Auf Floridas Ferieninsel Anna Maria entwickelte sich ein gefährlicher Schlangenpfad zu einer ökologischen Vorzeigemeile.
Der Ausflugsdampfer aus dem nahen St. Petersburg hat gerade am Pier von Anna Maria Island angelegt. Eine Dame schlendert die Gangway herunter: Sie trägt ein langes beigefarbenes Kleid mit Rüschen und einen passenden Edwardian-Hut mit Schleife. Ein ebenso eleganter Herr flaniert mit dunkler Hose, hellem Sakko und Bowler Hat an ihrer Seite den Pier entlang Richtung Pine Avenue, wo am Ende das Badehaus steht und der weisse Sandstrand am Golf von Mexiko wartet: für einen Spaziergang oder – für die Abenteuerlichsten unter ihnen – sogar für ein Bad. Die Gäste können zwar nicht schwimmen, aber der Strand ist nur leicht abfallend und daher ideal zum feuchtfröhlichen Planschen. Die Dame schützt sich mit einem Regenschirmchen gegen die pralle Sonne. Der Herr schultert ein Gewehr, das er am Ende des Piers ab- und in beide Hände nimmt. Die kommenden 850 Meter sind nicht ungefährlich . . .
So oder so ähnlich hat es sich wöchentlich zugetragen vor gut 110 Jahren, in Florida, USA, denn seit 1911 legten Touristendampfer am Anna Maria Pier an. Bis zu 950 Passagiere waren an Bord. Es waren die Anfänge des Tourismus auf der schönen Golf-Insel an der Westküste von Florida. Damals war die Pine Avenue noch voller dicht bewachsener Büsche rechts und links des staubigen Wegs, und diese waren bevölkert mit Schlangen. Ein Schuss aus dem Gewehr auf eines der Reptilien und das Kreischen von Frauenstimmen gehörten auf dem Weg zum Badehaus dazu.
Heute steht an der Stelle des Badehauses die «Sandbar», ein nach allen Seiten hin offen gestaltetes Strandrestaurant, in dem man Austern schlürfen, Peel and Eat Shrimp bestellen oder für die Region typische Stone Crabs knacken kann.
Was auf die Teller kam, als «Sandbar»-Besitzer und Umweltschützer Ed Chiles den Uno-Botschafter Sarburland Khan und David Randle, Gastgeber des Uno-Meetings zu nachhaltigem Tourismus in Florida 2013, zum Lunch einlud, ist nicht bekannt. Aber Ed Chiles, dessen Vater lange Zeit demokratischer Gouverneur von Florida war, konnte den Uno-Botschafter wohl zu einem Verdauungsspaziergang auf die Pine, also die Kiefern-Avenue, überreden, die heutzutage allerdings hauptsächlich palmenbestanden ist: Es ging ins Green Village rund um den General Store, den einzigen Minimarkt entlang der Strasse, im grünen Block am nördlichen Ende der Pine Avenue gelegen.
Viel für die Umwelt auf engstem Raum
«Khan war erstaunt, wie viel Nachhaltigkeit in einem 15-Minuten-Spaziergang sichtbar werden kann», erinnert sich Ed. «Der Uno-Botschafter sagte, er habe noch nie so viele angewandte Umweltfaktoren auf so engem Raum gesehen.»
Kurz und bündig zusammengefasst: die eigene, mit Solarenergie betriebene Stromversorgung und die Nutzung von sparsamen Endgeräten. Das Sammeln und Aufbereiten von Regenwasser. Ökologisches Müllmanagement. Die Isolierung und die Standfestigkeit der Gebäude gegen Hurrikane. Zudem weiche, soziale Umweltfaktoren: Kleine Boutiquen setzen ein Zeichen gegen grosse Labels, und das Anlegen von kommunalen Gemüsegärten hilft allen Bewohnern.
Das elf Gebäude umfassende Green Village wurde daraufhin in einer Uno-Studie über Sustainable Tourism als Beispiel aufgenommen, wie es kleine Destinationen schaffen können, nachhaltig zu agieren und sogar Energie selbst herzustellen. Für diese Nullenergieleistung gab es die LEED-Platinum-Zertifizierung, eine Auszeichnung, die es weltweit nur hundertmal gibt. LEED steht für Leadership in Energy and Environmental Design und ist die international meistverbreitete Bestätigung für umweltverträgliche Strategien auf den Immobilienmärkten. Und bald erhielt die Strasse auch den Beinamen «die grünste Hauptstrasse der USA».
Überall in den USA wäre die Pine Avenue etwas ganz Besonderes. Auf Anna Maria Island fällt sie jedoch gar nicht so sehr auf, weil auf dieser Insel alles wie auf einem heiteren Gemälde wirkt. Offensichtlich sind die grünen Elemente auch nur bei genauer Betrachtung. Sonst reiht sich das Green Village in Häuserzeilen ein, die fast ein wenig zu hübsch erscheinen. Die zweistöckigen Häuschen mit ihren Pastellfarben reflektieren das alte Florida, wo es noch floridianisch ist, also ruhig, relaxed, ohne Stress und Staus, jenseits vom hippen Miami Beach oder Mickey-Mouse-Orlando.
Alles überstrahlende Heiterkeit
Das Rosedale Cottage, Thelma by the Sea, das Sears Cottage oder das Pilsbury Home stammen noch aus der Zeit, als die Dame mit Regenschirmchen und der Herr mit Gewehr vom Anleger zum Badehaus spazierte. Doch nicht nur diese vier Gebäude, sondern auch der Rest sieht aus, als sei er erst in den letzten Tagen fertiggestellt worden oder als wäre er Teil einer Schöne-heile-Welt-Kulisse – wie aus der «Truman Show», jener US-Komödie aus dem Jahr 1998, in welcher der Versicherungsangestellte Truman Burbank – ohne es zu wissen! – Hauptdarsteller einer TV-Serie ist, in der seit seiner Geburt sein gesamtes Leben per Live-Übertragung im Fernsehen präsentiert wird.
Natürlich war und ist die Pine Avenue keine Kulisse. Aber die grüne Realität der Strasse scheint nicht immer und nicht überall präsent zu sein. Wir treffen Peggy Nash, 92 Jahre alt. Sie erinnert sich noch gut an die 1930er Jahre, als sie ein Teenager und die Avenue noch staubig war, wenngleich die Gäste vom Dampfer keine Gewehre mehr trugen. «Vom Green Village habe ich nur mal gehört. Irgendwas mit Sonnenenergie. Ist schon gut, was die jungen Leute da machen.» Nun ja, die jungen Leute: Ed Chiles, Mr. Green Pine Avenue, ist 68 Jahre alt. Aber er könnte eben auch ihr Sohn sein . . .
Peggys Welt ist nicht das Irdisch-Reale. Ihre Welt ist die Kirche. Dabei steht diese nur 50 Meter schräg vis-à-vis vom Grünen Viertel entfernt. «Es tut sich immer so viel, da kommt man ja gar nicht mehr mit», sagt sie. Verständlich: Als das Grüne Viertel aus der Taufe gehoben wurde, war Peggy immerhin schon 81 Jahre alt. «In meinem Alter ist die moderne digitale Welt eine fremde Welt», sagt Peggy.
Sie liebt ihre Pine Avenue, aber noch mehr den «Thrift Shop», eine Art Flohmarkt, auf dem im Namen der Roser Church verkauft und der Erlös für wohltätige Zwecke gespendet wird. «Wir nehmen 50 000 Dollar pro Jahr ein», schwärmt Peggy stolz. Das teuerste Stück, das sie in all den Jahren im Thrift Shop verkauft hat, war ein Fahrrad für hundert Dollar. Die meisten Dinge kosten keine fünf Dollar, und Kleinigkeiten gibt es für fünfzig Cent. Die Kirche ist umtriebig, auch dank Leuten wie Peggy. «Golfen für Gott» und andere Aktionen helfen ebenfalls, Wohltätigkeitsprojekte zu fördern. Im Green Village ist die Kirche allerdings nicht involviert.
Schönheitsflecken aus Schotter
Die Roser Church mit Hausnummer 512 besitzt das grösste Areal entlang der Pine Avenue und den grössten Parkplatz, ein unbebauter Fleck, grösstenteils mit Schotterboden, der so gar nicht ins Gesamtbild der Strasse passt. Wenn man so will: Er ist der einzige unschöne Platz auf der gesamten Avenue.
Nicht an Konfessionen gebunden, ist die Kirche für alle und für jedermann offen. Der Süsswarenfabrikant John Roser, der Vater von Charles Roser, einem der ersten Landentwicklungspartner auf Anna Maria Island, liess sie 1913 erbauen. Zwei Gottesdienste werden am Sonntag benötigt, um das grosse Interesse zufriedenstellen zu können: zwei Messen mit je 400 Gläubigen plus Online-Übertragung für alle, die nicht kommen können oder keinen Platz mehr finden, immer pünktlich um 8.30 und 10.00 Uhr.
Gleich am Anfang der Strasse, vom Pier aus gesehen, trifft man also auf zwei Welten, obgleich doch alles so harmonisch und homogen aussieht.
Wir fragen nach im Historischen Museum mit Hausnummer 402. Die Museumsdirektorin Barbara Murphy und ihre Kollegin Sue George meinen nüchtern: «Auf unserer Pine Avenue kostet kein Haus unter einer Million Dollar. Auch zehn Millionen wurden schon bezahlt! Und wir dürfen für einen Dollar Jahresmiete unser kleines Museum betreiben. Sonst würde ja alles in Vergessenheit geraten!», sagt Barbara und Sue nickt zustimmend. Gemeint sind die ersten Touristen, die Schlangen, das rekonstruierte Cottage Belle Haven, in dem man den Lifestyle der 1920er Jahre sieht, mit Schaukelstuhl auf der Veranda und elegantem Interieur. Es gibt Einblicke in die Redaktionsstuben des «Anna Maria Islander» und die Schildkrötenstation, die vor dem Museum bei Nummer 402 ihre Adresse hatten.
Halten die Geschichte der Insel lebendig: Sue George und die Museumsdirektorin Barbara Murphy (rechts).
Acht dicke Aktenordner sind voll mit den Namen von Bewohnern und deren Geschichten, wie etwa die von Pat Copeland, einer Redakteurin der Inselzeitung, die das Museum gründete. George William Bean war der Gründer der Anna Maria Beach Company und damit ein Pionier des Tourismus. Harry T. Watson war der erste Vorsteher des Postamts, das es noch heute auf der Pine Avenue gibt. Der Nachfolger, bekannt unter dem Namen Uncle Sam, hatte den einzigen Lastwagen. Das war 1922. Und John R. Jones brachte die Bäume auf die Pine Avenue, aus Süd- und Mittelamerika, aber auch aus Indien. «Was ist schon eine Avenue ohne Bäume?», fragt Barbara. «Auch die bekannteste Avenue der USA hatte einst Bäume», sagt die Museumschefin. «Die 5th Avenue in New York ist nur leider inzwischen zugebaut» auf ihren gesamten elf Kilometern.
Anders als auf der 5th Avenue und in den meisten amerikanischen Grossstädten sieht man auf der Pine Avenue weder Obdachlose noch Betrunkene und schon gar keine Drogendealer und -konsumenten. «Das war aber nicht immer so!», wirft Sue ein und bringt uns zum Old City Jail, gleich neben dem Museum. Das Gefängnis wurde 1927 gebaut und bis in die 1940er Jahre genutzt, um Rowdys, Randalierer und Betrunkene, die es zuweilen in der Dance Hall gab, zur Vernunft zu bringen oder auszunüchtern. Da das Gebäude, ohne Stuhl oder Pritsche im Innenraum, nur aus blankem Beton ohne Dach bestand, konnten die Moskitos über die wehrlosen Insassen herfallen: «Das war die eigentliche Strafe», sagt Sue.
Verbrennungsmotoren sind selten
Auf den rund 850 Metern, die schnurgerade von Meer zu Meer führen, finden sich ein gutes Dutzend Wohnhäuser, deutlich mehr Anwesen mit Ferienwohnungen sowie Immobilien-, Bekleidungs- und Souvenirgeschäfte, alle mit maximal zwei Etagen. Auf der Pine Avenue wird die jährliche Veteranen-Parade abgehalten, und die Touristen fahren mit Fahrrädern, E-Bikes und Elektro-Carts. Autos mit Verbrennungsmotoren sind selten. Der Müllwagenfahrer Danny sagt trocken: «Das ist ein 24-Tonner! Da geht nichts mit Stromer . . .» Sein LKW ist grün, tipptopp sauber, und er zieht keine unangenehme Geruchsfahne hinter sich her.
Wie in grossen Teilen Floridas, so ist auch der übergeordnete Wahlkreis Manatee County fest in republikanischer Hand. Die demokratischen Zeiten mit Ed Chiles’ Vater Lawton als Gouverneur sind vorbei. Trump-Plakate oder -Konterfeis, Fahnen oder politische Parolen, welcher Art auch immer, scheinen aber tabu. «Es würde wohl das Gesamtbild unserer schönen Strasse stören», sagt Rebecca Preston, die von New York City auf die Pine Avenue gezogen ist und dort ihren schrillen Laden «Shiny Fish» aufgemacht hat, in dem es ziemlich schräge Souvenirs und Beauty-Accessoires, aber auch einfach Kaffee und Kuchen gibt.
«Die Pine Avenue war um 2010 gerade im Aufbruch, als ich kam: alles grün, alles individuell, kein ‹McDonald’s›, kein ‹KFC›», erinnert sich Rebecca. «Das war perfekt für mein Geschäft und mich. New York und hier, das ist ja wie Hölle und Himmel. Ausserdem war es mir in New York auch zu kalt im Winter . . .» Die 54-Jährige wurde schliesslich in Puerto Rico geboren. «Hier fühle ich mich jetzt wie daheim, aber auch ein wenig wie in den Ferien.»
So geht es auch Kelly Parkinson. Sie sagt, «die Pine Avenue ist der beste Platz in den USA. Von hier will ich nicht mehr weg.» Die Frau muss es wissen: Sie ist Sheriff auf der Insel, und ihr Büro hat die Adresse Pine Avenue 419. Ihr letzter Fall liegt drei Wochen zurück. Da wurde auf der Pine Avenue ein Fahrrad gestohlen, der beschwipste Dieb aber sogleich geschnappt. Er trug – wie zu seiner Entschuldigung – ein T-Shirt mit der Aufschrift «Also Jesus drank wine». Sheriff Parkinson lacht darüber. Peggy Nash hätte es wohl weniger lustig gefunden.
Info: https://annamariaisland.com, www.bradentongulfislands.com