Die Verhandlungen sind beendet. Bei der Personenfreizügigkeit macht die Europäische Union Konzessionen, Bern dafür beim Geld.
Es hat geklappt. Nach neun Monaten haben die Schweiz und die EU ihre Verhandlungen formell für beendet erklärt. Die genauen Texte liegen noch nicht vor, aber der Bundesrat hat am Freitag Faktenblätter zu den wichtigsten Fragen veröffentlicht. Eine Übersicht über die wichtigsten Punkte:
Schutzklausel zur Zuwanderung. Dies war eine der letzten grossen Fragen: Wird die Schweiz die Möglichkeit erhalten, die Personenfreizügigkeit temporär einzuschränken, wenn die Zuwanderung problematische Dimensionen annimmt? Die kurze Antwort: Ja. Die längere Antwort: Die Schweiz könnte die Zuwanderung tatsächlich einschränken, ohne einen politischen Eklat zu provozieren, aber es wäre nicht gratis. Es gibt zwei Varianten:
- Mit Schutzklausel: Im Abkommen über die Freizügigkeit steht schon heute, dass die Schweiz bei «schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen» Abhilfemassnahmen einführen kann. Heute ist dies aber nur möglich, wenn die EU ihren Segen gibt. Neu wird das Verfahren erweitert: Sagt die EU Nein, kann die Schweiz den Fall vor ein Schiedsgericht bringen. Dieses entscheidet, ob die Voraussetzungen erfüllt sind. Wenn es dies bejaht, kann die Schweiz nach eigenem Gutdünken Einschränkungen verfügen. Denkbar wären Zuwanderungsabgaben, ein schärferer Inländervorrang oder Kontingente. Aber: Die EU wäre berechtigt, die Freizügigkeit gegenüber der Schweiz im gleichen Ausmass einzuschränken. Dies beträfe primär Schweizer, die in ein EU-Land ziehen wollen. Die Details wird die Schweiz unilateral regeln: Die Kriterien zur Anrufung der Schutzklausel und die konkreten Schutzmassnahmen will der Bundesrat im Ausländergesetz verankern.
- Ohne Schutzklausel: Wenn die Schweiz vor dem Schiedsgericht verliert, kann sie die Zuwanderung trotzdem einschränken. Dann greift jedoch die Streitbeilegung, die Teil der neuen Verträge ist. In diesem Fall müssen sich die Gegenmassnahmen der EU nicht auf die Personenfreizügigkeit beschränken, was für die Schweiz ungemütlicher wird. Die EU könnte auch andere Abkommen mit Bezug zum EU-Binnenmarkt einschränken, nicht aber Kooperationen wie bei Forschung oder Bildung (siehe unten).
Zentral wird sein, welche Rolle der Europäische Gerichtshof (EuGH) bei der Schutzklausel spielt. Die Schweizer Seite geht davon aus, dass er dazu nichts zu sagen hat, weil kein EU-Recht betroffen ist. Aber offenbar wollte die EU keine explizite Garantie abgeben. Somit muss wohl das Schiedsgericht im ersten Anwendungsfall entscheiden, ob es den EuGH beizieht.
Zuwanderung generell. Nun ist auch klar, welche Teile der Unionsbürgerrichtlinie die Schweiz übernehmen muss. Sicher ist, dass sie ihre Regeln zur Ausschaffung von Kriminellen beibehalten kann und dass keine direkte Einwanderung in die Sozialhilfe möglich wird. Und: Im Gegensatz zur EU gilt die Freizügigkeit in der Schweiz weiterhin nur für Personen, die hier arbeiten oder selbst für sich sorgen können, sowie für ihre Familien. Hingegen muss die Schweiz neu allen EU-Bürgern nach fünf Jahren Erwerbsarbeit den Daueraufenthalt gewähren. Für Bürger der «alten» EU-Staaten gilt dies faktisch schon heute, für die anderen ist es neu. Die fünfjährige Frist verlängert sich, wenn jemand mehr als sechs Monate voll von Sozialhilfe lebt. Arbeitslose ohne Daueraufenthalt müssen das Land verlassen, wenn sie nicht mit der Arbeitsvermittlung kooperieren.
Streitbeilegung/Rechtsübernahme: Die Schweiz verpflichtet sich, bei den fünf bestehenden und neuen Binnenmarktabkommen wie dem Strom, EU-Recht dynamisch zu übernehmen. Die EU soll den Anwendungsbereich nicht einseitig ändern dürfen. Bern entscheidet über jede Rechtsübernahme ohne Automatismus; auch ein Referendum bleibt möglich. Zudem darf die Schweiz bei der Ausarbeitung von neuem EU-Recht mitreden, aber nicht mitentscheiden.
Sind sich die beiden Parteien politisch uneinig, ob die Schweiz eine Rechtsänderung übernehmen muss, kann eine Seite ein Schiedsgericht einschalten. Derselbe Mechanismus gilt, wenn eine Seite der Ansicht ist, dass die andere ein Abkommen nicht korrekt umsetzt. Das Schiedsgericht muss eine Stellungnahme des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) einholen, wenn es in einem Streitfall «relevant und notwendig» ist, EU-Recht auszulegen.
Hält sich eine Partei nicht an den Gerichtsentscheid, kann die andere Seite Ausgleichsmassnahmen ergreifen. Das gilt auch für den Fall, dass das Schweizervolk bei einem Referendum eine Rechtsübernahme ablehnt. Die Massnahmen sind innerhalb des betroffenen Vertrags sowie von anderen Binnenmarktabkommen möglich, nicht aber bei der Forschung oder anderswo. Das Schiedsgericht entscheidet unabhängig vom EuGH, ob die Massnahmen verhältnismässig sind. In den Verhandlungen hat die Schweiz gewisse Einschränkungen herausgeholt. So dürfen Massnahmen erst drei Monate nach ihrer Bekanntgabe angewendet werden. Auf Verlangen einer Partei kann das Schiedsgericht diese aufschiebende Wirkung verlängern, etwa wenn irreparable Schäden drohen. Nicht gelungen ist es der Schweiz, die Massnahmen auf das betroffene Abkommen zu beschränken.
Kohäsionsbeitrag. Die Schweiz soll ab 2030 jährlich 350 Millionen Franken bezahlen. Das Geld geht nicht an die EU-Zentrale, sondern an ausgewählte Mitgliedsländer, mit denen der Bund gemeinsame Projekte realisiert. Die bisherigen Beiträge beliefen sich auf 130 Millionen im Jahr. So viel soll die Schweiz auch in der Übergangsphase bis 2029 bezahlen – jedoch erst nachträglich, falls das Paket angenommen wird. Die EU sieht den Beitrag als Eintrittspreis zu ihrem Binnenmarkt. Die EWR-Staaten zahlen schon heute mehr als die Schweiz.
Lohnschutz. Hier sind viele Probleme gelöst, aber mindestens zwei bleiben bestehen: Firmen aus der EU müssten bei Einsätzen in der Schweiz neu nur noch eine Kaution hinterlegen, wenn sie schon einmal gebüsst wurden. Und ihren Angestellten könnten sie dieselben Spesen zahlen wie im Heimatland – je nachdem also viel weniger als hier üblich. Die Gewerkschaften machen massiv Druck. Sie verlangen inländische Kompensationen in Dossiers wie Gesamtarbeitsverträge oder Kündigungsschutz. Die Arbeitgeber lehnen dies ab. Der Bundesrat will im Frühling Vorschläge präsentieren.
Bahn: Die Schweiz öffnet den internationalen Personenverkehr für den Wettbewerb. Ausländische Bahnen können künftig in Eigenregie grenzüberschreitende Züge in Städte wie Zürich anbieten. Allerdings gelten Bedingungen: So hat der Schweizer Taktfahrplan Vorrang, wenn die Schweizer Behörde Fahrmöglichkeiten zuteilt. Hiesige Lohn- und Arbeitsbedingungen müssen eingehalten werden und ausländische Bahnen können zur Integration ins Schweizer Tarifsystem verpflichtet werden. Die EU hatte in den Verhandlungen offenbar den Vorrang des Taktfahrplans hinterfragt. Die Schweiz scheint diesen abgesichert zu haben. Der internationale Personenverkehr soll aber bei der Zuteilung von verbleibenden Fahrmöglichkeiten Vorrang haben. Kooperationen, etwa zwischen der SBB und der DB, sollen explizit weiterhin möglich bleiben, wie es auch in der EU der Fall ist.
Strom: Die Schweiz wird in den europäischen Strombinnenmarkt eingebunden. Sie nimmt gleichberechtigt an den EU-Plattformen und weiteren Gremien teil, die für die Versorgungssicherheit oder den Handel zuständig sind. Das soll die Netzstabilität erhöhen und ungeplante Stromflüsse vermeiden – und Schweizer Versorgern den Marktzugang sichern. Die Schweiz öffnet ihren Strommarkt auch für Private und Kleinfirmen, wobei diese weiterhin wählen können, ob sie in den freien Markt wechseln beziehungsweise in die regulierte Grundversorgung zurückwechseln oder in dieser bleiben.
Der Bau von Reservekraftwerken (etwa mit Gas), um Strommangellagen vorzubeugen, soll unter Bedingungen auch künftig möglich sein. Dazu soll die Schweiz eine Ausnahme von der dynamischen Rechtsübernahme erhalten. Weiter soll die heutige Praxis beim Wasserzins und bei der Konzessionsvergabe für Wasserkraftwerke beibehalten werden, um die Alpen-Opec zu beruhigen. So soll sich die Wasserkraft weiterhin in öffentlicher Hand befinden können. Bern verpflichtet sich nicht zur Übernahme des EU-Umweltrechts, garantiert im Strombereich aber ein gleichwertiges Niveau zur EU.
Forschung, Gesundheit: Mit einem neuen Abkommen kann die Schweiz die Teilnahme an EU-Förderprogrammen absichern. Bisher nutzt Brüssel primär das Forschungsprogramm, um die Schweiz unter Druck zu setzen, indem sie die hiesigen Hochschulen benachteiligt. Das soll neu nicht mehr gehen. Dies gilt auch für den Gesundheitsschutz, wo Bern mit einem weiteren neuen Vertrag Kooperationen mit EU-Behörden absichern will, die etwa in der Corona-Pandemie wichtig waren.
Im Gegenzug zu den Konzessionen der EU bei der Schutzklausel verpflichtet sich die Schweiz, von Studierenden aus EU-Staaten nicht höhere Gebühren zu verlangen. Das soll nur für Hochschulen gelten, die überwiegend öffentlich finanziert sind.
Landwirtschaft. Das Agrarabkommen wird erweitert, es geht um Fragen von Lebensmittelsicherheit und Handel. Innenpolitisch sind primär die Ausnahmen wichtig: Die Agrarpolitik inklusive Subventionen, Zölle und Kontingente ist nicht betroffen. Wichtige Teile der Landwirtschaft sind auch von den Ausgleichsmassnahmen im Rahmen der Streitbeilegung geschützt.