Eine Rüstungsfirma in Thun hat eine neue, durchschlagende Munitionsart für Sturmgewehre entwickelt. Sie hofft, auch die Nato beliefern zu können. Doch das restriktive Kriegsmaterialgesetz schreckt potenzielle Kunden im Ausland ab.
Geduckt bewegen sich die ukrainischen Soldaten in ihren Schützengräben umher. In Youtube-Videos ist zu sehen, dass sie alle Schutzwesten tragen, die bis zu zehn Kilogramm wiegen. Obschon ihre Bewegungsfreiheit dadurch eingeschränkt wird, ist dieser Schutz essenziell. Je höher der Schutzgrad einer Weste, desto höher die Überlebenschancen eines Soldaten, wenn ihn die Kugeln des Gegners treffen. Die Nachricht über einen Korruptionsfall von Anfang Jahr hat deshalb weltweit für Aufsehen gesorgt. Der ehemalige stellvertretende Minister hatte mit zwei weiteren Beamten mangelhafte Westen für die eigenen Streitkräfte eingekauft.
Doch Schutzwesten waren schon vor dem Ausbruch des Krieges ein Thema. Terrororganisationen rüsten ihre Mitglieder vermehrt nicht nur mit vollautomatischen Waffen, sondern auch mit Schutzmontur aus. Beispielsweise bei dem Anschlag auf das Satiremagazin «Charlie Hebdo» in Paris 2015, bei dem siebzehn Menschen ums Leben kamen. Die Attentäter trugen ebenfalls schusssichere Westen, um möglichst lange Widerstand gegen Polizei und Militär leisten zu können. Im selben Jahr haben sich die Bestellungen für kugelsichere Westen in Frankreich verzehnfacht.
Schweizer Gewehrmunition: treffsicher, aber nicht durchschlagskräftig
Die Standardgewehrmunition der Nato trägt die Abkürzung SS 109 und wurde 1980 eingeführt. Sie besitzt einen Stahlkern, der Stahlhelme, aber eben auch leichte Panzerungen und Schutzwesten durchdringen kann.
Die Schweizer Armee hingegen ging einen Sonderweg. Sie führte 1990 die Gewehrpatrone 90 (GP 90) ein. Damals trug noch kaum jemand schusssichere Westen. Selbst die Schweizer beschafften diese erst mit dem Rüstungsprogramm 1996, sie sollten «gegen Splitter und Geschosse von leichten Infanteriewaffen» schützen.
Die GP-90-Munition hat einen Bleikern. Dadurch sei sie vor allem auf Treffsicherheit ausgelegt, sagt Hannes Hauri, CEO der Firma Swiss P Defence AG in Thun (ehemals Ruag Ammotec), die die Munition herstellt: «Die GP-90-Munition kann moderne Schutzwesten nicht durchschlagen. Auch auf kürzeste Distanzen nicht.»
Schon seit Jahren ist Swiss P an der Entwicklung einer neuen Munition, die deutlich leistungsstärker sein soll. Für die Nato, aber auch für die Schweizer Armee, sagt Hauri: «Wir haben eine optimierte Patrone entwickelt, die den Anforderungen des modernen Gefechtsfeldes sowie potenziellen terroristischen Bedrohungen gerecht wird bei einem vergleichbaren Preis wie heute.» Bis zu 40 Prozent mehr Leistung soll die neue Munition haben im Vergleich zur bereits durchschlagskräftigen SS 109 der Nato. Momentan laufe die Werkserprobung für die wirkungsgesteigerte GP 90. Ende 2025 sollen die Patronen bereit sein für die Serienproduktion.
Swiss P optimiert die Munition für die Ordonnanzwaffe der Schweizer Armee und die Nato nicht ohne Eigennutzen. Die Firma hofft, dass sich die Innovation auch in den Verkaufszahlen niederschlagen wird. Dies umso mehr, als der Beretta-Konzern, zu dem Swiss P gehört, im Oktober Alarm schlug. Die Schliessung der Fabrik in Thun drohe, erklärte Beretta, weil die Schweizer Armee weniger Munition einkaufe. Daraufhin reagierte der Rüstungschef Urs Loher. Das Verteidigungsdepartement kaufe nach Gesprächen mit Swiss P wieder «in ähnlichem Umfang wie in den vergangenen Jahren», sagte Loher im Interview mit der NZZ.
Schweizer Armee: GP-90-Munition «weiterhin ausreichend»
Auf die Frage, ob die Armee eine leistungsfähigere Munition einführen möchte, schreibt ein Sprecher: Die GP-90-Munition sei eine «Kampfmunition», welche «die hohen Anforderungen» erfülle, «die an sie gestellt werden». Als Standardmunition sei sie «weiterhin ausreichend». Hannes Hauri will die Antworten der Armee nicht kommentieren. Er ist milizmässig Generalstabsoffizier bei den Bodentruppen, in einer mechanisierten Brigade. Für ihn ist grundsätzlich klar: Als Soldat will er «Wirkung im Ziel».
Ob die Nato interessiert ist an der neuen Patrone, wird sich nach der Markteinführung zeigen. Derzeit sind jedoch verschiedene Partnerländer vorsichtig mit Bestellungen von Kriegsmaterial aus der Schweiz. Deutschland will nicht einmal mehr Tarnnetze made in Switzerland kaufen. Grund ist das restriktive Kriegsmaterialgesetz des neutralen Landes. Dieses verbietet die Wiederausfuhr strikt, wenn ein Staat sich in einem Konflikt befindet. So lehnte beispielsweise der Bundesrat 2024 ein Gesuch aus Deutschland ab, Munition für den Fliegerabwehrpanzer Gepard aus Schweizer Produktion an die Ukraine weiterzugeben. Der Entscheid sorgte international für Empörung und hatte Folgen für die hiesige Rüstungsindustrie.
Länder wie die Niederlande, Spanien oder Dänemark wollen künftig auf Schweizer Rüstungsgüter verzichten. Sie fürchten, dass sie Güter made in Switzerland im Falle eines Angriffs auf ein Nato-Land nicht weitergeben können.
Swiss P: Exportregeln müssten angepasst werden
Weltweit rüsten Staaten auf. Europa und die Schweizer Armee wollen nach 35 Jahren Friedensdividende wieder verteidigungsfähig werden. Davon profitieren Rüstungsfirmen weltweit, doch wegen der strengen Regularien kaum in der Schweiz. Und der Schweizer Rüstungsmarkt ist zu klein, als dass Firmen wie Swiss P überleben könnten. Zwar braucht selbstverständlich auch die Schweizer Armee Munition für ihre Soldaten. In einem Interview mit der NZZ erklärte der Chef der Logistikbasis, Rolf André Siegenthaler, dass es momentan genügend Munition gebe für die Ausbildung, es gebe «aber keine Kriegsbevorratung». Geplant sei diese aber gemäss Zielbild der Armee für die Zukunft.
Doch nur Bestellungen der Schweizer Armee werden nicht reichen, damit Swiss P in der Schweiz bleibt. Innovationen hin oder her. Den Standort in Thun aufrechtzuerhalten, sei «sehr herausfordernd», sagt der CEO Hannes Hauri. Die Exportrestriktionen müssten «zwingend und schnell» angepasst werden. Im Parlament sind in den letzten drei Jahren jedoch verschiedene Vorstösse, das Kriegsmaterialgesetz zu lockern, gescheitert.