Dramatische Szenen auf der Strasse und ein Machtkampf ums Präsidentenamt: In Georgien geben die Regierungsgegner nicht auf. Experten sagen, dass Verhältnisse drohen wie in Weissrussland.
In Georgien stehen sich die Regierung und Zehntausende von aufgebrachten Bürgern buchstäblich im Strassenkampf gegenüber. Seit Ministerpräsident Irakli Kobachidse am Donnerstagabend bekanntgegeben hatte, dass das Land bis Ende 2028 den Annäherungsprozess an die Europäische Union sistiert, spielen sich jede Nacht dramatische Szenen in der Innenstadt von Tbilissi ab.
Übers Wochenende nahm die Protestbewegung gegen die Entscheidung der Regierung noch zu. Die Kundgebung am Samstagabend war die bis jetzt grösste, sie dauerte bis in die frühen Morgenstunden. Unentwegte verlagerten sich ins Universitätsviertel, wärmten sich dort von den nächtlichen Strapazen auf und blockierten eine wichtige Strassenkreuzung.
Gewalt auf der Strasse
Zwar glichen die Szenen denjenigen der vorangegangenen Nächte, wie Bilder und Videos belegten. Wieder setzten die Sicherheitskräfte Wasserwerfer, Tränengas und Rauchpetarden gegen die Protestierenden ein. Wieder antworteten diese mit viel Feuerwerk, das sogar einen Brand im Parlamentsgebäude auslöste, und bauten zum Teil brennende Barrikaden auf.
Aber im Unterschied zur Nacht auf Samstag wandte die Polizei weniger physische Gewalt an. Sie hatte über hundert Demonstranten zum Teil brutal abgeführt. Die Untersuchungsgefängnisse sind voll. Diese Szenen erinnerten an das gewaltsame Durchgreifen des Regimes bei den Protesten in Weissrussland im Herbst 2020. Die rohe Gewalt, die auch viele Journalisten traf, hatte am Samstagabend zusätzlich zur Mobilisierung der Regierungsgegner beigetragen.
Opposition ohne Plan
Die Demonstranten scheinen nach Berichten aus Tbilissi eher planlos und ohne Führung durch die wichtigsten Oppositionsparteien zu handeln. Sie fordern Neuwahlen unter internationaler Aufsicht und eine daraus hervorgehende legitime Regierung, die das Land zurück auf den Kurs der europäischen Integration bringt. Die Regierung lehnt das ab.
Im Kern haben sich damit die Forderungen seit Ende Oktober nicht geändert, als die Parlamentswahlen mit einem zweifelhaften, von mittlerweile gut belegten Manipulationsvorwürfen überschatteten Erfolg der Regierungspartei Georgischer Traum von Bidsina Iwanischwili geendet hatten. Aber mit der Entscheidung zum Stopp des Dialogs mit der EU zerstob die letzte Hoffnung darauf, dass der Georgische Traum das Land trotz allem Richtung Europa führen werde.
Immerhin steht das Ziel der EU-Integration in der Verfassung festgeschrieben. Wirtschaftlich will man es sich zwar mit Russland nicht verderben. Aber politisch ist für die grosse Mehrheit der Georgier eine Annäherung an Moskau inakzeptabel. Die EU-Annäherung ist selbst bei den Wählern des Georgischen Traums unbestritten. In Umfragen sprechen sich regelmässig rund 80 Prozent dafür aus.
Präsidentin will Amt nicht abgeben
Der Streit, der auf der Strasse ausgetragen wird, spitzte sich übers Wochenende auch auf höchster politischer Ebene zu. Präsidentin Salome Surabischwili, die sich als eine Anführerin der Opposition geriert, kündigte an, solange im Amt zu bleiben, bis ein legitimes Parlament ihren Nachfolger gewählt habe. Ihr Mandat läuft demnächst aus.
Für den 14. Dezember hat der Georgische Traum die Wahl eines neuen Präsidenten geplant, der erstmals nicht mehr vom Volk, sondern von einem Wahlgremium auf Basis des georgischen Parlaments gewählt werden soll. Dieses konstituierte sich am Montag, aber wegen der Beschwerden gegen das Wahlresultat erachten zahlreiche Rechtsgelehrte, aber auch Surabischwili und die Opposition den Vorgang als illegitim. Die gewählten Vertreter der Oppositionsplattformen boykottieren die Parlamentsarbeit.
Ministerpräsident Kobachidse gab sich am Samstag vor den Medien unbeirrt und verteidigte die Entscheidung vom Donnerstag. Schuld an den schweren Ausschreitungen trügen die europäischen Politiker und Beamten, deren örtliche «Agenten» sowie die «fünfte Kolonne», die durch die Oppositionsparteien gebildet werde. Ein Szenario wie den Euromaidan in der Ukraine 2013/14, der ebenfalls eine Reaktion auf die Absage an die europäische Integration war, schloss er aus. Georgien sei ein souveräner Staat, der von klugen und erfahrenen Personen geführt werde.
Die ideologische Vorarbeit für diese Sichtweise legte der Georgische Traum in den vergangenen zwei Jahren. Immer öfter warfen Iwanischwili und seine Minister dem Westen ungebührliche Einmischung, ja Erpressung vor. Georgien solle von einer «globalen Kriegspartei» zum Nutzen des Westens in einen Krieg gezogen werden, behaupteten sie. Verschwörungstheorien wie diese und die Überzeugung, ein «deep state» aus westlich finanzierten zivilgesellschaftlichen Organisationen und Parteien wolle Georgiens Souveränität einschränken, sind im Georgischen Traum weit verbreitet. Hart angegangen werden auch Diplomaten westlicher Staaten.
Unmut im Beamtenapparat und in der Wirtschaft
Die Entwicklungen der vergangenen Tage lassen aber auch den Schluss zu, dass Iwanischwili und seine Parteigenossen die Stimmung falsch eingeschätzt haben könnten. Aus dem Staatsapparat häufen sich die Stimmen, die gegen die Entscheidung der Regierung protestieren. Mehrere hundert Diplomaten, Mitarbeiter gewichtiger Ministerien, von Gerichten und Behörden haben offen ihren Unmut kundgetan. Mehrere georgische Botschafter traten aus Protest zurück. Der Georgische Traum regiert seit zwölf Jahren. Er kann die Reaktion dieser Beamten daher nicht einfach mit Illoyalität erklären.
Am Wochenende äusserten zudem zwei der grössten Banken und zwei der grössten Telekommunikationsanbieter des Landes ihre Besorgnis über den Kurs der Regierung. Sie sehen sich der Annäherung an Europa verpflichtet. Die Stimmen aus der Wirtschaft müssten dem Georgischen Traum zu denken geben. Sie bloss als ausländische Beeinflussung abzutun, wirkt in diesem Fall noch unglaubwürdiger als bei politischen Strukturen. Wirtschaftlich steht viel auf dem Spiel.
Die Vereinigten Staaten setzten am Samstag ihre «strategische Partnerschaft» mit Georgien aus. Die EU äusserte bereits ihre grosse Besorgnis über die Entwicklungen und wird Mitte Dezember über die Zukunft der Beziehungen zu Georgien beraten.
Drohen dem Land Verhältnisse wie in Weissrussland, das vom Westen isoliert wurde und dessen Regime im Innern mit schwersten Repressionen die Bevölkerung zum Schweigen gebracht hat? Vor Monatsfrist bestritten Beobachter im Gespräch in Tbilissi, dass ein solches Szenario möglich sei. Georgien sich selbst zu überlassen, würde nicht nur viele Menschen von Europa enttäuschen. Es würde auch dem Georgischen Traum die Rechtfertigung dafür geben, sich die Unterstützung bei Russland zu holen.







