Es ist eine Kampfansage an die Bürgerlichen im Kanton.
Die Verteidiger der integrativen Schule haben lange gewartet.
Seit Jahren wird die Kritik an diesem Modell laut und lauter – zu aufwendig, zu belastend für Klassen und Lehrpersonen. Auch in der Öffentlichkeit wächst die Skepsis, wie Umfragen zeigen.
Die Idee, dass jedes Kind, egal wie schwierig, grundsätzlich in der Regelklasse unterrichtet werden soll, ist unter Druck. Das ist umso bemerkenswerter, als das Modell seit zwanzig Jahren in Zürcher Schulen immer mehr um sich greift – gestützt auf Studien, die den Lernerfolg der integrierten Kinder als grösser beschreiben.
Die Gegner der schulischen Integration blieben ob dieses Wandels nicht untätig. FDP und GLP haben vergangenes Jahr die «Förderklasseninitiative» lanciert und diese vor einem Monat durch das Kantonsparlament gebracht. Sie wollen damit mehr Ruhe in die Regelklassen bringen und Lehrpersonen entlasten.
Die Folge: In Zürich kommt es zu einer Renaissance der Kleinklassen. Wie diese genau aussehen soll, müssen Regierung und Parlament allerdings noch entscheiden.
Nun lancieren mehrere Zürcher Behindertenverbände ihrerseits eine Volksinitiative, die diesen Prozess weiter verkomplizieren dürfte. Das Begehren – eingereicht just dann, als der Streit um die Integration vorerst entschieden schien – ist eine Kampfansage an die Bürgerlichen.
«Von rechts heisst es, die integrative Schule sei am Ende», sagt die Mitinitiantin und SP-Kantonsrätin Birgit Tognella-Geertsen. «Das könnte falscher nicht sein. Die Inklusion ist nicht gescheitert!»
Es stimme zwar, dass Schulen und Lehrpersonen vor grossen Herausforderungen stünden. Diese seien mit Kleinklassen aber nicht zu lösen, glaubt Tognella-Geertsen. «Der Alltag im Klassenzimmer ist tatsächlich schwieriger geworden», sagt sie. Das liegt aus ihrer Sicht aber nicht an der Integration.
Die Ursachen sieht sie bei fordernden Eltern, im bürokratischen Schulwesen und bei Trends wie dem selbstorganisierten Lernen. All das habe den Unterricht auf den Kopf gestellt und die Schule weniger offen und tragfähig für ≈gemacht.
«Aber die Lösung ist nicht, diese Kinder zu entfernen», sagt Tognella-Geertsen. «Die Integration wird gerade zum Sündenbock für sämtliche Probleme der Volksschule gemacht.»
Weniger Bürokratie
Um dem entgegenzuwirken, will die Initiative mit dem Namen «Schule für alle» die integrative Förderung in Regelklassen flexibler gestalten und die Lehrpersonen von administrativem Aufwand entlasten. Wie das genau funktionieren soll, bleibt allerdings etwas nebulös.
Der Initiativtext ist in Form einer allgemeinen Anregung gehalten. Die zentrale Forderung ist mehr Spielraum für die einzelnen Schulen beim Einsatz von Sonderpädagogik-Ressourcen. Diese Mittel sollen die Gemeinden neu «indexbasiert und pauschal erhalten».
Was das heisst, erklärt die Initiantin Tognella-Geertsen so: «Das Geld für die integrative Förderung soll ohne unnötige Bürokratie fliessen. Und über seinen Einsatz sollen jene entscheiden, die es am besten wissen: die Lehrpersonen und Schulleitungen.»
Das klingt zwar gut, aber: Das Geld für den integrativen Unterricht wird schon heute zu einem guten Teil etwa so ausbezahlt, wie die Initianten es nun fordern.
Für die integrative Förderung erhalten die Gemeinden nämlich pauschal Personalressourcen zugeteilt, proportional zur Anzahl Schülerinnen und Schüler. Von den entsprechenden Löhnen zahlt der Kanton wiederum einen fixen Anteil, nämlich einen Fünftel. Wie sie diese Stellenprozente einsetzen, entscheiden die Gemeinden schon heute selbst. Das bestätigt das Volksschulamt auf Anfrage der NZZ.
Individuell, also an den Schüler gebunden, sind lediglich Zuschüsse für Kinder mit aussergewöhnlich viel Förderbedarf. Das sind solche, die an eine Sonderschule müssen oder deren integrative Beschulung Kosten von mehr als 45 000 Franken im Jahr verursacht.
In diesen Fällen könnte die Initiative mit ihrer Forderung nach pauschalen Zahlungen also tatsächlich einen Systemwechsel bringen. Dieser beträfe allerdings bloss einen kleinen Anteil der geförderten Kinder. Solche, deren Betreuung besonders viel kostet – und die demnach auch von der neuen Pauschale einen Grossteil benötigen würden.
Mehr Macht für Lehrpersonen
Dazu kommt: Die Initiative will sich gemäss der Initiantin Tognella-Geertsen gerade nicht auf die Kinder mit dem höchsten Förderbedarf beschränken, sondern auch jene ohne Diagnose oder mit leichten Beeinträchtigungen mit einschliessen.
Ihnen solle schneller und unbürokratischer geholfen werden, sagt Tognella-Geertsen. So solle es etwa möglich sein, Stunden in Heilpädagogik, Logopädie oder Psychomotorik zu erhalten, bevor die dafür heute oftmals nötige Diagnose gestellt sei. Das könne nämlich sehr lange dauern – «und in der Zwischenzeit leiden die Kinder und ihre Klassen».
Konkret fordert Tognella-Geertsen, dass künftig nicht mehr in erster Linie die schulpsychologischen Dienste und die Schulpflegen über Sonderpädagogik-Ressourcen bestimmen, sondern dass die Lehrpersonen hier das letzte Wort haben.
Doch würde eine solche Zusatzkompetenz die Lehrpersonen nicht bloss mit einer neuen Zusatzaufgabe belasten – und den Eltern einen Anlass mehr geben, Druck auf sie auszuüben?
Das glaube sie nicht, sagt Tognella-Geertsen. «Es würde schnellere und flexiblere Hilfe im Unterrichtsalltag bedeuten.» Das wiederum werde mehr Ruhe in die Klassen und damit auch in die Arbeit der Lehrperson bringen.
Ein Problem ist damit allerdings nicht gelöst: Diese Forderung nach mehr Autonomie der Lehrpersonen gegenüber den schulpsychologischen Diensten ihrer Schulgemeinden ist im Initiativtext selbst gar nicht enthalten. Dort wird nur die Entrichtung pauschaler Beiträge an die Gemeinden als explizite Neuerung erwähnt.
Zur Verteidigung der integrativen Schule fordert die neu lancierte Initiative also ein neues Finanzierungsmodell, das «inklusive Strukturen stärken» soll. Dieses neue Modell scheint jedoch in Teilen schon heute Realität zu sein – womit unklar bleibt, inwiefern die zentrale Forderung der Initiative ihre Ziele sinnvoll realisieren kann.
Die Initianten beginnen nun mit dem Sammeln der Unterschriften. Wollen sie ihr Vorhaben dereinst durch eine Volksabstimmung bringen, werden sie noch viel Erklärungsarbeit leisten müssen.