Die Erholung an den Märkten könnte täuschen. Gewichtige Gründe sprechen dafür, dass die Kapitulation an der Börse erst bevorsteht.
Die extreme Nervosität an den Aktienmärkten hat sich gelegt. Die Anleger fassen wieder Mut und kehren zaghaft als Käufer an die Börse zurück. Der Swiss-Market-Index notiert immerhin auf dem Niveau von Anfang Jahr, der deutsche DAX sogar höher.
Damit stellt sich die Frage: War der von US-Präsident Donald Trump ausgelöste Absturz an der Börse ein Sturm im Wasserglas? Ist der Spuk dank der vorläufigen Aussetzung der «reziproken» Zölle bereits wieder vorbei? Oder sind die Turbulenzen vielmehr ein Vorbote für den «perfekten Sturm», der sich am Horizont zusammenbraut?
Die folgenden fünf Warnsignale weisen darauf hin, dass die Börse ihren Tiefpunkt womöglich noch nicht erreicht hat. Das bedeutet für die Anleger, dass sie sich auf weitere nervenaufreibende Wochen und Monate einstellen müssen.
1. Die alte Weltordnung ist unwiderruflich vorbei
Die Globalisierung hat in den letzten Jahrzehnten zu enormen Umwälzungen geführt. Vor allem die wirtschaftliche Öffnung Chinas hat zu einer eigentlichen Hyperglobalisierung geführt – und damit auch zu drastischen Ungleichgewichten an den Kapital- und Arbeitsmärkten. Zu den bis heute unverdauten Konsequenzen zählen die Deindustrialisierung in vielen westlichen Ländern sowie die von Trump angeprangerten Handelsbilanzdefizite der USA.
Ökonomen wie Dani Rodrik oder Michael Pettis warnen schon lange vor dem zerstörerischen Potenzial dieser Ungleichgewichte. Doch namentlich China hat sich standhaft geweigert, das einseitige investitionsgetriebene Wirtschaftsmodell anzupassen. Das Land hat eine viel zu tiefe Konsumquote von unter 40 Prozent, während die USA fast 70 Prozent erreichen. Die chinesische Politik der aggressiven Exportförderung schadet seinen Handelspartnern.
Ein weiterer Aspekt dieser unkontrollierten Globalisierung sind die gefährlich wachsenden Staatsschulden. Die USA haben im letzten Jahr ein immenses Haushaltsdefizit von 7 Prozent eingefahren – obwohl die Wirtschaft kräftig wuchs und praktisch Vollbeschäftigung herrschte. Die ausländischen Staaten, welche den Amerikanern ihre Waren verkaufen konnten, habe diese Schulden willig finanziert und besitzen inzwischen amerikanische Staatsanleihen im Wert von 8800 Milliarden Dollar.
Die bisherige globale Finanzordnung ist bereits vor dem Handelskrieg an ihre Grenzen gestossen. Ein neues Gleichgewicht zwischen den Wirtschaftsblöcken braucht es nicht nur bei den Waren-, sondern ebenso bei den Kapitalströmen. Diese Phase des Übergangs wird auch für die Anleger anspruchsvoll.
2. Die Dominanz des Dollars erodiert
Ein wichtiger Seismograf für die bevorstehende Neuordnung ist der Dollar. In einer «gewöhnlichen» Krise müsste der Dollar als Leitwährung des globalen Finanzsystems an Wert zulegen. Denn die Investoren suchen Schutz in einem «sicheren Hafen». Das Irritierende am Trump-Schock war nun allerdings, dass das Gegenteil eingetreten ist: Die amerikanische Währung ist dramatisch eingebrochen. Zum Franken und zum Euro beträgt der Verlust rund 10 Prozent seit Anfang Jahr.
Dieser Absturz widerspiegelt den markanten Verlust des Vertrauens in die USA. Getreu dem Motto «our dollar, your problem» sollte dies vor allem die ausländischen Investoren beunruhigen. Denn angesichts der riesigen Dominanz der amerikanischen Börse – im Welt-Aktienindex MSCI World kommt sie auf ein Gewicht von zwei Drittel – trifft eine Dollar-Schwäche die allermeisten Aktiendepots. Kommt hinzu, dass die amerikanische Währung ohnehin als teuer gilt. Manche Ökonomen beziffern die Überbewertung auf bis zu 20 Prozent. Eine weitere Talfahrt erscheint daher wahrscheinlich. Kostet ein Dollar derzeit 82 Rappen, so hält die Bank EFG ein Absinken auf 75 Rappen für möglich.
3. Die Wirtschaft steht auf wackligem Fundament
Als Donald Trump die Aussetzung der «reziproken» Zölle für 90 Tage verkündete, reagierte die Börse euphorisch. Ausgeblendet wurde dabei, dass ein erheblicher Teil der Zölle unverändert in Kraft bleibt. Neben dem pauschalen Zolltarif von 10 Prozent für fast alle Importe in die USA betrifft dies vor allem den Handel zwischen den Schwergewichten USA und China, welcher massiv schrumpfen dürfte. Der Zeitpunkt ist auch deshalb gefährlich, weil die Konjunktur in den USA ohnehin auf einen Abschwung zusteuert.
Die Bank JP Morgan beziffert das Rezessionsrisiko inzwischen auf 60 Prozent. Hinzu kommt das Risiko, dass die Zölle sowie der schwache Dollar die Inflation anheizen. Dies könnte zu einem Szenario der Stagflation führen – was die erhofften Zinssenkungen der US-Notenbank torpedieren würde. Nicht zu unterschätzen ist die Eigendynamik, die ein solcher «doom loop» entfalten kann. Zu erwähnen sind etwa die Margin-Calls oder Zwangsverkäufe von überschuldeten Aktionären, die eine Abwärtsspirale verstärken.
4. Die Gewinnerwartungen wirken überhöht
Der letzte Börsenboom hat dazu geführt, dass die Bewertungen der Aktien auf einen langjährigen Höchststand geklettert sind – namentlich in den USA sowie bei den Technologiekonzernen. Die Möglichkeit einer Rezession ist in den Börsenkursen allerdings noch nicht eingepreist. So haben die Analysten ihre Schätzungen für das Gewinnwachstum im US-Index S&P 500 seit Anfang Jahr lediglich von 14 auf knapp 10 Prozent gesenkt.
Kommt es aber zur Krise, ist dieser Ausblick viel zu optimistisch. Denn im bisherigen Durchschnitt führte eine Rezession beim S&P 500 zu einem Gewinnrückgang von 11 Prozent. Sollte gleichzeitig das Kurs-Gewinn-Verhältnis auf einen langjährigen Mittelwert sinken, so könnte der Index auf etwa 4000 Punkte zurückgehen – was im Vergleich zum heutigen Niveau einem potenziellen Rückgang von gut 20 Prozent entspricht.
5. Das Vertrauen der Anleger ist verflogen
Am 9. April, dem Tag der angekündigten Zollpause, schoss der Technologieindex Nasdaq um 12 Prozent nach oben. Das wirkt wie ein kraftvolles Zeichen der Zuversicht. Die Gefahr ist aber gross, dass es sich dabei vielmehr um ein sogenanntes «Sucker Rally» handelte, was sich mit «Trottel-Rally» übersetzen liesse. Ein solch kräftiges Aufbäumen ist verbreitet in Bärenmärkten – und führt die Anleger oft in die Irre. Ein Beispiel: Den grössten bisherigen Tagesgewinn erreichte der Nasdaq am 3. Januar 2001 ebenfalls während einer Baisse-Phase, als er plötzlich um 18,8 Prozent zulegte. Danach allerdings fiel der Index noch um weitere 68 Prozent, bis er im Oktober 2002 den Boden erreichte.
Dass die Finanzmärkte nach dem Chaos von Anfang April einfach zur Tagesordnung zurückkehren, erscheint unwahrscheinlich. Zu viel Geschirr wurde inzwischen zerschlagen. André Kostolany, der Altmeister der Börse, unterteilte die Anleger in zwei Kategorien: die Hartgesottenen und die Zittrigen. Er beobachtete, dass Korrekturen jeweils mit einer Phase der Übertreibung endeten.
In einem solchen finalen Ausverkauf werfen die zittrigen Hände frustriert ihre Papiere auf den Markt. Eine Stimmung der Panik dominiert das Geschehen. Die Hartgesottenen dagegen haben sich auf diesen Moment vorbereitet – und nutzen die Gelegenheit für günstige Zukäufe. Ob es auch diesmal zu einer solchen Kapitulation kommt, weiss niemand. Doch für das Szenario gewappnet zu sein, lohnt sich allemal.