In einem Literaturbetrieb, der sich heute vor allem durch die Lautstärke seiner Selbstvermarktung bemerkbar macht, war Gertrud Leutenegger eine der leisesten, dafür umso exakteren Stimmen.
Wenn sich der deutschsprachige Literaturbetrieb heute vor allem durch die Lautstärke der Selbstvermarktung auszeichnet, dann war sie darin eine der leisesten, dafür aber umso echteren Stimmen. 1975 hat Gertrud Leutenegger mit dem Roman «Vorabend» debütiert, einem psychologischen Glanzstück, in dem sich politische Aktualität und etwas zeitlos Eigensinniges verbanden.
Dass die Welt in Bewegung war, konnte man am Stoff dieser Geschichte erkennen. In Zürich bereitet man sich in einem späten Nachhall der 68er-Bewegung auf Demonstrationen vor. Die Erzählerin des Romans geht am Vorabend der Ereignisse die geplanten Routen durch die Stadt ab.
Dass mit einer gesteigerten Aufmerksamkeit für den Lauf der Welt auch die eigene Geschichte in den Fokus geraten kann, ist eine Einsicht, die hier zum ersten Mal an Bedeutung gewinnt. Gertrud Leutenegger hat sie in ihrer Literatur immer wieder neu befragt. In kaleidoskophaften Miniaturen, Erzählungen oder in grossen Romanen.
Sie bot dem Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld die Stirn
Von Anfang an war Leutenegger, 1948 in Schwyz geboren, auf der Suche nach einem Weltgefüge, in dem auch das Subjektive und die eigene Biografie Bestand haben. Ihr Werk wollte von einer Nichtigkeit des Ichs nichts wissen. Das allein war schon eine halbe Provokation in den politisierten siebziger Jahren, als manchen Schriftstellern vorgeworfen wurde, sie sässen im Elfenbeinturm.
In einem frühen Brief an den Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld beharrt die Jungautorin auf ihrer Sicht der Dinge und legt schon als 26-Jährige eine Poetik dar, die über viele Jahrzehnte gültig geblieben ist. «Vorabend» klingt dann fast wie ein Begriff für einen Bewusstseinszustand: «Dieses pochende Innehalten zwischen den Ereignissen, dieser Zustand auf der Schwelle der Entscheidung. Er deutet auch seine Gefahren an: das Umkommen zwischen den Zeiten. Aber auch eine Verheissung: als könnte alles erst beginnen.»
Gertrud Leutenegger hat so geschrieben. In einer grossen Wachheit und Sensibilität für Brüche und Umbrüche. Sie hat leuchtende biblische und mythologische Stoffe genommen, um darin die Muster des Privaten, manchmal auch Autobiografischen einzuweben.
Angedeutete Liebe und wahre Natur
Auf «Vorabend» folgte «Ninive», der bildgewaltige Roman einer jungen Liebe zwischen zwei Ungleichen. In ihm kommt ein Motiv vor, das das gesamte Werk begleiten wird: die Natur als unhintergehbare Wahrheit. In einer Art Nachtwache sitzen die beiden jungen Menschen vor den Überresten eines riesigen Walfischs, der per Eisenbahn durch die Lande gezogen wird, um schliesslich zerlegt zu werden.
Es sind diese gewaltigen Bilder einer aus der Ordnung geratenden Natur, die von Leuteneggers Romanen bleiben. Im Buch «Matutin» von 2008 sind es die Vögel, die als Kronzeugen der Schöpfung gegen ihren ärgsten Feind, den Menschen, antreten.
Sechs Jahre später entsteht «Panischer Frühling», dessen Handlung unter plötzlich verändertem Himmel stattfindet. Der isländische Vulkan Eyjafjallajökull ist ausgebrochen und hat den Flugbetrieb lahmgelegt. Das Blau über London ist nicht mehr von Kondensstreifen durchzogen und steht satt über einer Begegnung, die ebenfalls typisch für Gertrud Leuteneggers soziale Welten ist. Auf einer Themse-Brücke begegnet die Ich-Erzählerin einem Zeitungsverkäufer und freundet sich mit dem Mann an, der ein seltsames Feuermal im Gesicht trägt. Es ist Entstellung und Auszeichnung zugleich. Man kommt ins Gespräch, und allein die Tatsache, dass der Mann von sich erzählt, scheint wie der Anfang einer zarten Liebesgeschichte.
Die Liebe, die Zuneigung, das ist bei dieser Schweizer Autorin oft etwas nur Angedeutetes, eine feinstoffliche Annäherung, wie es sie auch im Roman «Acheron» aus dem Jahr 1994 gibt. In einem japanischen Zug sinkt der Kopf einer schlafenden Frau auf die Schulter einer anderen. Die aus Europa kommende Ich-Erzählerin lässt sich ein auf ein Spiel der Körper und Kulturen. Die Figur Tenko ist eine fliegende Händlerin und eine flüchtige Luftgestalt. Der Roman erzählt vom Suchen und vom Finden und von der Fremde.
Unterwegs zu sein, um ganz zu sich zu kommen, das ist auch eines der grossen Themen bei Gertrud Leutenegger. Zwei geografische und psychologische Fluchtpunkte blitzen immer wieder auf. Die Kindheitserinnerungen und bisher unbekanntes Terrain.
Dass auch die Heimat zur Fremde werden kann, zeigen die Bücher, die im Tessin spielen, einem Lebensort der Schriftstellerin. Die dämonische, bisweilen auch zärtlich beschriebene Figur des Orion, eines sterneguckenden, den Boden unter den Füssen verloren habenden Architekten, taucht immer wieder auf. Im Roman «Pomona», in «Späte Gäste». Literatur ist Kurzschrift des Lebens, aber dahinter stecken oft lange Geschichten.
Eine unvergleichliche Genauigkeit
Gertrud Leutenegger, die für ihr Werk den Schillerpreis der Zürcher Kantonalbank, den Solothurner Literaturpreis und den Kunstpreis der Stadt Zürich bekommen hat, war keine Autorin der Eindeutigkeit. Ihre Literatur war voller Kippbilder. «Ein Gleiten, ein Verlagern ist alles», heisst es einmal bei ihr. Stilistisch hat sie diesen Effekt virtuos beherrscht. An ihren atmosphärischen Bildern, die immer auch Skizzen von Seelenzuständen waren, konnte man lange hängenbleiben und eine Kunst bewundern, die heute fast schon altmodisch genau wirkt.
Liest man den Eintrag Siegfried Unselds in seinen Reisenotizen, wo er erzählt, wie er die junge Schweizer Autorin zum ersten Mal in Zürich trifft, könnte man meinen, sie wäre in ihrer Genauigkeit schon damals wie aus der Zeit gefallen gewesen. «Sie wirkt fast wie ein Suhrkamp-Märchenprodukt», schreibt Unseld.
Für Gertrud Leutenegger hat sich die Wirklichkeit nie zu einem geschlossenen System geformt. Ihre Romane und ihre kurze Prosa waren offen für die Wirklichkeiten des Lesers. Das Fragmentarische spielt hier eine grosse Rolle, das nicht Ausgepinselte. «Ich habe keine Stoffe; ich habe nur meine Strandgüter» heisst es im Band «Partita», der Notate der Autorin versammelt. An anderer Stelle: «Die falsche Totalität jedes Bildnisses zertrümmern in die zarte, unerbittliche Zwiesprache der Fragmente.» Das Leichte wurde bei Gertrud Leutenegger zum Schweren und das Schwere zum Leichten.
Am Freitag ist Gertrud Leutenegger 76-jährig in ihrer Heimat Schwyz verstorben. Das meldet der Suhrkamp-Verlag.