Sehr lange lebten in Grönland nur arktische Urvölker. Bis im Jahr 980 aus Island Erik der Rote eintraf und eine Kolonie entstand, die vor allem einen Rohstoff abbaute: das Elfenbein der Walross-Stosszähne. Aus der Isolation kam die Insel bis vor kurzem nicht heraus.
Geografisch gesehen ist Grönland ein Teil von Amerika. Dänemarks absolute Monarchie war eine Seemacht mit atlantischen und karibischen Besitzungen. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts verwandelte sich das Land in den demokratischen Klein- und Nationalstaat, den wir heute kennen. So gesehen ist Grönland ein Restposten des alten Dänemark.
Seit undenklicher Zeit lebten in Grönland arktische Jägervölker. Dann, ums Jahr 980, traf Erik der Rote ein, erkundete das Terrain, taufte das Land «Grönland» («grünes Land» – keine realistische Beschreibung, sondern eine PR-Bezeichnung, um Auswanderer anzulocken) und segelte zurück nach Island. 70 Wagemutige samt Vieh und Habe wagten sich auf 25 Schiffen in das Neuland.
Menschen begegneten ihnen nicht. Schon damals lockten die Rohstoffe. Eriks Joker war das Walross. Aus dem Elfenbein der Stosszähne kreierten Europas Christen Reliquienschreine. Als das Walross in Island ausgerottet war, baute Erik in Grönland eine neue Ära des Elfenbeinhandels auf. 2018 fand ein Team der Stanford University heraus, dass 95 Prozent des in Europa um die Jahrtausendwende verarbeiteten Elfenbeins von Walrossen aus Grönland stammte.
Seltsame Sitten
Im 13. Jahrhundert begaben sich die Siedler unter den Schutz des norwegischen Königs. Als Norwegen später im Mittelalter an Dänemark fiel, war Grönland die Beigabe. Im 15. Jahrhundert verschwand die Kolonie. Damit endete auch die Verbindung nach Skandinavien, bis 1721 der norwegische Pfarrer Hans Egede mit dem Segen des Dänenkönigs in Grönland eine Missionsstation samt Handelskompanie eröffnete. Es begann die dänische Kolonisation.
In seinem Buch «Des alten Grönlands neue Perlustration» (1741) ärgerte sich Egede über die Sitten und Gebräuche: «Männer und Frauen versammeln sich. Nachdem sie ausgiebig mit Speis und Trank bewirtet worden sind, beginnen sie zu singen und zu tanzen. Nach und nach verschwindet der eine oder andere mit der Frau eines Dritten hinter dem Vorhang.» Selbst «edelste Gemüter überlassen ihre Frauen ohne Groll andern Männern».
Kim Leine, der fünfzehn Jahre als Krankenpfleger in Grönland wirkte, ist der Grönland-Spezialist der gegenwärtigen dänischen Literatur. Im Roman «Die Propheten am Ewigkeitsfjord» (2012) lässt er den fiktiven dänischen Missionar Morten Falck Ende des 18. Jahrhunderts nach Grönland reisen. Leine schildert die Kolonisation als sinnloses Projekt. Unter den Grönländern brodelt der Zorn. Der Missionar begegnet Habakuk und Maria Magdalena, den charismatischen Anführern einer schwärmerischen Erweckungsbewegung, die sich den Dänen widersetzte. Die Bewegung verschwand nach wenigen Jahren, hinterliess aber bei den Grönländern einen nachhaltigen Eindruck.
Um 1800 war die Bevölkerung Grönlands getauft. Unbefriedigend blieb der Handel. 1776 wurde «Den Kongelige Grønlandske Handel» gegründet. Das Handelsmonopol der Gesellschaft bestand bis 1950. Während der Napoleonischen Kriege brach die Versorgung ein, Epidemien brachen aus.
Forcierte Modernisierung
Im Frieden von Kiel, der 1814 den Norden neu ordnete, sicherte sich Dänemark die Hoheitsrechte in Grönland. Bis zum Zweiten Weltkrieg befand sich die Insel in einer Art Isolation. Die fünfziger und sechziger Jahre brachten dann die forcierte Modernisierung. Der traditionelle Robbenfang wurde durch die industrielle Fischerei verdrängt. Die Entwurzelung begünstigte den Alkoholismus. Die grönländische Suizidrate stieg auf das Achtfache der norwegischen. Davon handelt der 2023 mit dem Literaturpreis des Nordischen Rates ausgezeichnete Roman «Das Tal der Blumen» der 31-jährigen Grönländerin Niviaq Korneliussen.
2009 wurde ein neues Kapitel aufgeschlagen, als die dänische Königin in grönländischer Tracht in Nuuk dem Parlamentspräsidenten das neue Selbstverwaltungsgesetz überreichte und Prinzgemahl Henrik in grönländischer Sprache eigene Gedichte über das arktische Eiland deklamierte. Jetzt hatte Grönland die Kontrolle über seine Bodenschätze: Kupfer, Lithium, Uran, seltene Erden, Rubine und anderes mehr. Über die Dänische Kryolith-Gesellschaft schrieb Peter Høeg seinen Grönland-Roman «Fräulein Smillas Gespür für Schnee» (1992), einen Bestseller, der derzeit als TV-Serie verfilmt wird.
Mit dem Selbstverwaltungsstatut wurde Grönländisch zur alleinigen Amtssprache. Für die meisten Grönländer sei Dänisch die Sprache der Kolonialherren, während Grönländisch Freiheit bedeute, schreibt der Politologe Ulrik Pram Gad. Grönländer sähen sich im Umgang mit dem «Mutterland» immer wieder mit der peinlichen Tatsache konfrontiert, sich auf Dänisch nicht adäquat ausdrücken zu können. Paradoxerweise diene ihnen aber der dänische Nationalstaat als Vorbild, weshalb sie sich Grönlands Zukunft als die eines einsprachigen Landes ausmalten.
Zwölf Prozent der 56 000 Insulaner gelten als dänischsprachig. Für die dänische Journalistin Marianne Krogh Andersen kollidiert die Aufwertung der grönländischen Sprache mit den wirtschaftlichen Ambitionen der Insel, wie sie in ihrem Buch «Grönland – mächtig und ohnmächtig» schreibt. Mit den Rohstoffkonzernen ziehe Englisch als Arbeitssprache ein, ehe sich Grönländisch als Nationalsprache verfestigen könne. Und sie fragt, ob sich Grönland von Europa abwenden werde, um als 51. Bundesstaat den USA beizutreten.
Doch die meisten Grönländer ersehnen eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit – nur will sich kein Politiker auf den Zeitpunkt festlegen. Denn Grönland erhält aus der dänischen Staatskasse nach wie vor einen jährlichen Zuschuss, der rund die Hälfte der öffentlichen Ausgaben deckt. Er erwarte ein überwältigendes Ja, erklärte dieser Tage der Arktis-Professor der Universität Tromsø Rasmus Bertelsen im norwegischen Fernsehen.
Anklage wegen Hochverrats
Und die USA? Im Zweiten Weltkrieg wurde Dänemark von Deutschland besetzt. Henrik Kauffmann, Dänemarks Botschafter in den USA, brach mit Kopenhagen und schloss im April 1941 mit den USA ein Abkommen, das den Amerikanern die Verteidigung Grönlands anvertraute und ihnen das Recht einräumte, auf der Insel Militärbasen einzurichten. Die Regierung entliess Kauffmann und klagte ihn des Hochverrats an.
Christina Rosendahl erzählt diese Geschichte im Spielfilm «Unser Mann in Washington» (2020). Nach dem Krieg boten die USA 100 Millionen Dollar für Grönland. Dänemark lehnte ab. Die beiden Staaten schlossen jedoch ein Verteidigungsabkommen, die USA betreiben eine grosse Militärbasis in Thule.
Obwohl die Fischindustrie die Robbenjagd längst verdrängt hat, ist in der dänischen Grönland-Literatur oft und gerne von Robbenfängern die Rede. Jørn Riel, dem wir herrliche Schnurren aus dem Robbenfängermilieu verdanken, gab in der NZZ vor bald zwanzig Jahren einen bösen Traum von grönländischen Weinreben zum Besten. Kim Leine schildert im Roman «Die Untreue der Grönländer» (2011) Hunde, die am Morgen steifgefroren und mit Schwänzen wie Stahlkabel vor dem Haus liegen. Robbenfänger ertrinken, Robbenfänger erschlagen sich gegenseitig im Rausch, Robbenfänger führen eine Blutfehde.
«Die Leute nehmen alles wörtlich, verstehen keine Ironie», knurrt ein ansässiger Däne. Zwischen dem Ernst der Grönländer und der notorischen Ironie der Dänen klafft tatsächlich ein Abgrund.