Kiew hat Putins Truppen überrumpelt. Längerfristig jedoch bietet der ukrainische Blitzangriff keine rechte Perspektive. Der Schwerpunkt des Krieges liegt ganz anderswo – im Donbass. Dort sollten auch die Ukrainer ihre Kräfte bündeln.
Die «Schlacht von Kursk» besitzt einen festen Platz in den Geschichtsbüchern; das mehrwöchige Gemetzel zwischen der deutschen Wehrmacht und der Roten Armee im Sommer 1943 mit Verlusten von insgesamt über einer Million Mann gilt als grösste Landschlacht der Kriegsgeschichte. Im Vergleich zu dieser monumentalen Auseinandersetzung wirken die jetzigen Gefechte in der russischen Provinz Kursk geradezu bedeutungslos. Doch die dortige Offensive der ukrainischen Armee sorgt für Schlagzeilen und ruft nach einer Bewertung. Was ist von diesem überraschenden Vorstoss auf russisches Staatsgebiet zu halten?
In nur drei Tagen haben die Ukrainer mehr als 400 Quadratkilometer Land unter ihre Kontrolle gebracht, was die russischen Aggressoren bei ihren Operationen dieses Jahres nie in diesem Tempo geschafft haben. Doch davon sollte man sich nicht blenden lassen – die mit diesem Angriff verbundenen Risiken sind nicht zu unterschätzen.
Ungewöhnliche Blitzoffensive
Rein taktisch zeigen die ukrainischen Truppen beeindruckende Leistungen. Es gelang ihnen, unerkannt mechanisierte Einheiten mit mehr als tausend Mann zusammenzuziehen und die Russen zu überrumpeln. Sie haben zwei gegnerische Verteidigungslinien durchbrochen und damit die militärischen Schwächen der russischen Armee offengelegt. Anders als die früheren grenzüberschreitenden ukrainischen Überfälle handelt es sich diesmal nicht um eine kleine Nadelstich-Aktion von proukrainischen russischen Milizen, sondern um eine sorgfältig vorbereitete Operation der regulären Armee. Beteiligt sind zahlreiche Panzerfahrzeuge, Minenräumgeräte und Schwärme von Kamikazedrohnen.
Aus Berichten russischer Militärbeobachter zu schliessen, haben die Ukrainer im Vorfeld intensive Aufklärung betrieben und die Frequenzen der russischen Grenzeinheiten herausgefunden. So konnten sie die Kommunikation des Gegners zumindest anfänglich mittels elektronischer Kriegführung blockieren. Mit dem Einmarsch im Eisenbahnort Sudscha vermochten sie handstreichartig eine wichtige Zugslinie zu unterbrechen und damit die gegnerische Logistik zu erschweren.
Aber die anfänglichen Erfolge werden sich nicht automatisch wiederholen. Der Überraschungseffekt verpufft, und die auf dem falschen Fuss erwischten russischen Truppen können sich nun neu organisieren. Die im Frühling gegründete und in diese Grenzregion verlegte Nordgruppe der russischen Streitkräfte ist zwar ein Grossverband von zweifelhafter Kampfkraft, bestehend aus vielen schlecht ausgebildeten und unzureichend ausgerüsteten Einheiten. Aber seine zahlenmässige Übermacht dürfte den Ukrainern bald zu schaffen machen. Zudem gibt es eine Kehrseite des blitzartigen Vorstosses: Die Versorgungslinien werden länger, und für ein weiteres Vorrücken sind Verstärkungen nötig. Der Einsatz im Kiewer Vabanquespiel würde damit noch höher.
Was also bezweckt die ukrainische Führung? Mehrere Ziele sind denkbar – realistische und weniger realistische. Kiew hat ein Interesse daran, von der alarmierenden Situation an der Donbass-Front abzulenken und der Bevölkerung neues Vertrauen in die eigene Schlagkraft einzuflössen. Es könnte auch um militärisch begrenzte Ziele gehen, darunter die Zerstörung von Infrastruktur auf der Gegenseite und die Überwältigung von russischen Soldaten, die dann gegen gefangene Ukrainer ausgetauscht werden können. Bereits gibt es Videos, die die Gefangennahme von Russen dokumentieren:
High quality video of the group of Russian POWs in Kursk region was published. https://t.co/glF9wquFlQ pic.twitter.com/zF1Bde8LqW
— Special Kherson Cat 🐈🇺🇦 (@bayraktar_1love) August 8, 2024
Schlecht begründet hingegen ist die Hoffnung, dass Moskau nun gezwungen sein könnte, grössere Truppenteile vom Donbass nach Kursk zu verlegen. Noch verfügt der Kreml über genügend andere Reserven. Wenig überzeugend ist auch das Argument, Militäraktionen wie diese könnten Russlands Bevölkerung demoralisieren und gegen das Putin-Regime aufbringen. Für den Kreml ist es dank der totalen Kontrolle über die Medien ein Leichtes, seine Untertanen zu indoktrinieren. Die Kursker Offensive liefert ihm sogar Munition für die Falschdarstellung, wonach Russland in diesem Krieg nicht Täter, sondern Opfer ist.
Der Donbass ist wichtiger
Insgesamt hat die Ukraine mit dem Angriff wohl mehr zu verlieren als zu gewinnen. Dass der Ukraine-Krieg ein Abnützungskrieg ist, gilt inzwischen als Binsenwahrheit, aber deren Bedeutung wird oft verkannt. In einem Abnützungskrieg zählt nicht, wer gerade welche Gebietsgewinne erzielt – entscheidend ist, wie sich dadurch die relative Kampfkraft der beiden Seiten verändert. Das Hauptproblem der Ukrainer ist dabei der Mangel an Militärpersonal. Bei einem Angriff wie diesem ist das Risiko grosser Verluste viel höher als in der Defensive. Zudem stellt sich die Frage, ob die in Kursk eingesetzten Truppen an der wackelnden Donbass-Front nicht mehr Nutzen erbrächten.
Die Kursker Grenzregion hat für die Ukrainer keinerlei strategische Bedeutung; es geht auch nicht darum, sich dort längerfristig festzusetzen. Unterschätzt wird in Kiew möglicherweise die internationale Perspektive. Mit Bildern von amerikanischen Bradleys und deutschen Marder-Schützenpanzern, die auf russisches Staatsgebiet rollen, löst man in Washington oder Berlin keinen Beifall aus. Noch ist unabsehbar, wie die Offensive ausgehen wird. Falls die Ukrainer den richtigen Moment für den Rückzug nicht verpassen, könnten sie einen taktischen Punktesieg erringen. Aber ein Krieg lässt sich auf diese Weise nicht gewinnen; strategisch stellt das Kursker Überraschungsmanöver eine Sackgasse dar.