Für Tech-Aktien mit Bezug zur künstlichen Intelligenz (KI) gab es lange kein Halten. Die Börsenhausse wird aber hauptsächlich von Nvidia und den Hoffnungen gegenüber der KI getragen. Die Absturzgefahr wächst.
Es ist offiziell. Die Begeisterung für die Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz (KI) beherrscht auch die Börsen: Am Dienstag überholte Nvidia Microsoft als wertvollstes Unternehmen der Welt. Der amerikanische Chip-Konzern ist auf einen Börsenwert von über 3200 Milliarden Dollar gestiegen – das ist gemäss einer Auswertung der Deutschen Bank mehr als die Kapitalisierung aller kotierten Unternehmen in Deutschland, Frankreich oder Grossbritannien.
Auch das Tempo des Wertzuwachses von Nvidia ist einmalig. Ende April war der Tech-Konzern «erst» 2000 Milliarden Dollar schwer. In nur sechs Wochen legte er 1000 Milliarden drauf. Der Entwickler von Hochleistungs-Chips ist das Paradeunternehmen des KI-Hypes. Der Nvidia-Chef Jensen Huang umschreibt es so: Nvidia liefert die technologischen Bausteine für «KI-Fabriken». Diese verschlingen Daten und produzieren künstliche Intelligenz. Nvidia ist erst 31 Jahre alt. So schnell hat es kein Unternehmen zu globaler Dominanz gebracht.
Börse steht auf schwachem Fundament
Diese Dominanz wird zu einem Problem. Dadurch, dass die Nvidia-Aktien sich in diesem Jahr mehr als verdoppelt und bereits 2023 mehr als verdreifacht haben, nehmen sie ein sehr grosses Gewicht in Aktienindizes wie dem S&P 500, dem Tech-Barometer Nasdaq oder vermeintlich breit aufgestellten Indizes wie dem MSCI World ein. Marktbeobachter haben errechnet, dass die Avancen des S&P 500 seit Anfang Jahr zu 40 Prozent auf den Nvidia-Höhenflug zurückzuführen sind, für den Rest waren Amazon, Meta und Alphabet zuständig.
Das bedeutet, dass die gute Performance der amerikanischen Börsen seit Anfang Jahr einer sehr kleinen Gruppe von Aktien geschuldet ist. Wird das hohe Gewicht dieser Tech-Titel mit Aktien aus anderen Branchen gleich gewichtet, dann hätte der S&P 500 seit Anfang Jahr nicht 15 Prozent vorwärtsgemacht, sondern nur 4 Prozent. Somit schnitt er schlechter ab als der DAX oder der SMI, die in dem Zeitraum 8 Prozent gewannen.
Wenn der Gesamtmarkt von nur wenigen Titeln getragen wird, sprechen Börsianer von geringer Marktbreite – diese war zuletzt im Jahr 2009 so gering, im Nachgang der Finanzkrise. «Die Erholung am amerikanischen Aktienmarkt ist weniger gesund, als es den Anschein hat», stellt Ron Temple, leitender Marktstratege beim Vermögensverwalter Lazard, fest. Dennoch sei es zu früh, um ein Ende der Hausse auszurufen.
Grund für die Zuversicht ist die aussergewöhnliche Gewinnkraft von Nvidia und den Tech-Giganten Microsoft, Apple, Alphabet oder Meta. Diese amerikanischen Konzerne sind die grössten Nutzniesser dieser historischen Transformation. Die grössten Anbieter von Rechenkapazitäten für KI wie Microsoft (Azure), Amazon Web Services oder Google sind auch die grössten Kunden von Nvidia. «KI ist eine Revolution, und sie geht viel schneller vonstatten als jede Transformation zuvor», sagt Temple.
So konnte Nvidia im vergangenen Quartal allein einen Gewinn von fast 15 Milliarden Dollar machen, siebenmal mehr als in der entsprechenden Vorjahresperiode. Es sei schwer zu sehen, was diesen Schwung mindern könnte, sagt Temple. Auch die Dimensionen sind erstaunlich: Die sieben grössten amerikanischen Aktien weisen mehr Gewinn aus als alle an der japanischen Börse kotierten Unternehmen zusammen.
Eine solche Konzentration birgt gleich zwei Probleme: Zum einen sind die Avancen stark vom Geschäftsgang eines einzelnen Unternehmens abhängig – stockt es bei Nvidia, kann die positive Börsenstimmung schnell kippen. Zum anderen erreichen Investoren, die sich über ETF den gesamten Markt über einen Index kaufen, keine Diversifikation mehr. Microsoft, Nvidia, Apple und Alphabet machen ein Viertel des S&P 500 aus und haben auch ein hohes Gewicht im populären MSCI World.
Realitäts-Check für KI im Gang
Somit sind viele Indizes direkt oder indirekt abhängig von Nvidia und folglich dringend auf eine Fortsetzung des KI-Booms angewiesen. Denn das Makroumfeld zeigt ein gemischtes Bild, und Zinssenkungen lassen ausserhalb der Schweiz auf sich warten.
Noch lebt der KI-Hype, Beobachter überschlagen sich mit Superlativen. John Chambers, der zu Zeiten der Dotcom-Blase Chef des damals wertvollsten Unternehmens Cisco war, sagte im «Wall Street Journal», die Marktchancen von KI seien so gross wie jene des Internets und des Cloud-Computings zusammengenommen. Auch die Analysten der UBS sehen die Lancierung von Chat-GPT Ende November 2022 als Wendepunkt für einen Innovationszyklus, der «der grösste und tiefgreifendste in der Geschichte der Menschheit sein könnte».
Doch die Zeit der uneingeschränkten Begeisterung dürfte vorüber sein, auch bei KI kommt der Realitäts-Check. Dass dieser bereits im Gang ist, zeigt die Tatsache, dass KI-Gewinner-Aktien aus der zweiten Reihe nicht mehr mit Nvidia mithalten können. Titel wie Palantir, Salesforce oder Snowflake haben seit Anfang Jahr verloren – Investoren beginnen genauer hinzuschauen, ob KI kommerziell einen Unterschied macht. Die Verheissungen von KI müssen sich finanziell auszahlen.
«Wenn die Unternehmen merken, dass KI ihre Effizienz und Produktivität verbessert, werden sie weiter investieren», sagt Temple. Das würde die Kassen der Tech-Giganten weiter füllen, und der Anstieg der amerikanischen Börsen könnte sich fortsetzen. Sollten die Unternehmen jedoch merken, dass sie nicht messbar von KI profitieren, werden sie ihre Ausgaben herunterfahren. Das würde den Schwung stoppen, glaubt der Börsenexperte.
Noch sei es aber zu früh, um festzustellen, ob die Produktivitätsgewinne tatsächlich realisiert würden. Die anekdotischen Hinweise seien vielversprechend, doch er erwartet, dass erst 2025 erste Fortschritte sichtbar werden. Das bedeutet, dass bis dahin KI-Phantasien genügen könnten, um die Anleger bei der Stange zu halten.
Was sinkende Zinsen bedeuten
Neben der KI-Begeisterung gibt es auch die ökonomische Realität. So gehen Marktauguren mittlerweile von einer Verlangsamung des Wachstums der US-Wirtschaft aus, auch wenn keine Rezession erwartet wird. Die Zinsen dürften länger auf einem hohen Niveau verharren. Doch die Zinswende ist eine Frage der Zeit.
Das hohe Zinsniveau kommt derzeit vor allem einigen grossen Konzernen zugute, die grosse Bargeldbestände halten. Diese Unternehmen werden bei sinkenden Zinsen weniger an diesen verdienen, gibt Temple zu bedenken. Derweil dürften kleinere, stark verschuldete Unternehmen, die von variabel verzinsten Krediten abhängig sind, wahrscheinlich profitieren.
Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass das Rally bei Nvidia und den grossen amerikanischen Tech-Werten zum Erliegen kommt. Ihre Gewinne dürften weiter zunehmen, einfach nicht mehr in so hohem Tempo. Das heisst, auch bei sinkenden Zinsen dürfte es den amerikanischen Mega-Caps verhältnismässig gut laufen.