Der iranisch-österreichische Autor Amir Gudarzi schreibt über Flucht und Fremdsein und iranischen Antisemitismus. Im Interview macht er seinem Ärger über «die Linke» im Westen Luft, zu der er eigentlich selbst gehört.
Der iranisch-österreichische Dramatiker Amir Gudarzi kommt mit Birkenstock-Sandalen und beeindruckendem Backenbart daher. Im locker über die Schulter geworfenen Stoffbeutel liegt auch sein erster Roman «Das Ende ist nah», aus dem er später lesen wird. Es ist die Geschichte des Studenten A., der während der iranischen Proteste 2009 nach Österreich flieht. Aus dem Künstler wird ein Flüchtling, aus dem Regimekritiker ein Antragsteller. Auch Amir Gudarzi studierte in Teheran, protestierte gegen das Regime, floh 2009 und lebt seither in Wien.
Sie haben bereits vor dem Gespräch gesagt, dass Sie nicht über Ihre eigene Biografie sprechen werden. Warum?
Es ist sinnlos, über meine eigene Geschichte zu sprechen. Erstens, weil ich dann keine Macht mehr darüber habe, wie ich präsentiert werde. Es wurde zum Beispiel einmal geschrieben, dass meine Mutter eine Österreicherin oder Mexikanerin sei. Stimmt nicht. Zweitens würde ich gerne wie alle anderen Autorinnen und Autoren über meine Arbeit sprechen und nicht über mein Leben. Aber gerade Journalisten lieben es, das zu verbinden, dabei ist es doch – Entschuldigung – scheissegal, wer ich bin.
Ihr Buch hat aber sehr viele Parallelen zu Ihrem echten Leben. Der Protagonist heisst A.
Das A. steht für Antragsteller, nicht für Amir.
Und A. war in Iran Regimekritiker, wie Sie, und ist 2009, wie Sie, nach Wien geflohen.
Ich spiele natürlich bewusst damit, weil alle so sensationsgeil sind auf eine «echte» Fluchtgeschichte. Aber wenn ich sagen würde, dass das meine Geschichte ist, dann sprechen viele dem Buch seine literarische Qualität ab.
Wann wurde für Sie das Verwechseln Ihrer eigenen Geschichte mit der Ihres Protagonisten zum Problem?
Jemand in Österreich schrieb zum Beispiel, der Teil des Buches über Iran sei okay geschrieben, aber das sei auch keine Kunst, weil es ja meine Geschichte ist. Der zweite Teil zeige, dass ich mit Österreich und seiner Geschichte restlos überfordert sei. Ich als Orientale sei nicht klug genug, um die Komplexität der österreichischen Geschichte zu erfassen. Dabei ist mein Protagonist überfordert, das ist der Plot – und ich habe sehr klar gemacht, dass ich nicht dieser Protagonist bin. Jemand aus der Jury eines renommierten Literaturpreises hat gesagt, es sei anmassend, wie ich, der Autor, mich zum Helden stilisiere in dem Buch. Dabei – ach, lassen wir es.
Ihr Protagonist A. ist Antisemit.
Zumindest ist er von der antisemitischen Propaganda des iranischen Regimes nicht verschont geblieben. Obwohl er glaubt, alles, was vom Regime kam, kritisch zu betrachten.
Warum haben Sie sich dazu entschieden, ihn gerade den Antisemitismus erst einmal nicht reflektieren zu lassen?
Mein Protagonist ist ein Mensch auf der Suche. Erst in dem Moment, in dem er nach Westeuropa kommt und die Schauplätze der Shoah sieht, kapiert er das Ausmass dieses Leids. Er hat davon nichts gehört in der Schule, nichts gelesen, denn diese Wahrheit passt nicht in die antisemitische Propaganda des iranischen Regimes.
Ist A. also auch ein Beispiel für importierten Antisemitismus?
Ein wieder-importierter Antisemitismus. In den Ländern mit muslimischen Mehrheitsgesellschaften gibt es ein Problem mit Antisemitismus. Er ist dem Christentum und dem Islam als abrahamitische Weltreligionen inhärent. Gleichzeitig wurde in der NS-Zeit bewusst von den Nationalsozialisten per Radio antisemitische Propaganda in Arabisch und Farsi in diesen Ländern gesendet. So wurden die Menschen auch mit einem modernen Antisemitismus, der die Weltherrschaft verschwörungstheoretisch in der Hand der Juden sieht, bekanntgemacht.
Sie sagten auf dem Weg zum Interview, dass Sie sich über die Zurschaustellung der Palästina-Solidarität ärgern. Warum?
Ich habe kein Problem damit, Aktivismus zu betreiben, der den Menschen tatsächlich hilft. Für die Protestierenden hier im Westen geht es aber darum, sich selbst zu positionieren. Den Menschen in Gaza bringt es nichts, wenn man hier unreflektiert die Slogans der Hamas wiederholt. Die Hamas interessiert sich nicht für die Menschen in Gaza. Mit einer bei den Protesten in Europa vielfach beobachtbaren Gleichsetzung von Palästina und der Hamas sorgen die Pro-Palästina-Demonstranten nur für mehr Antisemitismus.
Inwiefern? Es wird etwa von den Studierenden an der Uni immer betont, dass sie für die Menschen in Gaza und gegen die Regierung in Israel sind.
Zionisten werden absurderweise als Kolonialisten bezeichnet, Israel als Kolonialstaat, ohne die historischen Hintergründe zu kennen. Mein Eindruck ist, bei diesen Demonstrationen wissen zum Beispiel wohl die wenigsten Bescheid über die Pogrome der 1880er Jahre in Russland. Hunderte Juden wurden ermordet, Tausende verletzt und viele vergewaltigt.
Will man sich vielleicht gar nicht gut genug informieren, um an den vereinenden Parolen festhalten zu können?
Ich glaube, das grösste Problem der Linken – oder von Menschen ganz grundsätzlich – ist, dass sie die Welt dualistisch betrachten wollen. Es gibt für sie nur gut oder böse.
Beobachten Sie dieses Problem auch im Hinblick auf Iran?
Ich habe sehr lange sehr wenig Solidarität für die iranische Bevölkerung beobachtet, weil die europäische Linke – zu der ich mich eigentlich auch selber zähle – das iranische Regime für dessen Anti-Amerikanismus gefeiert hat. Das ist doch mal interessant: Der Kampf der Frauen in Iran ging an dieser Linken jahrelang spurlos vorbei. Heute hört man den iranischen Ruf «Frau, Leben, Freiheit» im Westen kaum noch. Ich erinnere mich auch an viele Diskussionen mit Deutschen oder Österreichern, die den ehemaligen iranischen Präsidenten Ahmadinejad am Anfang gut fanden.
Mahmud Ahmadinejad, der den Holocaust eine «grosse Lüge» nennt und das «Ende des Besatzungsregimes in Israel» fordert – was fanden Ihre damaligen Gesprächspartner an ihm gut?
Den Leuten gefiel die Haltung des iranischen Regimes gegenüber Amerika und dem Westen. Das sind für sie imperialistische und kolonialistische Mächte, gegen die Iran sich wehrt. Heute wird Israel von den gleichen Leuten als Kolonialstaat betrachtet. Israeli und Juden werden als «Weisse» mit entsprechenden Privilegien kategorisiert. Das passiert, wenn man nicht genügend Geschichtsbewusstsein hat.
Sie haben sich vorhin selbst als Linken bezeichnet. Wie ist diese politische Haltung mit Ihrer Meinung zur aktuellen Lage vereinbar?
Ich will den Linken nicht in den Rücken fallen, weil das nur die Rechten stärkt. Ich glaube an eine Linke, die klug, differenziert, weltoffen und religionskritisch ist. «Meine» Linke steht auf der Seite aller Menschen, die Hilfe und Solidarität brauchen. Ganz grundsätzlich, nicht, weil es gerade alle laut rufen.
Es ist also gerade «in», sich mit Gaza zu solidarisieren?
Ich finde es legitim und auch wichtig, sich solidarisch zu zeigen mit den zivilen Opfern in Gaza. Auch ich bin solidarisch. Aber zu vergessen, dass es die Hamas war, die am 7. Oktober angegriffen hat, Geiseln genommen hat, dass es die Hamas war, die den Waffenstillstand unterbrochen hat und sich jetzt hinter der zivilen Bevölkerung versteckt, ist falsch. Wer protestieren will, muss seine Parolen nicht nur gegen Israel richten – sondern auch gegen die Hamas.
Bereits kurz nach dem 7. Oktober kritisierten jüdische Linke wie Meron Mendel, der Leiter der Bildungsstätte Anne Frank, das Schweigen und die zögerliche Solidarität von Teilen der deutschen Linken mit Israel.
Ich habe auch nichts übrig für die rechte Regierung in Israel. Ich finde Netanyahus Politik problematisch. Aber auch die Mehrheit der Bevölkerung in Israel steht nicht hinter dieser Regierung. Trotzdem unterstützt man dann im Westen Boykottbewegungen, die jene Menschen in Israel treffen, die sowieso schon einen schweren Stand haben, weil sie ihre eigene Regierung kritisieren.
Mit Boykottbewegungen meinen Sie zum Beispiel BDS, «Boycott, Divestment and Sanctions», eine internationale Bewegung, die Israel wirtschaftlich, kulturell und politisch zu isolieren versucht?
Genau, man verhindert Auftritte von Intellektuellen aus Israel, auch von regierungskritischen Stimmen – einfach weil sie Juden und Israeli sind und obwohl sie ihre eigene Regierung kritisieren und damit eigentlich die erste Front im Kampf um Menschlichkeit in Gaza sind. Geht man durch die Welt und schreit jedem Russen und jeder Russin ins Gesicht, dass sie Mörder sind? Wirft man allen Schweizern vor, dass Gelder von Diktatoren auf eidgenössischen Banken liegen? Nein. Man betrachtet das differenziert. Warum ist das bei Juden und Israeli anders?
Bevor Sie 2009 aus Iran geflohen sind, waren Sie als Regierungskritiker an vielen Demonstrationen. Eine Solidaritätswelle, wie sie Palästina jetzt sieht, gab es weder damals noch heute.
Ich hätte mir für Iran eine Unterstützung gewünscht, die etwas bewirkt, die der Bevölkerung hilft. Das hätte ich mir auch für Palästina gewünscht. Aber so ist es nicht. Wenn die Leute allerdings nun «Genozid» rufen: In China fand und findet einer statt.
Sie sprechen von den Uiguren?
Ja. Ihre Frauen werden sterilisiert. Es gibt über eine Million Menschen, die in sogenannte «Umerziehungslager» gesteckt wurden. Sie werden erniedrigt, geschlagen, gefoltert. Ich sehe aber keinen, der deswegen eine chinesische Botschaft stürmt. Ich habe auch noch nie ein muslimisches Land gesehen, das als Protest die Beziehung zu China abbricht. Der Grund ist einfach: China ist zu gross, zu mächtig. Niemand traut sich da was zu machen. Die Türkei ist auch ein gutes Beispiel. Sie ist eine Besatzungsmacht und kolonialisiert gerade die kurdischen Gebiete in Syrien. Auch dagegen sehe ich – ausser von den Kurden selbst – keine Proteste. Aber die Hamas hat Glück. Sie braucht gar keine Propaganda mehr zu machen: Die Demonstrierenden hier bei uns sind ihr Sprachrohr.
Denken Sie, manche Demonstrierende wissen noch immer nicht, was sie mit solchen Parolen genau fordern – nämlich die Auslöschung Israels.
Nicht alle, aber viele. Sie laufen im Arafat-Look herum und vergessen, dass die Entwicklung im Jahr 2024 eine andere ist als in den achtziger Jahren. Es zeigt dieses vereinfachte Weltbild von gut und böse. In dieses dualistische Weltbild passen die Iranerinnen und Iraner eben auch nicht hinein, die einerseits um ihre Freiheit kämpfen, aber andererseits auch eine Regierung bekämpfen, die unter den hiesigen Linken lange für ihren Anti-Amerikanismus gefeiert worden ist.
Sie äussern sich kritisch gegenüber dem iranischen Regime. Haben Sie keine Angst?
Meine Eltern leben nicht mehr in Teheran. Es gab aber eine Zeit, in der ich mich aktiver und öfter gegen das Regime äusserte. Da haben sie sich zu erkennen gegeben. Aber das ist jetzt schon einige Jahre her.
Was heisst «zu erkennen gegeben»?
Leute haben mich in Wien auf der Strasse auf Farsi als «Zionisten-Hund» beschimpft und mich bedroht. Mich auch mit unterdrückter Nummer angerufen, manchmal 20-mal am Tag, und Drohungen auf Farsi ausgesprochen. Aber das habe ich nicht ernst genommen.
Ist das klug, so etwas nicht ernst zu nehmen?
Es ist ein Schutzmechanismus für mich selbst. Sie bedrohen uns, damit wir, die iranische Diaspora, in Angst leben. Das ist ihr Ziel. Wenn sie mir tatsächlich etwas hätten antun wollen, hätten sie mich nicht vorab gewarnt.
Amir Gudarzi: Das Ende ist nah. dtv, München 2023. 416 S., Fr. 34.90.