Februar 1916: Der Erste Weltkrieg ist zum Grabenkampf erstarrt. Der Chef des deutschen Generalstabs sucht die Entscheidung. Doch die Offensive entgleist und wird zur schlimmsten Abnützungsschlacht des Kriegs.
Warum Verdun? Weshalb ein Angriff auf Frankreichs stärkste Festung? Einen Zermürbungskampf kann sich das personell und wirtschaftlich unterlegene Deutsche Reich nicht leisten. Daher will Erich von Falkenhayn, der Chef des deutschen Generalstabs, die rasche Kriegsentscheidung noch bis zum Frühjahr 1916, bevor die Entente ihrerseits mit eigenen Grossoffensiven beginnen kann.
Wie der französische Generalissimus Joseph Joffre und wie Feldmarschall Douglas Haig, Befehlshaber der britischen Expeditionsstreitkräfte, sucht auch Falkenhayn nach dem heiligen Gral aller Weltkriegsgeneräle: nach dem operativen Durchbruch und der Rückkehr zum Bewegungskrieg. Und wie Joffre und Haig hat auch er aus den vielen gescheiterten Versuchen, einen Massendurchbruch zu erzielen, eine wichtige Folgerung gezogen: kein Durchbruch ohne vorgeschaltete Zermürbung feindlicher Reserven.
Taktisch will Falkenhayn daher einen Zwang zum Gegenangriff entwickeln. Das soll die gegnerischen Reserven rasch verbrauchen. Erst danach, meint er, kann im Nachstossen mit Divisionen der deutschen Heeresreserve ein Durchbruch gelingen. Der Generalstabschef strebt nach einer Art «Durchbruch über die Bande». Endziel ist die Rückkehr zum Bewegungskrieg, nicht das «Weissbluten» des Gegners.
Wie aber kann man den Gegner zu aussichtslosen Angriffen verleiten? Antwort: Die Eröffnungsoffensive muss ein Ziel bedrohen, das der Feind nicht aufgeben will. Und das ist, hofft Falkenhayn, die Festung Verdun. Die 5. Armee wird den Verdun-Angriff führen. Nominell steht sie unter dem Oberbefehl des Kronprinzen Wilhelm von Preussen. Tatsächlich aber führt ihr Stabschef die Truppen, General Constantin Schmidt von Knobelsdorf.
Den Gegner zum Angriff zwingen
Unter strenger Geheimhaltung wird in den Wäldern nordöstlich von Verdun eine bisher nie gekannte Masse von Artillerie zusammengezogen. Mit ihrer Hilfe sollen vergleichsweise geringe, dadurch aber besser lenkbare Infanteriekräfte nur auf dem Ostufer der Maas, den Côtes de Meuse, überfallartig einen Keilangriff führen.
Diese Attacke soll etwa eine Woche lang ununterbrochen bis zur Wegnahme jener Schlüssellinie abrollen, die über den Besitz der Festung entscheidet: Sie verbindet mehrere Höhenzüge auf den Côtes und reicht vom Zwischenwerk Thiaumont bis zum Fort Tavannes. Verdun liegt in einem Talkessel. Das Ostufer überragt die Stadt deutlich. Wer die Schlüssellinie erobert, beherrscht die Stadt. Vor allem hier soll der Zwang zum Gegenangriff entstehen.
Stadt und Festung will Falkenhayn in jedem Fall erobern lassen – allein schon aus propagandistischen Gründen. Verdun ist aber nur ein Nebenziel. Ob die Trikolore oder die Reichsflagge über der Kleinstadt weht, kann unmöglich über Sieg oder Niederlage im Weltkrieg entscheiden. Falkenhayn weiss das, ebenso wie Haig oder Joffre. Falkenhayns grösste Sorge: Der Gegner könnte Verdun aufgeben, hinter der Maas eine neue Abwehrfront errichten und der deutsche Hieb als Luftstoss verpuffen.
Tatsächlich dreht sich alles französische Planen nicht darum, wie Verdun zu halten sei, sondern einzig und allein um die Frage, wie Material und Truppen rechtzeitig herauszuschaffen wären. Ohnehin haben Festungen, so glaubt man, ihren militärischen Wert verloren. Das liegt an der schwersten deutschen Artillerie. In Belgien hat sie die Decken aller Wehrbauten mühelos durchschlagen.
Das ist die eine Seite von Falkenhayns Plan. Auf der anderen Seite hat er immer auch den britischen Abschnitt der Westfront im Blick. Falkenhayn hält die Briten für den leichteren Gegner. Die Offensive auf Verdun, glaubt er, werde Haig aus bündnispolitischen Gründen zu einem überhasteten Entlastungsangriff im Artois zwingen. Eben das soll am Ende im Gegenstoss mit Divisionen der deutschen Heeresreserve, sozusagen über die Trümmer der gescheiterten Artois-Offensive hinweg, die Möglichkeit zum Durchbruch eröffnen.
So also lautet Falkenhayns Rechnung: ein Durchbruch über die Bande entweder im Nachstossen bei Verdun oder aber im Gegenstossen im Artois! Falkenhayn weiss: Maschinengewehr und Schnellfeuergeschütz werden einen Bewegungskrieg alten Stils verhindern. Aber «eine Art von Bewegungskrieg mit Feldbefestigungen» (Falkenhayn) hält er für möglich. Vierzehn Tage bis äusserstenfalls fünf Wochen – das ungefähr ist sein Zeithorizont bis zum erhofften Durchbruch.
Das rote Tuch für den «britischen Stier»
Eine Vernichtung der feindlichen Millionenheere hält er im Grunde für unmöglich. Aber Falkenhayn setzt darauf, dass die hohen Verluste und der Schock einer Rückkehr zum Bewegungskrieg den Widerstandswillen in Grossbritannien und Frankreich schlagartig brechen werden.
Eben darum fordert er auch die Wiederaufnahme des warnungslosen U-Boot-Krieges. Verdun und die See sind von Anfang an eng miteinander verbunden. Warnungsloser U-Boot-Krieg bedeutet: Krieg mit Amerika. Falkenhayn aber will den Kampf entscheiden, noch bevor sich das Gewicht der USA in Europa auswirken kann. In seiner Rechnung spielt die U-Boot-Waffe eine ähnliche Rolle wie die Offensive auf Verdun. Sie ist gleichsam das rote Tuch, das den «britischen Stier» noch umso sicherer zum vorschnellen Angriff reizen soll, auf die deutschen U-Boot-Basen in Flandern zum Beispiel.
Unter strenger Geheimhaltung beginnt ein gewaltiger, sieben Wochen dauernder Aufmarsch. Riesige Materialmengen sind heranzuschaffen. Drahtseilbahnen befördern Verpflegung und Munition hinauf auf die Côtes. 20 Eisenbahnbaukompanien, 26 Armierungskompanien und 7000 russische Kriegsgefangene sind im Einsatz, zusammen rund 20 000 Köpfe. Munitionsparks horten Geschosse.
Erstmals ist die Masse deutscher Flugzeuge auf engem Raum versammelt. 168 Flugzeuge, 14 Fesselballone und 4 Zeppeline. Nebel, Regen und Schnee behindern wochenlang die französische Luftaufklärung. Und so ist der bisher grösste Artillerieaufmarsch aller Zeiten Anfang Februar beendet. In Damvillers hängt am Denkmal für Marschall Gérard ein Schild: «Auf nach Verdun.»
Drei Angriffskorps rücken in ihre Stellungen. Stossrichtung ist das Fort Douaumont, «Flaggschiff» der Festung. Die Korps sollen das Ostufer ohne Ablösungen in nur einem Anlauf nehmen.
Mittwoch, 21. Februar 1916, 7 Uhr 12: Der Kronprinz erteilt den Angriffsbefehl. Im Wald von Warphémont erzittert der Boden. Ein 38-Zentimeter-Fernkampfgeschütz, der «Lange Max», verfeuert die erste Granate. 1220 Geschütze folgen. Sogar in Montmédy zittern die Fensterscheiben. 150 Kilometer entfernt, an der Vogesenfront, ist plötzlich andauerndes Grollen zu hören. Auch dort zittert der Boden, ähnlich einem ständigen Trommelwirbel, den Paukenschläge übertönen. Noch 60 Kilometer jenseits des Schlachtfelds sind Bilder an Wohnzimmerwänden in zitternder Bewegung – neun Stunden ohne Pause.
Haig tappt in die Falle
Am vierten Schlachttag dann der Einbruch: Die Angriffskorps können schlagartig weit vorrücken. General Frédéric-Georges Herr, Kommandant der befestigten Region Verdun, und General Fernand de Langle de Cary, Führer der Heeresgruppe Mitte, wollen das Ostufer aufgeben und die Stadt räumen lassen. Doch in der Nacht zum 25. Februar unternimmt General Édouard de Castelnau, Joffres Stabschef, auf eigene Faust und mitten im Schneetreiben eine nächtliche 300-Kilometer-Autofahrt von Chantilly, Sitz des Grand Quartier Général, nach Verdun. Sein Eingreifen trägt entscheidend dazu bei, dass sich der Widerstand auf dem Ostufer noch einmal versteift.
Und auch Haig tappt in Falkenhayns Falle! Sofort erlässt der «Chief» Befehle für einen Entlastungsangriff. Vorerst aber fällt ihm Joffre in den Arm: Der Generalissimus erwartet den Hauptschlag an einer anderen Stelle der französischen Front. Und wie Falkenhayn spart er Reserven für einen Gegenstoss. Allerdings bleibt die Möglichkeit eines überhasteten Angriffs der Briten auf dem Tisch. Der Kriegsrat in London entscheidet, Haig müsse an einem britisch-französischen Entlastungsschlag im Artois teilnehmen, sobald bei Verdun eine Katastrophe eintrete.
Für Joffre ändert ein nächtlicher Auftritt seines Regierungschefs die Lage. Aristide Briand fürchtet um Verdun, fürchtet um seine Regierung, droht Joffre in Chantilly mit Entlassung, er brüllt und tobt – und er setzt sich schliesslich durch. Wider alle militärische Vernunft nimmt Joffre die Schlacht aus politischen Gründen an. Abermals hat Falkenhayn richtig gerechnet.
Am fünften Schlachttag fällt Fort Douaumont im Handstreich. Das entpuppt sich in mehrfacher Hinsicht als Einschnitt: Erstens rückt die Schlacht propagandistisch in den Mittelpunkt. Extrablätter verbreiten die Meldung im Reich. Vielerorts läuten Kirchenglocken. Umso schwerer sind einmal errungene Vorteile wieder aufzugeben.
Zweitens geraten Falkenhayn und Knobelsdorf in einen wahren Siegesrausch. Jetzt komme es darauf an, triumphiert Falkenhayn wie trunken, die französischen Streitkräfte an der Westfront nicht bloss zu schlagen, sondern zu vernichten! Die Eroberung des Ostufers haken beide Generäle innerlich ab. Der schon eingeleitete Angriff auf dem Westufer wird abgesagt. Die Schlüssellinie liegt nur noch rund 3000 Meter entfernt.
Die «Wunderwaffen» scheitern
Während grosse Teile der deutschen Artillerie mit Stellungswechseln beschäftigt sind, trifft die erschöpfte Infanterie auf französische Reserven, die Castelnau in letzter Sekunde nicht auf das West-, sondern auf das Ostufer gelenkt hat. Und so gerät das ununterbrochene Abrollen der Attacke bis zur Schlüssellinie doch noch ins Stocken. Die deutschen Verbände bleiben liegen, ungefähr auf der Höhe links und rechts des Forts Douaumont.
Falkenhayn und Knobelsdorf haben die Wirkung der eigenen Artillerie überschätzt. Ausserdem ist die Zahl schwerer Geschütze immer noch zu knapp bemessen. Darüber hinaus kann die Artillerie viele Kleinanlagen des Zwischenfelds nicht fassen. Und wider Erwarten halten die Decken der Forts sogar schwersten Geschossen stand. Die «Wunderwaffen» des Heeres scheitern an der Güte des Spezialbetons.
Täglich führt ausserdem General Philippe Pétain, neuer Oberbefehlshaber bei Verdun, Reserven heran. Die Überlegenheit der Angreifer schwindet.
Erst jetzt wirkt sich das französische Artilleriefeuer vom Westufer buchstäblich verheerend aus. Denn nun steht die deutsche Infanterie auf dem Ostufer nicht mehr lediglich im Feuer der gegnerischen Artillerie auf den Côtes, sondern auch unter dem Beschuss der französischen Geschütze auf dem Westufer – und damit im Kreuzfeuer. Am Westufer sind die Batterien der Verteidiger hinter dem Marre-Rücken in Stellung gegangen, sichtgeschützt vor deutschen Artilleriebeobachtern am Boden.
Falkenhayns Befehl, jetzt doch auf dem Westufer anzugreifen, kommt zu spät. Pétain erwartet diese Attacke seit Tagen. Er ist vorbereitet. Und so können die Angreifer nur bis zur Linie Toter Mann–Höhe 304 vorstossen.
Das ist nicht weit genug. Die deutschen Geschütze auf dem Westufer können nicht tief genug nach Süden verlegen, um die Artillerie hinter dem Marre-Rücken niederzukämpfen. Und so gelingt es nicht, die eigenen Truppen auf dem Ostufer auch nur halbwegs zu entlasten. Kurzum: ein Patt.
«Weiter vor!» oder «Ganz zurück!»
Anfang April ist Falkenhayns Strategie endgültig gescheitert: kein Erreichen der Schlüssellinie auf dem Ostufer, kein Durchbruch bei Verdun, kein britischer Entlastungsangriff im Artois, und die deutschen Verluste steigen dramatisch. Erst jetzt entgleist der Kampf. Erst jetzt wird er zur Materialschlacht. Gleichwohl hat die Offensive ihren strategischen Sinn verloren.
Falkenhayn verschleiert vor sich selbst und anderen den Blick auf seinen Fehlschlag. Gegenüber Kritikern behauptet er, die französische Armee werde sich bei Verdun «verbluten». Das Mittel zum Zweck wird stillschweigend Hauptzweck.
Aber schon während der Schlacht ahnen viele höhere, frontnahe deutsche Stabsoffiziere, dass die geschätzten französischen Verlustzahlen völlig überhöht sein könnten.
Auch britische und französische Stäbe überschätzen die deutschen Verluste häufig. Solche Übertreibungen sind wohl das Ergebnis einer unbewussten Abwehrhaltung. Stabsoffiziere können angesichts horrender Verluste der eigenen Truppen leichter durchhalten und weitermachen, wenn sie glauben, dass der Gegner noch grössere Opfer erbringt.
Bei Falkenhayn ist der «innere Übergang» zur Materialschlacht vor allem ein psychologischer Prozess. Dabei spielt Knobelsdorf eine Hauptrolle. Immer dann, wenn Falkenhayn schwankt und mit Verdun «Schluss machen» will, stärkt ihm Knobelsdorf den Rücken.
Dabei glaubt auch Knobelsdorf nicht an ein «Verbluten» des Gegners. Ihm geht es nur noch darum, eine offene Niederlage zu verhüten. Einzig auf der Schlüssellinie Thiaumont–Tavannes kann das Anlegen deutscher Dauerstellungen gelingen, trotz dem verheerenden Flankenfeuers vom Westufer her. Dort würde Knobelsdorf wohl auch den «Trostpreis» gewinnen: die Festung Verdun. Ein blosses Stehenbleiben auf dem Ostufer, reine Abwehr also, ist wegen des Flankenfeuers unmöglich. Es gibt nur ein «Weiter vor!» oder ein «Ganz zurück!».
Zerrissene Leiber
Das ist der Unterschied zu allen vorangegangenen Schlachten des Weltkriegs: 1915, in der Champagne oder bei Loos zum Beispiel, waren die Linien des Angreifers nach dessen Erschöpfung in den neuen Stellungen erstarrt. Ein solches Ausbrennen der Schlacht ist bei Verdun unmöglich. Topografische Besonderheiten sind ein Hauptgrund für die ausserordentliche Länge des Kampfes. Knobelsdorf stellt in Aussicht, die Schlüssellinie doch noch – irgendwie – zu erreichen. Und Falkenhayn setzt ihm keinerlei Fristen. Dadurch werden allmählich immer mehr Truppen in den Kampf hineingezogen. Die Heeresreserve schmilzt dahin.
Falkenhayns Gestimmtheit ist fast mit Händen greifbar: Selbstüberredung und Zwang zur Rechtfertigung in scheinbar auswegloser Lage. Bald kämpfen Hunderttausende Soldaten beider Seiten um eine Stadt, deren Besitz alle Heerführer hüben wie drüben bestenfalls für zweitrangig halten.
Anfang Mai explodiert im Fort Douaumont Munition. Arme, Beine und Rümpfe liegen umher, verwirrte Soldaten taumeln herum, dazwischen zertrümmertes Kriegsmaterial. Im Kellergeschoss liegen Tote mit völlig zerschmetterten Gliedern gegeneinandergepresst und hoch aufgetürmt. Der Explosionsdruck hat sie gegen die Wand geschleudert wie durch einen Gewehrlauf. Zerrissene Leiber hängen an der Decke.
Verwesungsgestank lastet über den Côtes. Weht der Wind aus ungünstiger Richtung, schlägt den Soldaten beim Anmarsch schon kilometerweit vor der Kampfzone ein süsslich-beissender Geruch entgegen. Tierkadaver, Leichen und Leichenteile, auf fast jedem Quadratmeter des Schlachtfelds verstreut, werden durch die Einschläge von Granaten immer wieder umgewühlt, zerteilt und verkleinert. Tote überall.
Gerhard von Heymann, Knobelsdorfs «rechte Hand», spricht sich beim Kronprinzen immer häufiger für einen Abbruch der Offensive aus. Er fordert den Übergang zum Verfahren der förmlichen Belagerung. Das schone Kräfte, behauptet Heymann. Sicher ist das freilich nicht. Knobelsdorf jedenfalls will davon nichts hören. Er lässt die Massenangriffe weiterführen. Heymann muss gehen.
Die Uhr läuft ab
Das Ringen wirkt wie der Streit zweier Blinder um die bessere Aussicht. Nur ein Rückzug in die Ausgangsstellung hätte die Verluste schlagartig gemindert. Im Zeitalter der Aufklärung, im Zeitalter der Vernunft hätte ein Friedrich der Grosse oder ein Feldmarschall Daun diesen Ausweg mit Sicherheit beschritten.
Bei Verdun redet kein einziger Stabsoffizier dieser Möglichkeit auch nur das Wort! Streitkräfte sind stets der Spiegel ihrer Gesellschaft. Und so ist Verdun nicht allein die Folge persönlichen Versagens, sondern vor allem Ausdruck des Denkens einer Epoche.
Die Uhr läuft ab. Die Stabschefs aller deutschen Armeen im Westen warnen davor, dass eine gewaltige Offensive des Gegners bevorstehe. Am 1. Juli beginnt ein britisch-französischer Grossangriff an der Somme. Die letzten deutschen Heeresreserven werden schlagartig verbraucht. Nach Rücksprache mit Falkenhayn lässt Knobelsdorf die Verdun-Offensive am 12. Juli «vorläufig» einstellen. Der Kaiser versetzt Knobelsdorf in den Osten. Kurz danach muss auch Falkenhayn gehen. Sein Nachfolger, Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg, bestätigt die Einstellung der Verdun-Offensive. Das aber bessert die Lage der Soldaten auf dem Ostufer um kein Jota. Die Kämpfe gehen weiter.
Drei Punkte durchbrechen schliesslich das taktische Patt zugunsten der französischen Seite: fehlende deutsche Reserven, die Taktik der «Feuerwalze» und die neuen, schweren französischen Eisenbahngeschütze. Sie können die Decken der Forts doch noch durchschlagen.
Und so bleibt den deutschen Truppen nichts anderes übrig, als das Fort Douaumont zu räumen. Im Oktober und im Dezember gewinnt die französische Infanterie hinter ihrer Feuerwalze, entwickelt von General Robert Nivelle, schlagartig beinahe alles Gelände zurück, das die deutschen Verbände sieben Monate lang unter hohen Opfern erobert hatten.
Ein Monster, das die eigenen Kinder verschlingt
Mit rund 700 000 Mann Verlusten – darunter über 300 000 Tote – endet nach 300 Tagen und 300 Nächten die Hölle von Verdun beinahe dort, wo sie begann.
Wie beeinflusste das den Verlauf des Krieges? Auf alliierter Seite ging – erstens – die Hauptlast des Kampfes von Frankreich auf Grossbritannien über. Verdun ebnete – zweitens – dem Gespann Hindenburg-Ludendorff die Bahn. Das mündete in eine Art Militärdiktatur. In Frankreich beschleunigte die Verdun-Krise eine Rückverschiebung der Macht vom militärischen Oberkommando zum Parlament. In Deutschland war es umgekehrt: Hier erstarkten «Ober Ost» und der «Mythos des Retters».
Verdun bereitete – drittens – den Boden für den warnungslosen U-Boot-Krieg. Falkenhayn machte sich vor und während der Schlacht für den U-Boot-Krieg stark. Doch Kaiser und Kanzler wiesen ihn in die Schranken. Sie hatten während der Schlacht noch die Hoffnung, man könne zu Lande eine Entscheidung erzwingen. Nach der Schlacht erledigt sich die Frage «Verdun oder Amerika?» scheinbar von selbst.
Im Januar 1917 erklärte Deutschland den warnungslosen U-Boot-Krieg. Am 6. April folgte die Kriegserklärung der USA. Erst jetzt wurde die Niederlage des Reiches wohl tatsächlich unvermeidlich.
Nationen sind Solidaritäts- und Kriegsmaschinen. Bei Verdun machte das Handeln in den Bahnen der nationalen Idee, die sich zuspitzte in der militärischen, geistigen und wirtschaftlichen Totalmobilmachung Europas, jede Operationsführung unmöglich, die Kosten und Nutzen kühl abzuwägen versuchte. Das war für den Weltkrieg insgesamt typisch.
Alle Spieler blieben wie festgenagelt am Pokertisch sitzen. Jeder spielte sich um Haus und Hof, weil er seine horrenden Verluste ohne den «Endsieg» scheinbar nicht rechtfertigen konnte. Heerführer wie Politiker aller Seiten wirkten gefangen durch eine Art Monstrum, das wie Saturn die eigenen Kinder verschlang – ein Ungeheuer, geboren aus der Verbindung von Propaganda, öffentlicher Meinung, industriellem Volkskrieg und Grundüberzeugungen der Epoche. Vernünftig erschien im Einzelnen das meiste, im Ganzen aber nichts. Strategisch blieb die Schlacht für alle Seiten ohne Sinn.
Nachspiel
Nach dem Krieg hat Falkenhayn behauptet, er habe Frankreichs Armee «weissbluten» lassen wollen. Einen Durchbruch habe er nie beabsichtigt, und die Eroberung Verduns sei unwichtig gewesen. Vielmehr habe er darauf gezielt, für jeden deutschen Soldaten drei französische Soldaten töten oder verwunden zu lassen.
Das hörten nicht nur Veteranen mit Verbitterung. Offiziere und Mannschaften hatten die Festung in dem Glauben bestürmt, es ginge um den Besitz von Verdun und um ein schnelles Ende des Krieges. Jetzt sah die Truppe sich zum «Menschenmaterial» erniedrigt. Das klang nach Verrat. Falkenhayns Selbstrechtfertigung erreichte das Gegenteil: eine Selbstverteufelung mit Folgen auch für die politische Landschaft.
Seine Verdun-Strategie, dem Kaiser angeblich um Weihnachten 1915 herum in einer Denkschrift vorgelegt, gilt manchen Historikern als unmenschlichster Plan des Krieges. In Wahrheit hat es eine «Weihnachtsdenkschrift» nie gegeben. Falkenhayn wollte seine Rolle nachträglich in ein milderes Licht rücken.
«Unternehmen Gericht» war nicht mehr oder weniger unmenschlich als Joffres «Bataille d’usure» oder Haigs «Wearing-out-offensive». Joffre und Haig haben ihre gescheiterten Durchbruchsversuche ebenfalls mit dem angeblichen «Ausbluten» verschleiert.
Aber Frankreich und England haben den Krieg gewonnen. Daher setzten die Lügen von Joffre und Haig weniger Giftstoffe frei als die Lüge Falkenhayns. Denn fast alle Deutschen wähnten sich auch deshalb «im Felde unbesiegt», weil kein einziger Heerführer für sein Scheitern die Verantwortung übernahm.
Die grössten Schlachten der Geschichte
rib. In der Geschichte Europas wurden unzählige Schlachten geschlagen. Sie forderten Millionen von Toten und brachten unermessliches Leid über die Menschen. In den kommenden Wochen publizieren wir an dieser Stelle Essays, die sich mit grossen Schlachten befassen, und fragen, wie sie die Geschichte bestimmten. In der NZZ-Ausgabe vom 24. Mai schreibt der Historiker Jochen Hellbeck über die Schlacht von Stalingrad.