Anja Graf herrscht in Zürich über ein Reich von 900 Business-Apartments. Und hat ein paar überraschende Argumente.
Wenn sich Linke in der Stadt Zürich ein perfektes Feindbild zimmern würden: Anja Graf käme ihm wohl ziemlich nahe.
Sie betritt das Büro in der Zürcher City rasant, auf hohen Absätzen, in einem Mantel mit einschüchterndem Pelzkragen. Eine Power-Rüstung, die Selbstbewusstsein signalisiert. «Ich habe viel Energie», sagt sie mit einem Lächeln und ergänzt auf Neudeutsch: «Ich bin ein ‹relentless type›», also unnachgiebig. Man ist gewarnt.
Mit ihrer Vision AG hat sie die Idee der möblierten Business-Apartments für Kurzaufenthalter nach Zürich gebracht, von denen es jüngst rund 4700 Stück gab. Jetzt ist sie gerade aus Bukarest eingeflogen, wo sie inzwischen lebt und ihr Immobilienimperium erweitert. Hierzulande sieht man sie vor allem noch, wenn sie in der TV-Show «Die Höhle der Löwen» über die Business-Ideen von anderen richtet.
Doch dann setzt sich die gleiche Anja Graf an den Konferenztisch, und noch bevor sie die vegane Milch in ihren Kaffee giesst, sagt sie Sätze, wie man sie allenfalls aus dem Mund ihrer Kritiker erwarten würde.
«Ein Haus mit Familien nehmen, alle rauswerfen und dann teurer weitervermieten?», ereifert sie sich ungefragt über die «Sugus»-Häuser, diesen spektakulären Fall einer Zürcher Leerkündigung, der seit einer Weile Stadtgespräch ist. «So etwas darf es wirklich nicht geben!» – «Da sollte der Riegel geschoben werden!» – «Das macht eine Stadt kaputt.» – «Eine Stadt lebt von den Menschen, die in ihr leben.»
Als Mutter von vier Kindern könne sie nicht hinter so etwas stehen. Graf erzählt von der alleinerziehenden Angestellten einer Reinigungsfirma, die verzweifelt eine neue Wohnung suchte. Sie sagt, es sei richtig, wenn die Stadt Business-Apartments reguliere. Und dass man sogar noch weiter gehen könnte: Warum nicht eine Expertise einfordern, bevor jemand ein Mehrfamilienhaus leerkündigen und sanieren darf? Eine Abklärung, ob das wirklich nötig ist: «Darüber sollte man nachdenken.»
Anja Graf ist zunächst einmal ein grosses Rätsel.
Der Aufstieg zur Königin der Business-Apartments
Ihr Geschäftssinn zeigte sich schon, als sie ein Mädchen war. So vermietete sie die Boxen im eigenen Pferdestall. Ihre unternehmerische Karriere begann dann an einem Morgen Mitte der 1990er Jahre. Damals betrat sie zum letzten Mal das Wirtschaftsgymnasium in Winterthur, um sich von allen zu verabschieden – auf Nimmerwiedersehen. So erzählt sie das selbst.
Sie war 17-jährig und hatte errechnet, wann sie ein Studium in der Tasche hätte und beruflich «endlich loslegen» könnte. Ergebnis: genau dann, wenn man als Frau eine Familie gründen möchte. Also viel zu spät.
Darum setzte Graf voll auf eine eigene Modelagentur. Um die Models aus Osteuropa in Zürich unterzubringen, mietete sie leerstehende Räume über einer Autogarage beim Letzigrundstadion und stattete sie mit Möbeln aus dem Brockenhaus aus.
Das sprach sich herum, auch unter Fotografen und Stylisten, und Graf stellte plötzlich fest: «Genial, da kommen pro Zimmer 700 Franken im Monat rein.» Die Banken erholten sich gegen Ende der 1990er Jahre von einer grossen Immobilienkrise, deshalb gab es in Zürich leere Liegenschaften im Überfluss. Graf hatte ein Geschäftsmodell entdeckt und baute es nun schnell aus.
Der Widersacher, der ihr das Handwerk legen will
Gute zehn Jahre später, im November 2009, sind Anja Graf und ihre Vision Apartments der Auslöser dafür, dass einer der einflussreichsten Linksaussenpolitiker der Stadt seine Unterschrift unter ein angriffiges Dokument setzt. Unter einen Vorstoss, mit dem er Geschäftsleuten wie ihr das Handwerk zu legen hofft.
Niklaus Scherr, Mitgründer der Alternativen Liste, versteht sich selbst als «radikalen Linken», zu jenem Zeitpunkt ist er seit über dreissig Jahren Mitglied des Stadtparlaments. Aus dem Revoluzzer, der in besetzten Häusern wohnte, ist ein Politfuchs geworden, der immer noch an allem rüttelt, was ihm zu streng nach Kapitalismus riecht. Besonders, wenn es um Wohnraum geht.
Auf den ersten Blick wirkt er wie der Gegenentwurf zu Anja Graf. Wollpullover, Hemdkragen, Understatement – er könnte glatt als Geografielehrer durchgehen. Aber auch in seinen Augen blitzt gerne eine Kampflustigkeit auf, die klarmacht, dass man sich besser nicht mit ihm anlegt.
Die Wege von Scherr und Graf kreuzen sich einmal, als er an der Behörde für Mietstreitigkeiten als Schlichter im Einsatz ist. Es sei um einen Mann gegangen, dem Vision Apartments die Wohnung gekündigt habe, sagt er. Scherr erlebt Graf in jener Verhandlung als ziemlich kaltschnäuzig.
«Mir wurde damals klar, dass da eine Entwicklung im Gang ist, bei der normale Mieter rausgestellt werden», erinnert sich Scherr heute. «Mein Vorstoss war eine direkte Reaktion auf Frau Graf und ihre Firma – sie war ja ein First Mover im Geschäft mit Business-Apartments.»
Anja Graf legt Wert darauf, dass sie in den ersten Jahren von Vision Apartments ohne finanziellen Anschub ihres prominenten Vaters ausgekommen sei: Ulrich Graf, langjähriger CEO der Firma Kaba, deren Logo die Hausschlüssel der halben Schweiz ziert. «Ich ging nicht zu meinem Vater mit meiner Business-Idee – der kam erst drei Jahre später und schaute, ob ich noch lebe», sagt sie mit einem trockenen Lachen.
Das Startkapital, 80 000 Franken, hatte sie von ihrem damaligen Freund, einem Fotografen, dem Vater ihrer ersten Tochter. Die Mieten zahlte sie mit einer Kreditkarte, die sich grosszügig überziehen liess. Als sie schliesslich vom Vater einen Erbvorbezug von einer Million Franken bekam, machte sie nach eigenen Angaben bereits 280 000 Franken Umsatz im Jahr. «Ohne seine Hilfe.»
Graf machte mit Vision Apartments schnell genug Geld, um eigene Häuser zu kaufen. Sie beteuert aber, dass sie in ihrer Karriere nie Familienwohnungen umgenutzt habe. Anfangs seien es Häuser voller kleiner Studios gewesen, in denen nach der Schliessung der offenen Drogenszene am Letten Heroinabhängige gehaust hätten. «Gut», räumt sie ein, «denen habe ich die Wohnung genommen. Aber ich habe für die an der Langstrasse Ersatz gefunden.»
Ihr ärgster Gegner sagt: «Sie ist wieder einen Schritt voraus»
Niklaus Scherr zweifelt an diesem freundlichen Bild. Im Jahr 2009, als er seinen Vorstoss einreichte, erkannte er in Grafs Vision AG und anderen Firmen, die ihr in die gleiche Marktlücke gefolgt waren, eine Bedrohung. Überall, wo die Linken in der nun boomenden Stadt höhere Wohnanteile erkämpft hätten, würden diese umgehend für «nomadisches und touristisches Gelegenheitswohnen zweckentfremdet».
Seine Forderung: Business-Apartments und dergleichen – Airbnb war damals noch ein unbekanntes Startup – dürften nicht mehr an die vorgeschriebenen Mindestwohnanteile eines Gebäudes angerechnet werden, die für jedes Quartier in der Stadt festgelegt sind.
Jetzt, Anfang 2025 – Scherr ist längst Politrentner im Unruhestand –, steht seine Forderung nach jahrelangem Hin und Her vor dem möglichen Durchbruch. Dies, nachdem sich der tourismusfreundliche Stadtrat jahrelang gegen eine Regulierung gewehrt hatte. Und diese dann auch noch von mehreren betroffenen Firmen durch alle Gerichtsinstanzen gezogen wurde.
In diesem Frühjahr aber wird nun das abschliessende Verdikt des Bundesgerichts erwartet. Scherrs Forderung könnte zur Regel werden.
Tangiert wären davon etwa die Hälfte der über 4700 Business-Apartments, welche die städtischen Statistiker Ende 2023 gezählt haben. Also ein knappes Prozent aller Wohnungen in der Stadt. Zudem die geschätzten 1750 Wohnungen, die regelmässig über Airbnb vermietet werden.
Die andere Hälfte der Apartments wird von Mietern bewohnt, die seit mehr als drei Monaten hier leben und in der Stadt angemeldet sind. Expats zum Beispiel mit einem befristeten Job in der Finanzbranche. Sie werden zur normalen Wohnnutzung gezählt. Scherr findet diese Unterscheidung nachvollziehbar.
Gar nicht betroffen wäre von der neuen Regel ausgerechnet jene Frau, die vor vielen Jahren bei Scherr die Alarmglocken hat läuten lassen: Anja Graf und ihre Vision AG, deren Bestand in Zürich nach eigenen Angaben inzwischen auf 900 möblierte Apartments angewachsen ist. Sie gibt sich entspannt – und sah im Gegensatz zu ihrer Konkurrenz auch nie einen Anlass, die neuen Regeln vor Gericht anzufechten.
Den Grund erklärt sie so: Manche ihrer Konkurrenten hätten normale Wohnungen von Dritten gemietet, die Mieter rausgeworfen, die Räume ausstaffiert und gegen einen Aufpreis weitervermietet. Sie selbst dagegen kaufe heute Gewerbeliegenschaften oder alte Hotels und reiche dann ein Baugesuch ein, um diese als Apartmenthäuser oder hotelähnliche Betriebe zu nutzen. «Die Stadt hat das bewilligt – sie kann jetzt nicht plötzlich kommen und sagen, dass wir daraus Familienwohnungen machen müssen.»
Ein Blick in die amtlichen Stadtpläne zeigt zwar: Ein guter Teil der Häuser befindet sich in Zonen mit vorgeschriebenen Mindestwohnanteilen von über 50 Prozent; zum Teil werden sogar 80 Prozent und mehr verlangt. Aber laut Graf sind alle bis auf eines gar nicht als Wohnhäuser nutzbar, weil zum Beispiel der Lärmschutz dies verbiete. Und das einzige, für das dies nicht gelte, habe sie verkauft.
Tatsächlich sind die Vision-Apartment-Häuser im Gebäuderegister konsequent als «Gebäude mit teilweiser Wohnnutzung» registriert – eine Kategorie, die unter anderem Hotels umfasst. Und der Zürcher Stadtrat entschied sich mit Rücksicht auf den Tourismus für eine Regulierung, die Hotels nicht tangiert. Entgegen dem Auftrag von links.
Niklaus Scherr vermutet, dass Graf hier eine verwundbare Flanke der Regulierung sucht: «Sie ist den anderen erneut einen Schritt voraus und hat schon eine Ausweichstrategie.» Zudem habe sie gemerkt, dass der Widerstand in ganz Europa zunehme – von Barcelona bis Berlin. Darum verlege sie sich neuerdings auf Häuser mit geringem Wohnanteil.
Bangen muss nicht Graf, sondern ihre Konkurrenz
Graf kann es sich also leisten, die Regulierung willkommen zu heissen, die ihr erklärter Gegner angestossen hat. Die Konkurrenz dagegen vermietet Apartments zum Teil in Häusern, die als Wohngebäude registriert sind. Ihr bangt deshalb vor den neuen Regeln.
Zum Beispiel Konstantin Katsalis von Zurich Relocation, einem jener Mitbewerber, die sich vor Gericht gegen die Einschränkungen wehren. «Die geplante Regulierung spielt dem Platzhirsch in die Karten und führt dazu, dass sich dessen Marktposition stärkt», sagt er. Gemeint ist Anja Graf mit ihren Vision Apartments.
Seine Firma ist spezialisiert auf Geschäftsleute, die von ihren Arbeitgebern für wenige Wochen oder Monate nach Zürich geholt werden. Zudem vermietet sie über Airbnb Wohnungen an Touristen. Beides komme der Wirtschaft zugute, sagt er, «und letztlich dem Wohlstand aller Zürcher».
Eine Regulierung brauche es nicht, sagt Katsalis, das erledige der Markt von selbst. Der Beleg: Im letzten Jahr sei die Nachfrage zurückgegangen. Ein Konkurrent, die Nest Temporary AG, ging prompt in Konkurs.
Im Gegensatz zu Graf geht Katsalis davon aus, dass sein Geschäftsmodell von den neuen Regeln «erheblich» beeinträchtigt würde. Am Problem der steigenden Mietpreise in der Stadt hingegen ändere sich dadurch – anders als von Scherr und Konsorten erhofft – kaum etwas. Denn erstens machen seine hundert Apartments weniger als ein halbes Promille des städtischen Wohnungsbestandes aus. Und zweitens wären diese wegen ihrer Lage und ihrer Grösse ohnehin sehr teuer und daher nichts für «schützenswerte Bevölkerungsgruppen».
Tatsächlich sind in Zürich Einzimmerwohnungen pro Quadratmeter deutlich teurer als grössere Wohnungen, wie eine Datenanalyse der NZZ gezeigt hat. Anbieter von Business-Apartments, die auf diese Kategorie spezialisiert sind, dürften allerdings dazu beitragen. Im Trendquartier Wiedikon etwa verlangen verschiedene Anbieter für Studios mit einer Grösse von unter 20 Quadratmetern um die 2500 Franken im Monat. Manchmal leben in den gleichen Wohnhäusern nebenan Mieter, die für eine Dreieinhalbzimmerwohnung weniger zahlen.
Der nächste Kampf bahnt sich schon an
Die Preisfrage ist die einzige, die Anja Graf an diesem Tag hinter ihrem Konferenztisch in der Innenstadt aus der Ruhe bringt. Sie reagiert gereizt auf den Vorwurf von linken Politikern und anderen Kritikern, dass sie sich auf Kosten der Stadtbewohner übermässig bereichere.
«Ich stelle diese Wohnungen hin, damit die Expats zu mir kommen – und nicht solche belegen, die von einheimischen Familien bewohnt werden können», sagt sie. Sie könne wohl 20 Prozent mehr Miete für ein Business-Apartment verlangen, müsse aber den gesamten Service und die Lücken im Belegungsplan finanzieren. Dabei verdiene man sich keine goldene Nase, dies zeige auch der Konkurs eines Konkurrenten. «Das ist ein normales, aufwendiges Geschäft. Wer das nicht begreift, dem kann ich auch nicht helfen.»
Einer, dem sie offensichtlich nicht helfen kann, ist der Stadtzürcher SP-Präsident Oliver Heimgartner. Noch bevor die von Niklaus Scherr angestossenen Beschränkungen in Kraft treten, hat er angekündigt, mit seiner Partei einen Schritt weiterzugehen. Per Initiative will er nach Luzerner Vorbild die kurzzeitige Vermietung von Wohnräumen während mehr als 90 Tagen im Jahr komplett verbieten. Die Unterschriftensammlung beginnt diese Woche.
Heimgartner stellte in einem Interview mit der NZZ auch klar, gegen wen sich das richtet: gegen kommerzielle Anbieter, «die systematisch Hunderte von Business-Apartments oder Airbnb-Wohnungen vermieten – alles nur, um die Rendite zu maximieren».
Auch wenn es Anja Graf nicht begreifen kann: Als perfektes Feindbild der Linken dürfte sie so schnell nicht ausgedient haben.