Kenya erlebt eine riesige Protestwelle. Eine der prominentesten Intellektuellen des Landes erklärt, welche Rolle die sozialen Netzwerke dabei spielen und wie die Proteste andernorts in Afrika wahrgenommen werden.
Kenya, eine der grössten Volkswirtschaften in Afrika, wird seit Wochen von Protesten erschüttert. Diese hatten in den sozialen Plattformen begonnen, als Reaktion auf die Ankündigung neuer, den Alltag verteuernder Steuern. Im Juni verlagerte sich der Protest auf die Strassen. Er wurde zu einer Massenbewegung vor allem sehr junger Leute, man sprach von einer «Gen-Z-Revolution».
Die Proteste haben den Staatspräsidenten William Ruto gezwungen, das Steuerpaket zurückzuziehen und fast alle Minister zu entlassen. Der Blutzoll ist dennoch hoch: Mehr als 50 Personen wurden getötet, viele von ihnen erschossen von der Polizei. «Eine Nation verschlingt ihre Kinder», schrieb die wichtigste Zeitung des Landes, die «Nation», am Mittwoch.
Nanjala Nyabola ist eine der prominentesten Schriftstellerinnen und politischen Analystinnen Kenyas. Sie hat unter anderem ein Buch darüber geschrieben, wie das Internet die Politik in Kenya verändert hat.
Die Protestbewegung in Kenya hat Präsident Ruto dazu gezwungen, geplante Steuern zu annullieren und seine Regierung zu entlassen. Frau Nyabola, was macht diese Bewegung so schlagkräftig?
Das Steuerpaket war nur der Trigger für Dinge, die sich aufgestaut hatten. Kenya spürt zum Beispiel noch immer die Auswirkungen der Covid-Pandemie: Wir hatten strenge Lockdowns, viele Leute verloren ihre Arbeit, Junge mussten ihre Ausbildung unterbrechen. Dann kam die globale Wirtschaftskrise aufgrund des Krieges zwischen Russland und der Ukraine. 2023 schliesslich stieg der Wert des Dollars stark an, was sich in Kenya auf die Preise auswirkte. Die Regierung wollte die Steuern zu einem Zeitpunkt erhöhen, als viele Leute unter diesen Krisen litten. Die Protestbewegung ist stark, weil so vieles zusammenkommt.
Die Protestbewegung wird oft als «Gen-Z-Revolution» beschrieben. Stimmt das?
Das Gen-Z-Motiv ist übertrieben. 60 Prozent der Kenyanerinnen und Kenyaner sind unter 35 Jahre alt. Eine so grosse Protestbewegung wird immer eine Bewegung von mehrheitlich unter 35-Jährigen sein – das ist die Demografie. Dass man nun von einer Gen-Z-Revolution spricht, kommt auch daher, dass Proteste früher immer von politischen Parteien oder zivilgesellschaftlichen Organisationen initiiert wurden. An deren Spitze standen ältere Personen. Die jetzige Bewegung kommt ohne diese Anführer aus. Sie ist ein Aufschrei der Frustrierten über den Zustand des Landes. Das Gen-Z-Label wird aber auch benutzt, um die Bewegung zu diskreditieren: Es heisst, das sei nur ein Haufen wütender Teenager. Dabei haben die Demonstranten sehr erwachsene Anliegen: verschwenderische Ausgaben der Regierung und Korruption zum Beispiel.
Wenn nicht als Gen-Z-Protest, wie denn charakterisieren Sie die Bewegung?
Es ist ein Protest der Mehrheit. Was aussergewöhnlich ist und viele überrascht hat, ist das Mass an politischem Bewusstsein der Demonstranten: Die jungen Kenyaner kennen sich zum Beispiel mit der Verfassung aus. Das ist auch das Resultat davon, dass die Protestierenden die sozialen Netzwerke kreativ nutzen, um einander aufzuklären. Als die Steuervorlage angekündigt wurde, übersetzten Social-Media-Nutzer deren Inhalt in mehr als 30 kenyanische Lokalsprachen. Da zeigt sich ein Generationenwandel. Die Generation der Demonstranten bezieht ihre Informationen nicht mehr primär aus den traditionellen Medien.
Das heisst?
Sie lesen keine Zeitungen, sie schauen weniger TV und hören weniger Radio als frühere Generationen. Bei Protesten in Kenya in den 1990er Jahren waren Zeitungen noch das wichtigste Medium für Kritik an der Regierung. Die Gen Z bezieht ihre Informationen vor allem aus den sozialen Netzwerken. Das ermöglicht es, die staatliche Kontrolle über die offiziellen Medien zu umgehen. Es schafft ausserdem Druck auf die traditionellen Medien. Um nicht abgehängt zu erscheinen, greifen diese auf, was in den sozialen Plattformen diskutiert wird. So bringen sie die Diskussionen auch in die Haushalte jener Kenyaner, die die sozialen Plattformen nicht nutzen.
Ähnliches wurde schon im Arabischen Frühling vor mehr als zehn Jahren diskutiert. Wie hat sich die Rolle der sozialen Netzwerke seither verändert?
Nicht gross. Sie geben jungen Leuten die Chance, politische Debatten zu führen, die in traditionellen Medien oder direkt mit der Regierung nicht möglich waren. Diese Dynamik hat sich nicht verändert. Traditionelle Medien sind aber in vielen Regionen zahmer geworden gegenüber Regierungen, weil sie finanzielle Schwierigkeiten haben. Das schuf ein Vakuum, das nun die sozialen Netzwerke füllen. Indem sich Nutzer Informationen von anderen Nutzern beschaffen, indem sie sich als Faktenprüfer betätigen, indem Politiker angeprangert werden.
Die Proteste in Kenya werden in Afrika genau beobachtet. Könnten sie auf andere afrikanische Staaten überschwappen?
Das glauben viele. Aber sie übersehen zum Beispiel, dass es im frankofonen Afrika schon in den späten 2000er Jahren vergleichbare Proteste gab, in Senegal und Burkina Faso zum Beispiel. Diese Proteste schwappten nicht über. Die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen sind in Kenya anders als in Uganda oder Rwanda. Auch ist der Verstärkereffekt der sozialen Netzwerke anderswo nicht so stark wie in Kenya.
Ist die Konstellation nicht in vielen afrikanischen Ländern dieselbe: Eine junge, technologieaffine Bevölkerung steht einer korrupten, verantwortungslosen politischen Klasse gegenüber?
Wenn das eine Rolle spielen würde, hätten sich die Proteste in Westafrika in den 2000er Jahren überall ausgebreitet. Das taten sie nicht. Afrika ist riesig, die nationalen Gegebenheiten sind je anders. Uganda steht seit den 1980er Jahren unter Militärherrschaft, Kenya dagegen hat seit Ende der 1990er Jahre fünf Mehrparteienwahlen durchgeführt. Deshalb hat die kenyanische Bevölkerung höhere Erwartungen. Es gab aber auf dem Kontinent in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten eine Art panafrikanischen Austausch zwischen Jugendbewegungen. Wir werden deshalb vermutlich sehen, dass Bewegungen in anderen Ländern ähnliche Forderungen wie in Kenya stellen werden.
Wohin steuert die kenyanische Protestbewegung?
Die Leute sind noch immer sehr wütend. Was als Nächstes kommt, hängt davon ab, wie die Regierung auf die Forderungen der Demonstranten reagiert. Es geht nicht mehr um das Steuerpaket, sondern zum Beispiel um Polizeigewalt, um extralegale Tötungen. Dazu hat sich die Wirtschaftskrise verschärft. Der für Kenya wichtige Tourismus wurde von den Protesten getroffen. Präsident Ruto hat nun statt eines Problems viele. Vermutlich wird es auch mehr lokale Proteste geben. Ärzte haben schon gestreikt. Lehrer überlegen sich zu streiken.
Werden die Proteste diesmal etwas ändern an Korruption und schlechter Regierungsführung?
Ein Wandel hat bereits stattgefunden. Es ist ein nationales Bewusstsein entstanden, das es bisher nicht gegeben hat. Junge Leute wehren sich gegen die Instrumentalisierung ethnischer Differenzen, gegen die Klüngelei der politischen Elite. Das verändert die politische Debatte.