Es herrscht ein gefährliches globales Machtvakuum. Die amerikanische Friedensordnung existiert nicht länger. Doch Israel zeigt, was sich mit einer klaren Strategie und Entschlossenheit erreichen lässt.
Die Welt ist ein Kartenhaus. Vor kurzem schien Asad fest im Sattel zu sitzen. Jetzt ist der Diktator geflohen, und Damaskus gehört den Rebellen. Noch weiss niemand, ob das, was auf die islamistische Revolution folgt, besser ist als das Ancien Régime.
Solche Zäsuren sind die Signatur unserer Epoche: der überstürzte Abzug der Amerikaner aus Kabul, der russische Überfall auf die Ukraine, die sadistische Orgie der Hamas. Über Nacht werden neue, meist blutige Fakten geschaffen.
Das unterscheidet die Gegenwart von der langen Nachkriegszeit zwischen 1945 und 2022 – dem Kalten Krieg und der westlichen Dominanz nach dem Fall der Berliner Mauer – mit ihren stabilen Verhältnissen. Erst sorgte das Gleichgewicht zwischen den USA und der Sowjetunion für berechenbare Verhältnisse, danach galt für drei Jahrzehnte die Pax Americana.
Heute gibt es keine regionalen Ordnungen mehr, die von einer oder mehreren Grossmächten garantiert werden. Wer bereit ist, maximale Gewalt anzuwenden, wer bereit ist, dafür notfalls auch einen hohen Preis zu zahlen, der kann viel Macht an sich reissen. Das ist in Europa nicht viel anders als im Nahen Osten.
Die amerikanische Abschreckung befindet sich in der Krise
Putin begann die Invasion in der Ukraine, weil er es ungestraft konnte. Niemand hinderte ihn, nichts schreckte ihn ab. In der internationalen Politik gibt es weniger verlässliche Regeln denn je. Es gilt das Recht des Stärkeren.
Israel ergriff die Chance, die Hamas zu vernichten, den Hizbullah zu dezimieren und Iran zu schwächen. Alle Versuche Washingtons, den jüdischen Staat zur Mässigung anzuhalten, scheiterten. Israel erwies sich in dem Regionalkonflikt als der Stärkere und nutzt diese Position bis an die Grenze des Möglichen aus.
Im Kalten Krieg war das noch anders. Nachdem sich die USA im Jom-Kippur-Krieg 1973 unzweideutig auf die Seite Israels gestellt hatten, herrschte im Orient eine Machtbalance. Die Sowjetunion hielt ihre Hand schützend über das Asad-Regime, Amerika die seine über die US-Verbündeten. Immer wieder entluden sich die Spannungen in Gewalt, doch die Supermächte verhinderten einen Flächenbrand.
Das ist vorbei. Russland ist kein globaler Hegemon mehr, der sich in mehreren Regionen gleichzeitig durchsetzen kann wie im Kalten Krieg. Moskau muss all seine Kraft für den Krieg in der Ukraine aufwenden. Da blieb nichts mehr für Syrien übrig, obwohl das Land mit seinem russischen Kriegshafen das militärische Fundament von Moskaus Stellung in der Region bildete.
Das sagt viel aus über Russlands heutige Stärke. Sie ist gross genug, um ein wehrloses Nachbarland zu überfallen. Aber sie genügt nicht für einen überlegenen Gegner oder einen weiter entfernten Schauplatz. So erscheinen die Warnungen, Putin werde sich nach der Ukraine dem Baltikum zuwenden, als masslos übertrieben.
Auch das düstere Szenario, der Diktator werde bei einer weiteren Eskalation zu Atomwaffen greifen, ist realitätsfern. Dafür ist das Regime zu schwach. Trotz dem russischen Neoimperialismus sind die Tage der Sowjetunion unwiderruflich vorbei.
Putin ist ein Meister darin, grösser zu erscheinen, als er ist. Doch das funktioniert nur so lange, bis sein Gegenüber den Bluff durchschaut. Vielleicht hat Trump die Nervenstärke dazu.
Aber auch die amerikanische Abschreckung befindet sich in einer Krise. Die USA sind nicht mehr die einzige Supermacht wie nach 1989. Es gibt heute mehrere Mächte, die Washington offen herausfordern. Dass die USA Atomwaffen besitzen, ist gleichgültig. Nukleare Abschreckung funktioniert nur unter Atommächten. Kein Präsident setzt die Atombombe gegen die Taliban ein.
Seit die Hamas den Nahen Osten ins Chaos gestürzt hat, wirkt Washington bemerkenswert hilflos. Die jemenitischen Huthi bringen den Schiffsverkehr im Roten Meer, auf einer der wichtigsten Handelsrouten der Welt, mit Luftangriffen fast zum Erliegen.
Die USA aber wagen es nicht, gegen die Hintermänner der Rebellen, die Mullahs in Teheran, vorzugehen. Dabei wäre es ein Leichtes, die iranischen Ölexporte zu blockieren. Eine symbolische Machtdemonstration würde genügen, doch selbst dafür fehlt der Wille.
Im Gegensatz zum Kalten Krieg und zur goldenen Ära nach dem Zusammenbruch des Ostblocks gibt es heute keine globale Ordnung. Alle Machtverhältnisse sind flüchtig; es herrscht Weltunordnung. Bis dieses Vakuum gefüllt wird, vergehen Jahre. Darin besteht der krisenhafte Charakter der Gegenwart.
In solchen Phasen der Unsicherheit brachen in der Vergangenheit Weltkriege aus. Umso mehr kommt es auf klare Strategien und entschlossenes Handeln an.
Als die Hamas am 7. Oktober vor einem Jahr in Israel einfiel, hatte Ministerpräsident Netanyahu keinen Plan. Er wurde von der Invasion ebenso überrascht wie Militär und Geheimdienste. Aber er formte aus den Trümmern der alten Doktrin eine Strategie und liess sich von Kritik nicht beirren.
Die israelischen Streitkräfte haben sich gründlich auf den Kampf im Labyrinth der Häuser und Tunnel von Gaza vorbereitet. Sie lernten die Lektion aus dem Libanonkrieg 2006: keine Invasion, sondern eine beschränkte Operation in Grenznähe und Luftangriffe auf den Hizbullah im Hinterland. Die Nachrichtendienste bauten ihre Überlegenheit aus, indem sie tief in die elektronische Kommunikation des Gegners eindrangen.
All diese Elemente für den israelischen Triumph waren bereits vorhanden. Entschlossene Führung musste sie jedoch zusammenfügen und umsetzen. Netanyahu tat dies – mit einer Portion Skrupellosigkeit, denkt man an die verschleppten Geiseln. Ihre Befreiung hat für den Regierungschef keine Priorität. So gelang es ihm, die Umklammerung durch die iranischen Hilfstruppen Hamas und Hizbullah zu sprengen.
Israel hat mehr für den Sturz Asads getan als die USA
Die Niederlage des Hizbullah ebnete den Weg für den Sturz des syrischen Despoten. Gerade zerstört Israels Luftwaffe die unheimlichen Arsenale Asads, der Massenvernichtungswaffen angehäuft und sein Volk vergast hatte. Früher hätten das die USA selbst gemacht.
Selbst enge Verbündete wie Amerika und Deutschland warnten hingegen unablässig vor einer Eskalation. Hätten sie sich durchgesetzt, hätte Israel keines seiner Kriegsziele erreicht. Ohne Risikobereitschaft werden keine Konflikte gewonnen. Die Warnung vor einer Eskalation indes verkommt zur Ausrede für westliche Untätigkeit.
Das unrühmliche Ende der Dynastie in Damaskus trifft Iran mehrfach. Erstens wurde ein wichtiger Verbündeter gestürzt. Zweitens entfällt die Landverbindung nach Libanon und damit der direkte Nachschubweg für den ohnehin geschwächten Hizbullah; drittens muss Teheran den Traum von der regionalen Hegemonie vorerst begraben.
Von der israelischen Strategie profitierten zunächst die syrischen Rebellen. Langfristig nützt es den USA. Mit dem Atomprogramm, der konventionellen Überlegenheit und dem Spinnennetz seiner Hilfstruppen machte Iran Washington die Vorherrschaft im Nahen Osten streitig. Das ist abgewendet. Die amerikanischen Partner am Golf, allen voran Saudiarabien, können aufatmen.
Die Europäer werden es nie zugeben, aber wenn die Zahl der syrischen Flüchtlinge zurückgeht, wenn weniger Migranten und Extremisten aus der Region kommen, dann haben sie das mehr Netanyahu zu verdanken als ihren eigenen Friedensappellen.
Die gute Nachricht des machtpolitischen Revirements lautet: Die Zustände können sich unvermittelt zugunsten des bedrängten Westens wenden. Dieser hatte sich in den letzten Jahren schon fast damit abgefunden, dass ihm die autoritäre Achse mit China, Russland, Iran und Nordkorea den Rang abläuft. Die Wehklagen über den unaufhaltsamen Aufstieg der Feinde der Freiheit füllen ganze Bibliotheken.
Doch es gibt kein Ende der Geschichte. Weder haben die Demokratien mit dem Kollaps des Kommunismus endgültig gesiegt, noch wird das der autoritären Allianz gelingen. Das Ringen geht von einer Runde in die nächste. Mehr als ein Gleichgewicht wird sich nie einstellen.
Die schlechte Nachricht lautet: Damit sich die Lage verbessert, muss man aktiv etwas dafür tun und auch bereit sein, Risiken einzugehen. Wer nur abwartet, gewinnt nichts.
Die USA haben im Nahen Osten zu lange zugeschaut. Das genügt nicht. Die Europäer wiederum vertrauen darauf, dass der grosse amerikanische Bruder mit Moskau eine Lösung für die Ukraine aushandelt. Das genügt erst recht nicht. Eine stabile Ordnung stellt sich nicht von alleine ein.








