespräche, die grossen Gefühle: «Man weiss nie, was kommt.»
Yvonne steigt ein. «Ciao. Wie geht’s? Jetzt schon heim?», fragt er. Lockerer Smalltalk, Botonakis kennt den Heimweg. Als er die Frau heimgefahren hat, wartet er, bis sie sicher hinter der Eingangstür des Hauses verschwunden ist. Auch das gehört für ihn zum Service.
Jemand klopft an die Scheibe. Es ist ein Uhr. Die zwei Männer kommen von einer Weihnachtsfeier. Jetzt wollen sie an die Langstrasse. Sternhagelvoll lümmeln sie in den Sitzen. Ab und zu grölt einer. Ihr Ziel wollen sie nicht verraten. Sie zahlen mit einer Zwanzigernote. Es hätte bloss zehn gekostet.
«Die gingen jetzt hundertprozentig in den Puff», sagt Botonakis. Er fahre immer öfter junge Männer ins Bordell, sagt er und lacht, weil er als junger Mann nie auf diese Idee gekommen wäre. «Sowieso hätte das Geld gefehlt.»
Aber Botonakis will nicht den Moralapostel spielen. Natürlich merke er, wenn im Wagenfonds nicht die Ehefrau, sondern die Affäre sitze. Oder wenn eine Frau ihrem Liebhaber vom sterbenslangweiligen Gatten erzählt. «Diskretion ist mir heilig. Und sowieso vergisst man viel.»
Wenn sich die Gäste auf seiner Rückbank näherkommen, findet er das gut. «Die sollen ruhig das Leben geniessen.»
Gab es auch schon sexuelle Avancen? Klar, sagt er, würden es manche darauf anlegen. Aber da sei er konservativ. «Arbeiten und Privat muss man trennen. Berufsstolz.» Auch als Wirt habe er nie «gesoffen».
Betrunkene fährt er gern, die seien zu 95 Prozent locker drauf. Gekotzt habe auch noch nie einer, das sei ein Klischee. Nur einschlafen dürften sie nicht. «Sonst bringt man sie nicht mehr wach.» Ist ihm natürlich schon passiert. Da ging er zur Polizei, die haben den Mann auch nicht wach bekommen. Irgendwann hat er das Taxometer abgestellt.
Dem Mann ist nichts unangenehm. Wenn jemand stinkt, zückt er seinen Duftspray. Der Kodex im Taxi ist simpel: keine Politik, keine Religion, nichts Privates. Wenn einer ihn etwas fragt, stellt er eine Gegenfrage. «Dann reden die Leute wieder von sich selber.» Natürlich habe er schon Idioten gefahren. «Ruhig bleiben und blöd stellen.» Er tut dann so, als könne er kein Deutsch.
An die Nieren geht ihm, wenn er sterbenskranken Haustieren das letzte Geleit geben muss. Oder wenn Seniorinnen erzählen, ihr Ehemann sei vor fünf Minuten verstorben. Und da sind noch die Unfälle. Drei junge Leute mit Kopfwunden sah er dieses Jahr. Alle sind mit dem Scooter auf Tramgleisen ausgerutscht. Er denkt dann immer: «Hättest du besser einen Zwanziger fürs Taxi bezahlt und wärst gesund heimgekommen.» Manchmal, sagt Botonakis, fahre er die Leute auch gratis heim.
Es ist zwei Uhr morgens. Botonakis gähnt und sagt: «Heute schläft einem das Gesicht ein.» Was er nicht ausstehen kann, ist Langeweile. Früher sei mehr los gewesen. Vor zwanzig Jahren begann die Apéro-Zeit bereits ab Dienstag: «Carlton, Adagio, Flamingo». Er spricht die Namen aus wie exotische Reiseziele.
Für den Chronisten des Nachtlebens steht fest: «Das Nightlife der Stadt Zürich ist tot.» Heute würden die Jungen weniger ausgehen. «Und dann wollen sie auch früher wieder heim.»
Für heute ist Schluss. Aber bald ist Silvester. Botonakis spürt da bereits ein Kribbeln. Dann ist wieder Jagdzeit.