Die Regierungskoalition von Donald Tusk hat vor einem Jahr die grosse liberale Wende versprochen. Vielen geht es nicht schnell genug. Sie werden aktiv, um die Entwicklungen zu beschleunigen.
An einem Sommersonntag haben sich hinter der Kathedrale St. Peter und Paul in Legnica etwa fünfzig Personen versammelt. Für eine Stadt mit knapp 100 000 Einwohnern sind das nicht gerade viele. Ihre Aufmerksamkeit gilt nicht der noch leeren Rednerbühne und auch nicht dem kostenlos verteilten Mineralwasser, sondern vor allem einem grauen Wuschelkopf in schwarzem T-Shirt und mit ausgelatschten Turnschuhen. Der Mann sitzt im Schatten eines weissen Lieferwagens mit der Aufschrift «Kraft der Jungen – Brücke der Generationen» und verteilt Broschüren. Vor dem Mittfünfziger hat sich eine Schlange gebildet, Passanten wollen Selfies und Autogramme. Der Angehimmelte ist kein polnischer Altrocker, sondern Polens berühmtester Richter. Er heisst Igor Tuleya.
Kurz zuvor hat Tuleya im Schatten des «Cactus Cafe» erzählt, warum er sich mit einer Gruppe von Aktivisten zu einer «Tour de Konstytucja», eine Verfassungstour, aufgemacht hat. Er ist, wie viele Bürger, besorgt. Die liberale Wende, die die neue Mitte-links-Regierung von Donald Tusk versprochen habe, gehe so langsam voran und die Widerstände seien viel grösser als erwartet, sagt er. «Im Wahlkampf versprachen alle demokratischen Oppositionsparteien, den Rechtsstaat wiederherzustellen; nun sind sie schon über ein halbes Jahr an der Macht und erwecken den Eindruck, als hätten sie kein Konzept.»
Ein zeitweise entmachteter Richter
Tuleya liegt vor allem die Justizreform der konservativen Vorgängerregierung auf dem Magen. Diese hatte versucht, möglichst viele der bisherigen Richter durch der Partei zugewandte Magistraten zu ersetzen. Zudem hatte sie in den Gerichten neue Kammern geschaffen, die sie mit loyalen Richtern besetzte. Am umstrittensten war die Disziplinarkammer im Obersten Gerichtshof, die gegen regierungskritische Richter eingesetzt wurde. Dies alles brachte Polen mehrere EU-Rechtsstaatsverfahren und Verurteilungen durch den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg ein.
Tuleya bekam die Umwälzungen selbst zu spüren: Als Bezirksrichter von Warschau war er mit einem Disziplinarverfahren und einem fast dreijährigen Berufsverbot belegt worden. Sein Widerstand gegen die Politik der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) hat ihn im ganzen Land bekannt gemacht.
Heute ist Tuleya zwar zurück im Amt – aber zufrieden noch lange nicht. Er vermutet, dass der neuen Regierung der Wille fehlt, die PiS-Gesetze rückgängig zu machen. Polens grösste Richtervereinigung Iustitia habe die nötigen Gesetzesprojekte bereits ausgearbeitet, die Regierung könnte darauf zurückgreifen. Doch anders als beim Staatsfernsehen, wo sie radikal vorging und die Sender neu aufstellte, werde bei der Justiz immer noch über den richtigen Weg diskutiert. Derweil greife das Chaos um sich: Bereits würden Urteile aus der PiS-Regierungszeit angezweifelt; dem bereits heute völlig unterbesetzten Justizsystem drohe eine Flut von Berufungsverfahren, erzählt Tuleya.
Wahlversprechen gescheitert
Er hat beobachtet, dass die acht Jahre PiS-Regierung nicht nur für Richter, sondern auch für Frauen und Minderheiten eine traumatische Erfahrung gewesen seien. Er ist froh, ist die Zeit vorbei. Aber ein unbedingter Unterstützer der neuen Regierung ist Tuleya nicht. Er sehe seine Aufgabe darin, jeder Staatsmacht auf die Finger zu schauen, sagt er. Und weil er glaubt, dass auf der Basis der Verfassung Polens Bürger jeglicher politischer Couleur miteinander versöhnen werden könnten, tourt er derzeit von Nordost- nach Westpolen und veranstaltet öffentliche Diskussionen zu Verfassungsfragen. An diesem Nachmittag in Legnica soll es um die im Grundrecht garantierte Freiheit gehen.
Vor allem Frauen haben diesbezüglich grosse Hoffnungen in die neue Regierung gesetzt, doch auch sie müssen sich gedulden. Zwar ist Anfang Jahr die staatliche Unterstützung für die künstliche Befruchtung beschlossen und das unter der PiS oft verweigerte Recht auf Pränataluntersuchungen festgeschrieben worden; und auch die «Pille danach» ist zumindest auf Rezept wieder in den Apotheken erhältlich.
Doch im Sommer ist im Parlament ein von der Linken eingereichtes Gesetz zur Liberalisierung des restriktiven Abtreibungsrechts gescheitert. Es hätte zum Ziel gehabt, die Strafen für Beihilfe zu einer Abtreibung – konkret für den behandelnden Arzt – abzuschaffen. Am Ende fehlten drei Stimmen, aber eines der bekanntesten Wahlversprechen von Tusks Koalition scheiterte. Als Schuldige wurden die konservative Bauernpartei PSL – Mitglied der Regierungskoalition –und ein der Abstimmung demonstrativ ferngebliebener prominenter Mitkämpfer Tusks ausgemacht.
Die Aufbruchstimmung, die nach dem überraschenden Wahlsieg der liberalen Opposition im Oktober 2023 aufkam, ist einem Gefühl von Stillstand und Ernüchterung gewichen. Zumindest sagen das Politiker und Aktivisten in Warschau. Allerdings wird das Bild differenzierter, wenn man sich von der Hauptstadt entfernt.
«Die Angst ist kleiner geworden»
Am Rande eines Pop-Festivals in Gdynia an der Ostsee hat die NGO «Federa – Stiftung für Frauen und Familienplanung» ein grosses Zelt aufgebaut. Sie lockt die zum Teil sehr jungen Festivalbesucher mit einer Lotterie zum Thema Sexualität zum Gespräch über Verhütung und Patientinnenrechte, auch bei Abtreibungswunsch. Julia Karwan-Jastrzebska nimmt dabei einen spürbaren Wandel wahr. «Die Angst ist kleiner geworden», sagt sie. Noch vor einem Jahr hätten sich viele Frauen vor Arztbesuchen grosse Sorgen wegen staatlicher Kontrolle gemacht; es hiess, Schwangere würden registriert, um allfällige Abbrüche zu entdecken. Heute sei das Motto: «Die Liberalen regieren, so schlimm kann es nicht mehr sein.»
Dass die Regierung weit davon entfernt ist, ihr Versprechen einer Fristenlösung zu halten, frustriert Karwan-Jastrzebska weniger, als sie die neue Offenheit freut. «Heute haben Frauen mehr Mut beim Arzt und im Spital, auf ihre – wenn auch begrenzten – Rechte zu bestehen», berichtet sie aus ihren Hunderten von Beratungsgesprächen.
Alexandra Muzinska ist weniger optimistisch. Sie verteilt Flugblätter des Fonds für Veränderung, einer Stiftung, die sich um sexuelle Minderheiten in kleinen Städten und auf dem Lande kümmert. «Ich bin unglaublich wütend», sagt sie. «Bereits zum vierten Mal haben die Liberalen im Wahlkampf eheähnliche, zivilrechtliche Partnerschaften für gleichgeschlechtliche Paare versprochen. Und wieder geschieht nichts», sagt die LGBT-Aktivistin. Die Stimmung habe sich verändert, das sei aber auch alles, erzählt sie frustriert.
Weder Polens Frauen noch Homosexuelle noch Flüchtlinge aus Asien und Afrika hätten mehr Rechte bekommen. In ihren Augen taugt nur die Linke in der Regierungskoalition etwas, aber die stehe mit ihren Forderungen alleine da. «Tusks Partei unternimmt nichts und schiebt die Bauernpartei als Sündenbock vor», fasst Muzinska die Lage zusammen.
Tomasz und Kamil, beide Mitte dreissig und seit zwölf Jahren ein Paar, finden, dass es um die Toleranz in Polen so schlecht nicht stehe. Der Ältere stammt aus Breslau (Wroclaw) und arbeitet für eine Kondomfabrik, die am Festival Muster ausgelegt hat. Der Jüngere ist in einer Kleinstadt bei Poznan aufgewachsen und arbeitet für eine internationale Firma. «Der Regierungswechsel Ende 2023 hat gar nichts verändert, wohl aber mein Umzug nach Warschau», erzählt Kamil. Seit er in der Hauptstadt wohne, fühle er sich völlig sicher und sehr wohl. Einzig die Fussballfans des lokalen Klubs Legia Warschau meide er, meint er lachend.
Polen sei in den letzten Jahren viel offener geworden. Das liege jedoch nicht an den Politikern, sondern an den zum Teil jahrelangen Auslandaufenthalten der Bürger und Bürgerinnen, sagt Kamil. Erwartungen an die Politik haben die beiden indes schon: Sie erhoffen sich zivilrechtliche Lösungen für Homosexuelle, etwa beim Erbrecht. «Wir haben zusammen eine Wohnung gekauft, eine Hypothek aufgenommen, doch wenn der eine stirbt, ist der andere rechtlich gesehen ein Fremder, ein Niemand», klagen sie.
Gnadenfrist für Tusk?
Als sich im 450 Kilometer entfernten Legnica die 24. Station der Verfassungstour mit Richter Igor Tuleya dem Ende nähert, franst die Diskussion aus. Doch die Teilnehmer, die bis zum Ende geblieben sind, äussern sich zufrieden.
«Immerhin diskutieren wir wieder ohne gegenseitige Beschimpfung und Geschrei», findet Katarzyna Odrowska, eine Stadtratsabgeordnete mit blonden Rastalocken. Sie sei vor allem wegen Tuleya gekommen, sagt sie und fügt an, was sich in Warschau bereits abgestanden und kitschig anhört: «Am Tag nach der Parlamentswahl konnte ich endlich wieder frei atmen!»
Die Kultur- und Umweltaktivistin lädt zu einem Glas Wein ein. Bei einem alten deutschen Wasserturm unweit des Bahnhofs hat sich die lokale Alternativszene zu einer Jam-Session versammelt. Viele berichten, die acht Jahre PiS-Regierung kämen ihnen nun wie ein Albtraum vor, andere sagen, sie hätten sich in der Zeit in eine innere Emigration begeben.
Renata hat sich mit ihrem Mann und der kleinen Tochter unter die Zuhörer des spontanen Konzerts gemischt. Sie war kurz vor der Wiederwahl der PiS 2019 aus England in ihre niederschlesische Heimatstadt zurückgekehrt, um eine Familie zu gründen. Dank der Hilfe der Eltern bei der Kinderbetreuung fühlten sie und ihr Mann sich in Polen sozial besser abgesichert als in der Fremde. Die letzten fünf Jahre habe sie an Protestveranstaltungen und in einer Punkband mit dem sinnigen Namen Wara! (Deutsch: Hau ab!) gegen die PiS angeschrien, erzählt sie. «Ich hoffe, dass ich nie mehr auf eine Demonstration gehen muss.» Was die liberale Wende im Land angeht, bleibt sie optimistisch: Man müsse geduldig mit der neuen Regierung sein, der PiS-freundliche Staatspräsident Andrzej Duda sei noch bis 2025 im Amt, sagt sie. Bis dahin seien Tusk die Hände gebunden.